Richtige und erbauliche Erklärung Cap. 2. v. 8-12.
[Spaltenumbruch]
Liebe, und zwar des Nechsten: daher man sie- het, wie reich und fruchtbar sie sey.
2. Die Gleichheit des Sinnes muß zu- vorderst die Annehmung des Sinnes CHristi zum Grunde haben, damit sie bey allen aus einer Quelle komme und zu einem Zweck gerichtet werde. Jn Nebendingen aber gehöret dazu ei- ne Verleugnung seines eignen Sinnes. Ein schönes Exempel solcher Gleichsinnigkeit haben wir an der ersten Apostolischen Gemeine zu Jeru- salem, von welcher es heißt, daß ihrer aller ein Hertz und eine Seele gewesen sey. Ap. Ges. 4, 32. Man sehe von dieser Tugend die Ermah- nung und das Gebet Christi Joh. 13, 35. c. 7, 21. 22. 23. auch die Ermunterung Pauli Röm. 12, 16. c. 15, 15. 1 Cor. 1, 10. 2 Cor. 13, 11. Eph. 4, 3. Phil. 2, 2.
3. Was das Mitleiden anbelanget, so gründet sich dasselbe darauf, daß andere in ge- wissen schweren Umständen sich finden, davon man frey ist. Und darinnen äussert sich eine gü- tige Providentz GOttes, daß gemeiniglich die Leiden entweder nicht allgemein sind, oder doch den einen nicht so schwer betreffen, als den an- dern, damit einer dem andern mit Rath und That beystehen könne, und also die Ubung der Liebe habe: Wie denn der Apostel kein anders Mitleiden verstehet, als welches in der Liebe durch Rath und Hülfe nach Vermögen thätig, und also auch tröstlich ist. Es kan einen unter andern nicht wenig zum Mitleiden bewegen, wenn man bedencket, daß es heisset hodie mi- hi, cras tibi! heute ists Leiden an mir, morgen an dir! Man sehe Röm. 12, 15. 1 Cor. 12, 26.
4. Die Bruder-Liebe hat die Wiederge- burt, und nach derselben die Kindschaft GOttes zum Grunde, und wird dadurch unterhalten, wenn einer in dem andern die Gnade GOttes findet und erkennet, dabey aber auch seine Schwachheit träget. Sie ist sehr erquicklich, wo sie in solcher Lauterkeit stehet, darauf der A- postel eben c. 1, 22. dringet: alwo davon ein mehrers nachzulesen ist.
5. Die Barmhertzigkeit wird alhier be- zeichnet mit dem Worte eusplagkhnos, welches ei- gentlich heißt beweglich, weichhertzig: und also ist sie wie der Grund des Mitleidens anzu- sehen, und bestehet in dem zartesten Affect der Liebe, nach welchem man des andern Noth sich bald und leicht, auch sehr zu Hertzen gehen lässet. Ein schönes Exempel hat man davon an dem Jo- seph gegen seine Brüder 1 B. Mos. 45. das voll- kommenste aber an Christo Matth. 15, 32. u. s. w. Das Gegentheil bestehet in der Verschliessung des Hertzens 1 Joh. 3, 17. Jac. 2, 13. u. f.
6. Die alhier anbefohlne Freundlichkeit bestehet in einer leutseligen Zuthätigkeit, welche aus einem Evangelischen lautern Grunde kömmt, und sich in Worten Geberden und Wercken oh- ne alle Verstellung hervorthut, und von der Be- schaffenheit ist, daß sie einen bey iederman be- liebt und zur Erbauung vielen Eingang machet. Welche aber nicht erhalten werden könte, wo- fern sie nicht mit einer Christlichen Ernsthaftig- keit wohl gemäßiget wäre. Ein schönes Exem- [Spaltenumbruch]
pel haben wir davon an Paulo, wie der suchte ohne alle Weltgefälligkeit allen allerley zu wer- den, um viele zu gewinnen. 1 Cor. 9, 22. Das vollkommenste Muster aber giebet uns Christus mit seiner philanthropia, Leutseligkeit. Man conferire hiebey Ap. Gesch. 28, 7. Eph. 4, 32. Col. 3, 12.
V. 9.
Vergeltet nicht böses mit bösem (in der That und mit dem Affect des Hertzens) oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern da- gegen segnet, (wünschet den Feinden alles gu- tes, sonderlich die Gnade zur Bekehrung an,) und wisset, daß ihr dazu berufen seyd, daß ihr den Segen ererbet, (und daher als Kinder des Segens niemanden fluchen sollet.)
Anmerckungen.
