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Lange, Joachim: Des Apostolischen Lichts und Rechts. Bd. 2. Halle, 1729.

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Richtige und erbauliche Erklärung Cap. 1. v. 5-7.
[Spaltenumbruch] und will er damit so viel sageu, daß da GOtt
es auf seiner Seite an dem Zufluß seiner Gna-
de gegen uns nicht fehlen lässet, der Mensch
auch dagegen sich derselben recht bedienen solle:
gleichwie die Schiff-Leute eines guten Win-
des, die Acker-Leute eines guten Wetters und
der rechten Zeit sich wohl zu bedienen pflegen
und an sich nichts ermangeln lassen.

6. Was der Apostel bey der Darreichung
zum Grunde setzet, das ist der Glaube, dessen er
gleich anfangs v. 1. gedacht hatte. Denn die-
ser ist nicht allein das Mittel, dadurch man die zur
Ausübung der Tugenden nöthige Gnaden-Kräf-
te ergreifet, sondern er giebet auch eben daher den
Einfluß zu aller Ubung und machet, da sie im Na-
men Christi geschiehet, daß sie GOtt bey ihrer
Unvollkommenheit um der Gerechtigkeit Christi
willen, woran er sich hält, angenehm ist. Da-
her man sich in allem seinem Thun zuvorderst zum
Glauben zu erwecken hat.

7. Durch die im Glauben darzureichende
Tugend, da dieses Wort alhier auf keine beson-
dere Pflicht gehet, verstehet man alhier füglich
diejenige Kraft des Glaubens, nach welcher er
sich in allen Liebes-Pflichten thätig erweiset, und
welche zu allen Tugenden nöthig ist. Denn hät-
te der Glaube diese nicht, so würde aus demselben
kein eintziges gutes Werck erfolgen können; son-
dern er würde ein solcher Glaube seyn, der, wie
Jacobus saget c. 2, 17. todt sey an ihm sel-
ber.
Es ist demnach die Tugend alhier bey dem
Glauben, was die Gesundheit mit guten Leibes-
Kräften ist bey dem natürlichen Leben.

8. Die Darreichung selbst, welche auf al-
le folgende Worte gehet, wird mit einem solchen
Worte ausgedrucket, welches auf eine solche
Verbindung vieler Stücke, oder Theile gehet,
darinnen eines das andere erreichet und sich an
dem andern ohne Bruch, oder Lücken veste hält:
wie die thun, welche mit zusammen geschlossenen
Händen einen Creis machen, und wie man an
den an einander gefügeten Gliedern des Leibes
siehet: nach Eph. 4, 16. Col. 2, 19. Man erken-
net daraus die Beschaffenheit aller Pflichten, wie
daß eine ohne die andere nicht seyn könne, und
daß, wo es an einer und der andern fehlet, auch
die übrigen nicht rechter Art seyn und bleiben kön-
nen.

9. Jst nun die wahre glaubens Kraft da,
also daß man sie wie die Kräfte eines gesunden
Leibes wohl anwenden kan und will; so muß,
wenn sie sich recht hervorthun soll, vor allen Din-
gen gnosis, die Erkenntniß von allem dem, was
und wie es ausgeübet, was gethan, und was un-
terlassen werden soll, da seyn: gleichwie ein star-
cker und arbeitsamer Leib mit gesunden Augen
versehen seyn muß. Was Petrus alhier nennet
gnosin, das nennet Paulus 2 Tim. 1, 7. den
Geist tou sophronismou, der weisen Mäßigung,
oder des rechten geistlichen Verstandes, nach wel-
chem der Geist der Kraft, dessen er dabey geden-
cket, sich erweiset. Denn ein wahrer Christ han-
delt nicht blindlings, sondern er hat die Augen
gleichsam hinten und vorne, wie er Offenb. 4, 6.
vorgestellet wird.

