Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729.Erklärung des Briefs Pauli Cap. 1, v. 9. 10. [Spaltenumbruch]
ne rechte Beurtheilung solcher Sachen gesche-hen kan. Denn wer würde doch wol vom Ho- nig, Zucker, auch dieser und jener Baum- Frucht sich einen richtigen Concept machen können, wenn er sie nicht einmal gesehen, vielweniger geschmecket, sondern davon nur allein gehöret, oder gelesen hätte? b. Wie dieses, was von den leiblichen Sin- nen und der sinnlichen Empfindung wahr ist, auch in geistlichen Dingen wahr sey? Hier giebt es Sachen, welche eben so wol die Kräfte der Seele, sonderlich den Willen, rühren, als die materialischen Dinge die Sinne. Solche sind alle zur An- richtung des Ebenbildes und des Reichs GOt- tes in der Seelen gehörige practische Wahr- heiten: als da sonderlich sind die von der Sünde und sündlichen Verderben des Menschen, von dem natürlichen Unvermö- gen in geistlichen Dingen, von der Gnade GOttes und ihrer kräftigen Wirckung, von der Salbung, Regierung und Einwoh- nung des Heiligen Geistes, von der Be- rufung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Erneuerung, von dem Glauben, von der Liebe und von der lebendigen Hoffnung, von den Heils-Gütern, als dem Frieden, der Freude des Heiligen Geistes, der Christli- chen Freyheit, der Kindschaft GOttes, von der Nachfolge CHristi und dem Creu- tze der Christen und desselben grossen Unter- scheide, welchen es von den bloß natürlichen und selbst gemachten Leiden hat; u. s. w. Alle diese Sachen sind so beschaffen, daß sie in der Seele können und müssen empfünden werden. Jst nun die Empfindung da, so können sie, Vermöge derselben, nach dem Zeugnisse der heiligen Schrift, recht lebendig, eigentlich, und richtig erkant und beurtheilet werden. Jst sie nicht da, so ist die richtige Erkäntniß und Beurtheilung unmöglich, so unmöglich es ist, daß sinnliche Dinge ohne die Ordnung, da die Gliedmassen der Sinne von ihnen be- ruhiget werden, richtig können erkannt wer- werden. c. Warum das Wort pase dabey stehe? Dieser wegen, weil es dißfalls im Reiche der Gnaden gehet, wie im Reiche der Natur, das ist, gleichwie zur Beurtheilung eines Dinges die Anwendung eines einigen Sinnes oft nicht genug ist, sondern wenn sie sich für mehrere Sinne schicket, so müssen sie alle dazu genom- men werden. Z. E. es ist nicht genug, daß ich die Frucht eines Baumes nur sehe, oder da- von etwas lese, und einen andern davon reden höre, sondern ich muß sie auch würcklich in die Hand nehmen und daran riechen, und, da auch dieses noch nicht genug ist, sondern es am meisten auf den Geschmack ankömmt, so muß ich sie auch würcklich kosten und schme- cken: und so denn geschiehet das Urtheil en pase aisthesei, vermöge aller Empfind- lichkeit. Also verhält sichs auch im Reiche der Gnaden. Es ist keines weges zum richti- gen Urtheil hinlänglich, daß man von den an- [Spaltenumbruch] geführten practischen Wahrheiten nur allein lese, was davon in Büchern stehet, oder höre, was dieser und jener davon vorträget, sondern es ist dazu allerdings die würckliche Empfin- dung, nach welchem sie einem zum rechten Geschmacke kommen, nöthig. Da nun aber alle solche Empfindung zur Kraft des Willens gehöret, so siehet man, wie die Bekehrung und Heiligung des Willens, dadurch man zur Empfindung aller solcher Wahrheiten kömmt, zur richtigen Erkäntniß höchst nö- thig sey. 10. Der selige Lutherus hat das Wort aisthesis gar wohl durch das Wort Erfahrung übersetzet. Denn durch solche Empfindung er- fähret man, wie einer ieden geistlichen Sache ih- re eigentliche Natur beschaffen sey. Und da ie- derman weiß, wie viel es in natürlichen Dingen, und bey allen Professionen, Künsten und Hand- thierungen auf die würckliche Erfahrung ankom- me, so kan man daher leichtlich erachten, wie viel in geistlichen Dingen zu ihrer rechten Beur- theilung an der Erfahrung gelegen sey; an der Erfahrung, mit welcher es eine solche Beschaffen- heit hat, als zuvor von der Empfindung ange- zeiget ist. 11. Wer nun dieses alles wohl erweget, der kan leichtlich erkennen, was von der Frage zu halten sey: ob