1. Es ist nichts leichters, als daß man bey seiner Unschuld gegen ein sehr unbilliges Verfah- ren zu einiger Härte in Worten kan aufgebracht werden: zumal, wenn man an den Feinden sol- che strafbare Dinge findet, welche fast iedermann ohne das bekant sind. Allein solche ihnen vor- zuwerfen, ist nicht Zeit, wenn sie schelten und lä- stern, damit man nicht angesehen werde, als stelle man sich ihnen gleich. Es kömmt schon ei- ne andere Zeit, da man ihnen in Liebe und mit Sanftmuth ihr ungebührliches Verhalten vor- stellen kan; wo nicht, so hat man es ihrem Ge- wissen und ihrer Verantwortung zu überlassen.
2. Wer erweget, daß er zum Segen be- rufen, ja desselben schon dem guten Anfange nach sey theilhaftig worden, der kan den Fluch der Welt-Kinder leicht ertragen. Und da- mit man sich so vielweniger von ihnen zur Un- geduld, oder Rache, aufbringen lasse, so hat man sie als mitleidens-würdige Personen an- zusehen, welche unter dem Fluche GOttes lie- gen. Und dabey kan man versichert seyn, daß einem der ewige Segen so viel gewisser werde zu theil werden, so viel mehr man durch der Gott- losen ihre Lästerungen überzeuget wird, daß man GOTT angehöre. Man conferire hiebey Matth. 5, 39. 44. c. 25, 34. Röm. 12, 17. 1 Thess. 5, 15. u. s. w.
V. 11. 10. 12.
Denn wer leben will und gute Tage se- hen (und sich nicht selbst alhier auf der Welt Leiden verursachen, noch sich auf dem Wege zum ewigen Leben Hinderungen machen,) der schweige, (mit Bezähmung seines widrigen Af- fects) seine Zunge, daß sie nicht böses rede, und seine Lippen, daß sie nicht trügen. Er wende sich vom bösen und thue gutes, er suche Friede (zuvorderst in und mit GOtt, und denn in dieser Ordnung auch mit dem Nech- sten) und jage ihm nach (wenn er gleichsam von ihm zu fliehen scheinet, und ihm will entrissen werden.) Denn die Augen des HErrn se- hen auf die Gerechten (welches einen deßwe- gen bewegen soll, den Pflichten eines Gerechten, oder rechtschafnen Dieners GOTTes nachzu-
kom-
Richtige und erbauliche Erklaͤrung Cap. 2. v. 8-12.
[Spaltenumbruch]
Liebe, und zwar des Nechſten: daher man ſie- het, wie reich und fruchtbar ſie ſey.
2. Die Gleichheit des Sinnes muß zu- vorderſt die Annehmung des Sinnes CHriſti zum Grunde haben, damit ſie bey allen aus einer Quelle komme und zu einem Zweck gerichtet werde. Jn Nebendingen aber gehoͤret dazu ei- ne Verleugnung ſeines eignen Sinnes. Ein ſchoͤnes Exempel ſolcher Gleichſinnigkeit haben wir an der erſten Apoſtoliſchen Gemeine zu Jeru- ſalem, von welcher es heißt, daß ihrer aller ein Hertz und eine Seele geweſen ſey. Ap. Geſ. 4, 32. Man ſehe von dieſer Tugend die Ermah- nung und das Gebet Chriſti Joh. 13, 35. c. 7, 21. 22. 23. auch die Ermunterung Pauli Roͤm. 12, 16. c. 15, 15. 1 Cor. 1, 10. 2 Cor. 13, 11. Eph. 4, 3. Phil. 2, 2.
3. Was das Mitleiden anbelanget, ſo gruͤndet ſich daſſelbe darauf, daß andere in ge- wiſſen ſchweren Umſtaͤnden ſich finden, davon man frey iſt. Und darinnen aͤuſſert ſich eine guͤ- tige Providentz GOttes, daß gemeiniglich die Leiden entweder nicht allgemein ſind, oder doch den einen nicht ſo ſchwer betreffen, als den an- dern, damit einer dem andern mit Rath und That beyſtehen koͤnne, und alſo die Ubung der Liebe habe: Wie denn der Apoſtel kein anders Mitleiden verſtehet, als welches in der Liebe durch Rath und Huͤlfe nach Vermoͤgen thaͤtig, und alſo auch troͤſtlich iſt. Es kan einen unter andern nicht wenig zum Mitleiden bewegen, wenn man bedencket, daß es heiſſet hodie mi- hi, cras tibi! heute iſts Leiden an mir, morgen an dir! Man ſehe Roͤm. 12, 15. 1 Cor. 12, 26.