[Spaltenumbruch]

10. Wenn man nun vermöge einer richti-
gen Erkenntniß einsiehet, was zu thun und zu las-
sen ist, und solchergestalt die rechte Vorschrift
nach dem Gesetze vor sich hat, so kömmt es an auf
[fremdsprachliches Material]gkrateian, die Enthaltung, daß man von allem,
was man böses erkennet, abstehe, aber auch da-
gegen das gute überhaupt ausübe: sintemal ei-
nes ohne das andere nicht seyn kan. Es ist dem-
nach egkrateia mehr als die Keuschheit, weil
sie auf eine Vermeidung alles übrigen im göttli-
chen Lichte der Erkenntniß erkannten bösen und
sündlichen Wesens gehet. Dazu denn, nach
der Eigenschaft dieses Worts kratos, robur, eine
rechte Kraft des Geistes und des Glaubens ge-
höret.

11. Weil es nun aber bey der Enthaltung
vom bösen und Ausübung des guten, nicht auf
eine und die andere Handlung ankömmt, sondern
dazu eine beständige Fortsetzung erfordert wird,
so soll dabey ferner dargereichet werden die Be-
harrung; wie dieses Wort alhier, wie an vielen
andern Orten, muß gegeben werden. Denn die
Beharrung ist mehr, als die Geduld: sinte-
mal da die Geduld nur eigentlich auf die Ausdau-
rung im Leiden gehet, so ist die Beharrung auch
auf die Ausübung alles guten gerichtet. Wie
denn daher Röm. 2, 7. diese Worte upomone ergou
agathou, die Beharrung des guten Wercks zu-
sammen stehen: wiewol sie nicht füglich übersetzet
sind. Siehe Luc. 8, 15. da das karpophorei~n en
upomone eigentlich gegeben werden solte: Frucht
bringen, in der Beharrung, oder beharr-
lich.
Diese Beharrung ist eine rechte Haupt-
Eigenschaft des Christenthums: sintemal, wo
es daran fehlet, aller vorhin angewendter Fleiß
vergeblich ist. Darum es Ezech. 33, 12. heißt:
Wenn ein Gerechter böses thut, so wirds
ihm nicht helfen, daß er fromm gewesen
ist.
Und unser Heyland spricht: Wer behar-
ret bis ans Ende der wird selig.
Matth.
24, 13.

12. Jst nun aber die Beharrung im Guten
da, so entstehet daher erst die wahre Gottselig-
keit,
was derselben völligern und vestern Stand
betrift. Sie hebet sich zwar sofort in und mit
dem Glauben an: aber sie erweiset sich alsdenn
erst mit ihren Proben ächt und recht, wenn sie sich
in der Beharrung befindet: als da es nicht mehr
bey guten Bewegungen und beym guten Vorsatze
bleibet, sondern die Ausübung des guten zur be-
ständigen und gesegneten Gewohnheit wird. Es
hält denn die Gottseligkeit eigentlich die Pflichten
gegen GOtt nach der ersten Tafel des Gesetzes
also in sich, daß sie sich auch in denen nach der an-
dern Tafel gegen den Nächsten thätig erweiset.

13. Und da die Gottseligkeit eigentlich
auf GOtt selbst gehet, und mit der Liebe gegen
den Nächsten verknüpfet ist, unter diesen aber die
Kinder GOttes, wie GOtte selbst, also auch ei-
nem gottseligen Menschen die allernächsten sind,
so äussert sie sich auch so gleich in der Bruder-
Liebe
gegen die, mit welchen man im gleichen
Bande des Glaubens und der Liebe GOttes, und
also in der geistlichen Gemeinschaft des Sinnes
stehet. Darum gilt alhier, was Johannes 1 Ep.

c. 4,
Richtige und erbauliche Erklaͤrung Cap. 1. v. 5-7.
[Spaltenumbruch] und will er damit ſo viel ſageu, daß da GOtt
es auf ſeiner Seite an dem Zufluß ſeiner Gna-
de gegen uns nicht fehlen laͤſſet, der Menſch
auch dagegen ſich derſelben recht bedienen ſolle:
gleichwie die Schiff-Leute eines guten Win-
des, die Acker-Leute eines guten Wetters und
der rechten Zeit ſich wohl zu bedienen pflegen
und an ſich nichts ermangeln laſſen.

6. Was der Apoſtel bey der Darreichung
zum Grunde ſetzet, das iſt der Glaube, deſſen er
gleich anfangs v. 1. gedacht hatte. Denn die-
ſer iſt nicht allein das Mittel, dadurch man die zur
Ausuͤbung der Tugenden noͤthige Gnaden-Kraͤf-
te ergreifet, ſondern er giebet auch eben daher den
Einfluß zu aller Ubung und machet, da ſie im Na-
men Chriſti geſchiehet, daß ſie GOtt bey ihrer
Unvollkommenheit um der Gerechtigkeit Chriſti
willen, woran er ſich haͤlt, angenehm iſt. Da-
her man ſich in allem ſeinem Thun zuvorderſt zum
Glauben zu erwecken hat.

7. Durch die im Glauben darzureichende
Tugend, da dieſes Wort alhier auf keine beſon-
dere Pflicht gehet, verſtehet man alhier fuͤglich
diejenige Kraft des Glaubens, nach welcher er
ſich in allen Liebes-Pflichten thaͤtig erweiſet, und
welche zu allen Tugenden noͤthig iſt. Denn haͤt-
te der Glaube dieſe nicht, ſo wuͤrde aus demſelben
kein eintziges gutes Werck erfolgen koͤnnen; ſon-
dern er wuͤrde ein ſolcher Glaube ſeyn, der, wie
Jacobus ſaget c. 2, 17. todt ſey an ihm ſel-
ber.
Es iſt demnach die Tugend alhier bey dem
Glauben, was die Geſundheit mit guten Leibes-
Kraͤften iſt bey dem natuͤrlichen Leben.

8. Die Darreichung ſelbſt, welche auf al-
le folgende Worte gehet, wird mit einem ſolchen
Worte ausgedrucket, welches auf eine ſolche
Verbindung vieler Stuͤcke, oder Theile gehet,
darinnen eines das andere erreichet und ſich an
dem andern ohne Bruch, oder Luͤcken veſte haͤlt:
wie die thun, welche mit zuſammen geſchloſſenen
Haͤnden einen Creis machen, und wie man an
den an einander gefuͤgeten Gliedern des Leibes
ſiehet: nach Eph. 4, 16. Col. 2, 19. Man erken-
net daraus die Beſchaffenheit aller Pflichten, wie
daß eine ohne die andere nicht ſeyn koͤnne, und
daß, wo es an einer und der andern fehlet, auch
die uͤbrigen nicht rechter Art ſeyn und bleiben koͤn-
nen.

9. Jſt nun die wahre glaubens Kraft da,
alſo daß man ſie wie die Kraͤfte eines geſunden
Leibes wohl anwenden kan und will; ſo muß,
wenn ſie ſich recht hervorthun ſoll, vor allen Din-
gen γνῶσις, die Erkenntniß von allem dem, was
und wie es ausgeuͤbet, was gethan, und was un-
terlaſſen werden ſoll, da ſeyn: gleichwie ein ſtar-
cker und arbeitſamer Leib mit geſunden Augen
verſehen ſeyn muß. Was Petrus alhier nennet
γνῶσιν, das nennet Paulus 2 Tim. 1, 7. den
Geiſt τοῦ σωφρονισμοῦ, der weiſen Maͤßigung,
oder des rechten geiſtlichen Verſtandes, nach wel-
chem der Geiſt der Kraft, deſſen er dabey geden-
cket, ſich erweiſet. Denn ein wahrer Chriſt han-
delt nicht blindlings, ſondern er hat die Augen
gleichſam hinten und vorne, wie er Offenb. 4, 6.
vorgeſtellet wird.