4. Die Bruder-Liebe hat die Wiederge- burt, und nach derſelben die Kindſchaft GOttes zum Grunde, und wird dadurch unterhalten, wenn einer in dem andern die Gnade GOttes findet und erkennet, dabey aber auch ſeine Schwachheit traͤget. Sie iſt ſehr erquicklich, wo ſie in ſolcher Lauterkeit ſtehet, darauf der A- poſtel eben c. 1, 22. dringet: alwo davon ein mehrers nachzuleſen iſt.
5. Die Barmhertzigkeit wird alhier be- zeichnet mit dem Worte ἐύσπλαγχνος, welches ei- gentlich heißt beweglich, weichhertzig: und alſo iſt ſie wie der Grund des Mitleidens anzu- ſehen, und beſtehet in dem zarteſten Affect der Liebe, nach welchem man des andern Noth ſich bald und leicht, auch ſehr zu Hertzen gehen laͤſſet. Ein ſchoͤnes Exempel hat man davon an dem Jo- ſeph gegen ſeine Bruͤder 1 B. Moſ. 45. das voll- kommenſte aber an Chriſto Matth. 15, 32. u. ſ. w. Das Gegentheil beſtehet in der Verſchlieſſung des Hertzens 1 Joh. 3, 17. Jac. 2, 13. u. f.
6. Die alhier anbefohlne Freundlichkeit beſtehet in einer leutſeligen Zuthaͤtigkeit, welche aus einem Evangeliſchen lautern Grunde koͤmmt, und ſich in Worten Geberden und Wercken oh- ne alle Verſtellung hervorthut, und von der Be- ſchaffenheit iſt, daß ſie einen bey iederman be- liebt und zur Erbauung vielen Eingang machet. Welche aber nicht erhalten werden koͤnte, wo- fern ſie nicht mit einer Chriſtlichen Ernſthaftig- keit wohl gemaͤßiget waͤre. Ein ſchoͤnes Exem- [Spaltenumbruch]
pel haben wir davon an Paulo, wie der ſuchte ohne alle Weltgefaͤlligkeit allen allerley zu wer- den, um viele zu gewinnen. 1 Cor. 9, 22. Das vollkommenſte Muſter aber giebet uns Chriſtus mit ſeiner φιλανϑρωπίᾳ, Leutſeligkeit. Man conferire hiebey Ap. Geſch. 28, 7. Eph. 4, 32. Col. 3, 12.
V. 9.
Vergeltet nicht boͤſes mit boͤſem (in der That und mit dem Affect des Hertzens) oder Scheltwort mit Scheltwort, ſondern da- gegen ſegnet, (wuͤnſchet den Feinden alles gu- tes, ſonderlich die Gnade zur Bekehrung an,) und wiſſet, daß ihr dazu berufen ſeyd, daß ihr den Segen ererbet, (und daher als Kinder des Segens niemanden fluchen ſollet.)
Anmerckungen.
1. Es iſt nichts leichters, als daß man bey ſeiner Unſchuld gegen ein ſehr unbilliges Verfah- ren zu einiger Haͤrte in Worten kan aufgebracht werden: zumal, wenn man an den Feinden ſol- che ſtrafbare Dinge findet, welche faſt iedermann ohne das bekant ſind. Allein ſolche ihnen vor- zuwerfen, iſt nicht Zeit, wenn ſie ſchelten und laͤ- ſtern, damit man nicht angeſehen werde, als ſtelle man ſich ihnen gleich. Es koͤmmt ſchon ei- ne andere Zeit, da man ihnen in Liebe und mit Sanftmuth ihr ungebuͤhrliches Verhalten vor- ſtellen kan; wo nicht, ſo hat man es ihrem Ge- wiſſen und ihrer Verantwortung zu uͤberlaſſen.
2. Wer erweget, daß er zum Segen be- rufen, ja deſſelben ſchon dem guten Anfange nach ſey theilhaftig worden, der kan den Fluch der Welt-Kinder leicht ertragen. Und da- mit man ſich ſo vielweniger von ihnen zur Un- geduld, oder Rache, aufbringen laſſe, ſo hat man ſie als mitleidens-wuͤrdige Perſonen an- zuſehen, welche unter dem Fluche GOttes lie- gen. Und dabey kan man verſichert ſeyn, daß einem der ewige Segen ſo viel gewiſſer werde zu theil werden, ſo viel mehr man durch der Gott- loſen ihre Laͤſterungen uͤberzeuget wird, daß man GOTT angehoͤre. Man conferire hiebey Matth. 5, 39. 44. c. 25, 34. Roͤm. 12, 17. 1 Theſſ. 5, 15. u. ſ. w.