[Spaltenumbruch]

10. Wenn man nun vermoͤge einer richti-
gen Erkenntniß einſiehet, was zu thun und zu laſ-
ſen iſt, und ſolchergeſtalt die rechte Vorſchrift
nach dem Geſetze vor ſich hat, ſo koͤmmt es an auf
[fremdsprachliches Material]γκράτειαν, die Enthaltung, daß man von allem,
was man boͤſes erkennet, abſtehe, aber auch da-
gegen das gute uͤberhaupt ausuͤbe: ſintemal ei-
nes ohne das andere nicht ſeyn kan. Es iſt dem-
nach ἐγκράτεια mehr als die Keuſchheit, weil
ſie auf eine Vermeidung alles uͤbrigen im goͤttli-
chen Lichte der Erkenntniß erkannten boͤſen und
ſuͤndlichen Weſens gehet. Dazu denn, nach
der Eigenſchaft dieſes Worts κρὰτος, robur, eine
rechte Kraft des Geiſtes und des Glaubens ge-
hoͤret.

11. Weil es nun aber bey der Enthaltung
vom boͤſen und Ausuͤbung des guten, nicht auf
eine und die andere Handlung ankoͤmmt, ſondern
dazu eine beſtaͤndige Fortſetzung erfordert wird,
ſo ſoll dabey ferner dargereichet werden die Be-
harrung; wie dieſes Wort alhier, wie an vielen
andern Orten, muß gegeben werden. Denn die
Beharrung iſt mehr, als die Geduld: ſinte-
mal da die Geduld nur eigentlich auf die Ausdau-
rung im Leiden gehet, ſo iſt die Beharrung auch
auf die Ausuͤbung alles guten gerichtet. Wie
denn daher Roͤm. 2, 7. dieſe Worte ὑπομονὴ ἔργου
ἀγαϑοῦ, die Beharrung des guten Wercks zu-
ſammen ſtehen: wiewol ſie nicht fuͤglich uͤberſetzet
ſind. Siehe Luc. 8, 15. da das καρποφορει῀ν ἐν
ὑπομονῇ eigentlich gegeben werden ſolte: Frucht
bringen, in der Beharrung, oder beharr-
lich.
Dieſe Beharrung iſt eine rechte Haupt-
Eigenſchaft des Chriſtenthums: ſintemal, wo
es daran fehlet, aller vorhin angewendter Fleiß
vergeblich iſt. Darum es Ezech. 33, 12. heißt:
Wenn ein Gerechter boͤſes thut, ſo wirds
ihm nicht helfen, daß er fromm geweſen
iſt.
Und unſer Heyland ſpricht: Wer behar-
ret bis ans Ende der wird ſelig.
Matth.
24, 13.

12. Jſt nun aber die Beharrung im Guten
da, ſo entſtehet daher erſt die wahre Gottſelig-
keit,
was derſelben voͤlligern und veſtern Stand
betrift. Sie hebet ſich zwar ſofort in und mit
dem Glauben an: aber ſie erweiſet ſich alsdenn
erſt mit ihren Proben aͤcht und recht, wenn ſie ſich
in der Beharrung befindet: als da es nicht mehr
bey guten Bewegungen und beym guten Vorſatze
bleibet, ſondern die Ausuͤbung des guten zur be-
ſtaͤndigen und geſegneten Gewohnheit wird. Es
haͤlt denn die Gottſeligkeit eigentlich die Pflichten
gegen GOtt nach der erſten Tafel des Geſetzes
alſo in ſich, daß ſie ſich auch in denen nach der an-
dern Tafel gegen den Naͤchſten thaͤtig erweiſet.

13. Und da die Gottſeligkeit eigentlich
auf GOtt ſelbſt gehet, und mit der Liebe gegen
den Naͤchſten verknuͤpfet iſt, unter dieſen aber die
Kinder GOttes, wie GOtte ſelbſt, alſo auch ei-
nem gottſeligen Menſchen die allernaͤchſten ſind,
ſo aͤuſſert ſie ſich auch ſo gleich in der Bruder-
Liebe
gegen die, mit welchen man im gleichen
Bande des Glaubens und der Liebe GOttes, und
alſo in der geiſtlichen Gemeinſchaft des Sinnes
ſtehet. Darum gilt alhier, was Johannes 1 Ep.

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[592/0594] Richtige und erbauliche Erklaͤrung Cap. 1. v. 5-7. und will er damit ſo viel ſageu, daß da GOtt es auf ſeiner Seite an dem Zufluß ſeiner Gna- de gegen uns nicht fehlen laͤſſet, der Menſch auch dagegen ſich derſelben recht bedienen ſolle: gleichwie die Schiff-Leute eines guten Win- des, die Acker-Leute eines guten Wetters und der rechten Zeit ſich wohl zu bedienen pflegen und an ſich nichts ermangeln laſſen. 6. Was der Apoſtel bey der Darreichung zum Grunde ſetzet, das iſt der Glaube, deſſen er gleich anfangs v. 1. gedacht hatte. Denn die- ſer iſt nicht allein das Mittel, dadurch man die zur Ausuͤbung der Tugenden noͤthige Gnaden-Kraͤf- te ergreifet, ſondern er giebet auch eben daher den Einfluß zu aller Ubung und machet, da ſie im Na- men Chriſti geſchiehet, daß ſie GOtt bey ihrer Unvollkommenheit um der Gerechtigkeit Chriſti willen, woran er ſich haͤlt, angenehm iſt. Da- her man ſich in allem ſeinem Thun zuvorderſt zum Glauben zu erwecken hat. 7. Durch die im Glauben darzureichende Tugend, da dieſes Wort alhier auf keine beſon- dere Pflicht gehet, verſtehet man alhier fuͤglich diejenige Kraft des Glaubens, nach welcher er ſich in allen Liebes-Pflichten thaͤtig erweiſet, und welche zu allen Tugenden noͤthig iſt. Denn haͤt- te der Glaube dieſe nicht, ſo wuͤrde aus demſelben kein eintziges gutes Werck erfolgen koͤnnen; ſon- dern er wuͤrde ein ſolcher Glaube ſeyn, der, wie Jacobus ſaget c. 2, 17. todt ſey an ihm ſel- ber. Es iſt demnach die Tugend alhier bey dem Glauben, was die Geſundheit mit guten Leibes- Kraͤften iſt bey dem natuͤrlichen Leben. 8. Die Darreichung ſelbſt, welche auf al- le folgende Worte gehet, wird mit einem ſolchen Worte ausgedrucket, welches auf eine ſolche Verbindung vieler Stuͤcke, oder Theile gehet, darinnen eines das andere erreichet und ſich an dem andern ohne Bruch, oder Luͤcken veſte haͤlt: wie die thun, welche mit zuſammen geſchloſſenen Haͤnden einen Creis machen, und wie man an den an einander gefuͤgeten Gliedern des Leibes ſiehet: nach Eph. 4, 16. Col. 2, 19. Man erken- net daraus die Beſchaffenheit aller Pflichten, wie daß eine ohne die andere nicht ſeyn koͤnne, und daß, wo es an einer und der andern fehlet, auch die uͤbrigen nicht rechter Art ſeyn und bleiben koͤn- nen. 9. Jſt nun die wahre glaubens Kraft da, alſo daß man ſie wie die Kraͤfte eines geſunden Leibes wohl anwenden kan und will; ſo muß, wenn ſie ſich recht hervorthun ſoll, vor allen Din- gen γνῶσις, die Erkenntniß von allem dem, was und wie es ausgeuͤbet, was gethan, und was un- terlaſſen werden ſoll, da ſeyn: gleichwie ein ſtar- cker und arbeitſamer Leib mit geſunden Augen verſehen ſeyn muß. Was Petrus alhier nennet γνῶσιν, das nennet Paulus 2 Tim. 1, 7. den Geiſt τοῦ σωφρονισμοῦ, der weiſen Maͤßigung, oder des rechten geiſtlichen Verſtandes, nach wel- chem der Geiſt der Kraft, deſſen er dabey geden- cket, ſich erweiſet. Denn ein wahrer Chriſt han- delt nicht blindlings, ſondern er hat die Augen gleichſam hinten und vorne, wie er Offenb. 