V. 11. 10. 12.
Denn wer leben will und gute Tage ſe- hen (und ſich nicht ſelbſt alhier auf der Welt Leiden verurſachen, noch ſich auf dem Wege zum ewigen Leben Hinderungen machen,) der ſchweige, (mit Bezaͤhmung ſeines widrigen Af- fects) ſeine Zunge, daß ſie nicht boͤſes rede, und ſeine Lippen, daß ſie nicht truͤgen. Er wende ſich vom boͤſen und thue gutes, er ſuche Friede (zuvorderſt in und mit GOtt, und denn in dieſer Ordnung auch mit dem Nech- ſten) und jage ihm nach (wenn er gleichſam von ihm zu fliehen ſcheinet, und ihm will entriſſen werden.) Denn die Augen des HErrn ſe- hen auf die Gerechten (welches einen deßwe- gen bewegen ſoll, den Pflichten eines Gerechten, oder rechtſchafnen Dieners GOTTes nachzu-
kom-
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[552/0554]
Richtige und erbauliche Erklaͤrung Cap. 2. v. 8-12.
Liebe, und zwar des Nechſten: daher man ſie-
het, wie reich und fruchtbar ſie ſey.
2. Die Gleichheit des Sinnes muß zu-
vorderſt die Annehmung des Sinnes CHriſti
zum Grunde haben, damit ſie bey allen aus einer
Quelle komme und zu einem Zweck gerichtet
werde. Jn Nebendingen aber gehoͤret dazu ei-
ne Verleugnung ſeines eignen Sinnes. Ein
ſchoͤnes Exempel ſolcher Gleichſinnigkeit haben
wir an der erſten Apoſtoliſchen Gemeine zu Jeru-
ſalem, von welcher es heißt, daß ihrer aller ein
Hertz und eine Seele geweſen ſey. Ap. Geſ. 4,
32. Man ſehe von dieſer Tugend die Ermah-
nung und das Gebet Chriſti Joh. 13, 35. c. 7, 21.
22. 23. auch die Ermunterung Pauli Roͤm. 12,
16. c. 15, 15. 1 Cor. 1, 10. 2 Cor. 13, 11. Eph. 4, 3.
Phil. 2, 2.
3. Was das Mitleiden anbelanget, ſo
gruͤndet ſich daſſelbe darauf, daß andere in ge-
wiſſen ſchweren Umſtaͤnden ſich finden, davon
man frey iſt. Und darinnen aͤuſſert ſich eine guͤ-
tige Providentz GOttes, daß gemeiniglich die
Leiden entweder nicht allgemein ſind, oder doch
den einen nicht ſo ſchwer betreffen, als den an-
dern, damit einer dem andern mit Rath und
That beyſtehen koͤnne, und alſo die Ubung der
Liebe habe: Wie denn der Apoſtel kein anders
Mitleiden verſtehet, als welches in der Liebe
durch Rath und Huͤlfe nach Vermoͤgen thaͤtig,
und alſo auch troͤſtlich iſt. Es kan einen unter
andern nicht wenig zum Mitleiden bewegen,
wenn man bedencket, daß es heiſſet hodie mi-
hi, cras tibi! heute iſts Leiden an mir, morgen
an dir! Man ſehe Roͤm. 12, 15. 1 Cor. 12, 26.
4. Die Bruder-Liebe hat die Wiederge-
burt, und nach derſelben die Kindſchaft GOttes
zum Grunde, und wird dadurch unterhalten,
wenn einer in dem andern die Gnade GOttes
findet und erkennet, dabey aber auch ſeine
Schwachheit traͤget. Sie iſt ſehr erquicklich,
wo ſie in ſolcher Lauterkeit ſtehet, darauf der A-
poſtel eben c. 1, 22. dringet: alwo davon ein
mehrers nachzuleſen iſt.
5. Die Barmhertzigkeit wird alhier be-
zeichnet mit dem Worte ἐύσπλαγχνος, welches ei-
gentlich heißt beweglich, weichhertzig: und
alſo iſt ſie wie der Grund des Mitleidens anzu-
ſehen, und beſtehet in dem zarteſten Affect der
Liebe, nach welchem man des andern Noth ſich
bald und leicht, auch ſehr zu Hertzen gehen laͤſſet.
Ein ſchoͤnes Exempel hat man davon an dem Jo-
ſeph gegen ſeine Bruͤder 1 B. Moſ. 45. das voll-
kommenſte aber an Chriſto Matth. 15, 32. u. ſ. w.
Das Gegentheil beſtehet in der Verſchlieſſung
des Hertzens 1 Joh. 3, 17. Jac. 2, 13. u. f.