4, 6. vorgeſtellet wird. 10. Wenn man nun vermoͤge einer richti- gen Erkenntniß einſiehet, was zu thun und zu laſ- ſen iſt, und ſolchergeſtalt die rechte Vorſchrift nach dem Geſetze vor ſich hat, ſo koͤmmt es an auf _ γκράτειαν, die Enthaltung, daß man von allem, was man boͤſes erkennet, abſtehe, aber auch da- gegen das gute uͤberhaupt ausuͤbe: ſintemal ei- nes ohne das andere nicht ſeyn kan. Es iſt dem- nach ἐγκράτεια mehr als die Keuſchheit, weil ſie auf eine Vermeidung alles uͤbrigen im goͤttli- chen Lichte der Erkenntniß erkannten boͤſen und ſuͤndlichen Weſens gehet. Dazu denn, nach der Eigenſchaft dieſes Worts κρὰτος, robur, eine rechte Kraft des Geiſtes und des Glaubens ge- hoͤret. 11. Weil es nun aber bey der Enthaltung vom boͤſen und Ausuͤbung des guten, nicht auf eine und die andere Handlung ankoͤmmt, ſondern dazu eine beſtaͤndige Fortſetzung erfordert wird, ſo ſoll dabey ferner dargereichet werden die Be- harrung; wie dieſes Wort alhier, wie an vielen andern Orten, muß gegeben werden. Denn die Beharrung iſt mehr, als die Geduld: ſinte- mal da die Geduld nur eigentlich auf die Ausdau- rung im Leiden gehet, ſo iſt die Beharrung auch auf die Ausuͤbung alles guten gerichtet. Wie denn daher Roͤm. 2, 7. dieſe Worte ὑπομονὴ ἔργου ἀγαϑοῦ, die Beharrung des guten Wercks zu- ſammen ſtehen: wiewol ſie nicht fuͤglich uͤberſetzet ſind. Siehe Luc. 8, 15. da das καρποφορει῀ν ἐν ὑπομονῇ eigentlich gegeben werden ſolte: Frucht bringen, in der Beharrung, oder beharr- lich. Dieſe Beharrung iſt eine rechte Haupt- Eigenſchaft des Chriſtenthums: ſintemal, wo es daran fehlet, aller vorhin angewendter Fleiß vergeblich iſt. Darum es Ezech. 33, 12. heißt: Wenn ein Gerechter boͤſes thut, ſo wirds ihm nicht helfen, daß er fromm geweſen iſt. Und unſer Heyland ſpricht: Wer behar- ret bis ans Ende der wird ſelig. Matth. 24, 13. 12. Jſt nun aber die Beharrung im Guten da, ſo entſtehet daher erſt die wahre Gottſelig- keit, was derſelben voͤlligern und veſtern Stand betrift. Sie hebet ſich zwar ſofort in und mit dem Glauben an: aber ſie erweiſet ſich alsdenn erſt mit ihren Proben aͤcht und recht, wenn ſie ſich in der Beharrung befindet: als da es nicht mehr bey guten Bewegungen und beym guten Vorſatze bleibet, ſondern die Ausuͤbung des guten zur be- ſtaͤndigen und geſegneten Gewohnheit wird. Es haͤlt denn die Gottſeligkeit eigentlich die Pflichten gegen GOtt nach der erſten Tafel des Geſetzes alſo in ſich, daß ſie ſich auch in denen nach der an- dern Tafel gegen den Naͤchſten thaͤtig erweiſet. 13. Und da die Gottſeligkeit eigentlich auf GOtt ſelbſt gehet, und mit der Liebe gegen den Naͤchſten verknuͤpfet iſt, unter dieſen aber die Kinder GOttes, wie GOtte ſelbſt, alſo auch ei- nem gottſeligen Menſchen die allernaͤchſten ſind, ſo aͤuſſert ſie ſich auch ſo gleich in der Bruder- Liebe gegen die, mit welchen man im gleichen Bande des Glaubens und der Liebe GOttes, und alſo in der geiſtlichen Gemeinſchaft des Sinnes ſtehet. Darum gilt alhier, was Johannes 1 Ep. c. 4,

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Zitationshilfe: Lange, Joachim: Des Apostolischen Lichts und Rechts. Bd. 2. Halle, 1729, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht02_1729/594>, abgerufen am 22.11.2024.