6. Die alhier anbefohlne Freundlichkeit
beſtehet in einer leutſeligen Zuthaͤtigkeit, welche
aus einem Evangeliſchen lautern Grunde koͤmmt,
und ſich in Worten Geberden und Wercken oh-
ne alle Verſtellung hervorthut, und von der Be-
ſchaffenheit iſt, daß ſie einen bey iederman be-
liebt und zur Erbauung vielen Eingang machet.
Welche aber nicht erhalten werden koͤnte, wo-
fern ſie nicht mit einer Chriſtlichen Ernſthaftig-
keit wohl gemaͤßiget waͤre. Ein ſchoͤnes Exem-
pel haben wir davon an Paulo, wie der ſuchte
ohne alle Weltgefaͤlligkeit allen allerley zu wer-
den, um viele zu gewinnen. 1 Cor. 9, 22. Das
vollkommenſte Muſter aber giebet uns Chriſtus
mit ſeiner φιλανϑρωπίᾳ, Leutſeligkeit. Man
conferire hiebey Ap. Geſch. 28, 7. Eph. 4, 32.
Col. 3, 12.
V. 9.
Vergeltet nicht boͤſes mit boͤſem (in der
That und mit dem Affect des Hertzens) oder
Scheltwort mit Scheltwort, ſondern da-
gegen ſegnet, (wuͤnſchet den Feinden alles gu-
tes, ſonderlich die Gnade zur Bekehrung an,)
und wiſſet, daß ihr dazu berufen ſeyd, daß
ihr den Segen ererbet, (und daher als Kinder
des Segens niemanden fluchen ſollet.)
Anmerckungen.
1. Es iſt nichts leichters, als daß man bey
ſeiner Unſchuld gegen ein ſehr unbilliges Verfah-
ren zu einiger Haͤrte in Worten kan aufgebracht
werden: zumal, wenn man an den Feinden ſol-
che ſtrafbare Dinge findet, welche faſt iedermann
ohne das bekant ſind. Allein ſolche ihnen vor-
zuwerfen, iſt nicht Zeit, wenn ſie ſchelten und laͤ-
ſtern, damit man nicht angeſehen werde, als
ſtelle man ſich ihnen gleich. Es koͤmmt ſchon ei-
ne andere Zeit, da man ihnen in Liebe und mit
Sanftmuth ihr ungebuͤhrliches Verhalten vor-
ſtellen kan; wo nicht, ſo hat man es ihrem Ge-
wiſſen und ihrer Verantwortung zu uͤberlaſſen.
2. Wer erweget, daß er zum Segen be-
rufen, ja deſſelben ſchon dem guten Anfange
nach ſey theilhaftig worden, der kan den Fluch
der Welt-Kinder leicht ertragen. Und da-
mit man ſich ſo vielweniger von ihnen zur Un-
geduld, oder Rache, aufbringen laſſe, ſo hat
man ſie als mitleidens-wuͤrdige Perſonen an-
zuſehen, welche unter dem Fluche GOttes lie-
gen. Und dabey kan man verſichert ſeyn, daß
einem der ewige Segen ſo viel gewiſſer werde
zu theil werden, ſo viel mehr man durch der Gott-
loſen ihre Laͤſterungen uͤberzeuget wird, daß man
GOTT angehoͤre. Man conferire hiebey
Matth. 5, 39. 44. c. 25, 34. Roͤm. 12, 17. 1 Theſſ.
5, 15. u. ſ. w.
V. 11. 10. 12.
Denn wer leben will und gute Tage ſe-
hen (und ſich nicht ſelbſt alhier auf der Welt
Leiden verurſachen, noch ſich auf dem Wege
zum ewigen Leben Hinderungen machen,) der
ſchweige, (mit Bezaͤhmung ſeines widrigen Af-
fects) ſeine Zunge, daß ſie nicht boͤſes rede,
und ſeine Lippen, daß ſie nicht truͤgen.
Er wende ſich vom boͤſen und thue gutes,
er ſuche Friede (zuvorderſt in und mit GOtt,
und denn in dieſer Ordnung auch mit dem Nech-
ſten) und jage ihm nach (wenn er gleichſam
von ihm zu fliehen ſcheinet, und ihm will entriſſen
werden.) Denn die Augen des HErrn ſe-
hen auf die Gerechten (welches einen deßwe-
gen bewegen ſoll, den Pflichten eines Gerechten,
oder rechtſchafnen Dieners GOTTes nachzu-
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Lange, Joachim: Des Apostolischen Lichts und Rechts. Bd. 2. Halle, 1729, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht02_1729/554>, abgerufen am 22.11.2024.
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