ein unbekehrter Mensch, so lange er ein solcher bleibet, eine wahre, rech- te, richtige und geistliche Erkäntniß gött- licher Dinge habe? sonderlich solcher, welche oben kürtzlich nach einander gesetzet sind, oder die zur geistlichen Empfindung gehören: und ob er also im eigentlichen und biblischen Verstande erleuchtet sey? Gewiß es kan fast nichts unge- reimters seyn, als dieses: und verrathen sich diejenigen, welche die Frage bejahen, damit deut- lich genug, daß sie selbst wie am Willen noch unbekehrt, also auch am Verstande noch blind sind, und wie die Blinden von der Farbe urthei- len. Was sie wissen, haben sie nur vom Lesen und vom Hören, und von ihrem natürlichen Be- grif geistlicher Dinge, ohne alle Kraft und Er- fahrung und ohne alle lebendige Erkäntniß. V. 10. Daß ihr prüfen möget, was das Be- Anmerckungen. 1. Ta diapheronta sind allerley Dinge, so wol theoretische als practische Sachen, auch Begebenheiten, die einem im Christenthum nur mögen vorkommen. Weil nun dieselbe sehr un- terschieden und von gar unterschiedener Natur, Wichtigkeit, Nothwendigkeit, Nutzbarkeit, auch Schädlichkeit sind, und also wohl geprüfet werden müssen, so sind daher nach geschehener Prüfung ta diapheronta, die für wahr und gül- tig befundenen, und also die besten, Sachen. 2. Und hieraus erhellet nun auch zugleich, was da sey dokimazein, prüfen, nemlich eine ge- naue Untersuchung und Beurtheilung der vor- kom-
Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 1, v. 9. 10. [Spaltenumbruch]
ne rechte Beurtheilung ſolcher Sachen geſche-hen kan. Denn wer wuͤrde doch wol vom Ho- nig, Zucker, auch dieſer und jener Baum- Frucht ſich einen richtigen Concept machen koͤnnen, wenn er ſie nicht einmal geſehen, vielweniger geſchmecket, ſondern davon nur allein gehoͤret, oder geleſen haͤtte? b. Wie dieſes, was von den leiblichen Sin- nen und der ſinnlichen Empfindung wahr iſt, auch in geiſtlichen Dingen wahr ſey? Hier giebt es Sachen, welche eben ſo wol die Kraͤfte der Seele, ſonderlich den Willen, ruͤhren, als die materialiſchen Dinge die Sinne. Solche ſind alle zur An- richtung des Ebenbildes und des Reichs GOt- tes in der Seelen gehoͤrige practiſche Wahr- heiten: als da ſonderlich ſind die von der Suͤnde und ſuͤndlichen Verderben des Menſchen, von dem natuͤrlichen Unvermoͤ- gen in geiſtlichen Dingen, von der Gnade GOttes und ihrer kraͤftigen Wirckung, von der Salbung, Regierung und Einwoh- nung des Heiligen Geiſtes, von der Be- rufung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Erneuerung, von dem Glauben, von der Liebe und von der lebendigen Hoffnung, von den Heils-Guͤtern, als dem Frieden, der Freude des Heiligen Geiſtes, der Chriſtli- chen Freyheit, der Kindſchaft GOttes, von der Nachfolge CHriſti und dem Creu- tze der Chriſten und deſſelben groſſen Unter- ſcheide, welchen es von den bloß natuͤrlichen und ſelbſt gemachten Leiden hat; u. ſ. w. Alle dieſe Sachen ſind ſo beſchaffen, daß ſie in der Seele koͤnnen und muͤſſen empfuͤnden werden. Jſt nun die Empfindung da, ſo koͤnnen ſie, Vermoͤge derſelben, nach dem Zeugniſſe der heiligen Schrift, recht lebendig, eigentlich, und richtig erkant und beurtheilet werden. Jſt ſie nicht da, ſo iſt die richtige Erkaͤntniß und Beurtheilung unmoͤglich, ſo unmoͤglich es iſt, daß ſinnliche Dinge ohne die Ordnung, da die Gliedmaſſen der Sinne von ihnen be- ruhiget werden, richtig koͤnnen erkannt wer- werden. c. Warum das Wort πάσῃ dabey ſtehe? Dieſer wegen, weil es dißfalls im Reiche der Gnaden gehet, wie im Reiche der Natur, das iſt, gleichwie zur Beurtheilung eines Dinges die Anwendung eines einigen Sinnes oft nicht genug iſt, ſondern wenn ſie ſich fuͤr mehrere Sinne ſchicket, ſo muͤſſen ſie alle dazu genom- men werden. Z. E. es iſt nicht genug, daß ich die Frucht eines Baumes nur ſehe, oder da- von etwas leſe, und einen andern davon reden hoͤre, ſondern ich muß ſie auch wuͤrcklich in die Hand nehmen und daran riechen, und, da auch dieſes noch nicht genug iſt, ſondern es am meiſten auf den Geſchmack ankoͤmmt, ſo muß ich ſie auch wuͤrcklich koſten und ſchme- cken: und ſo denn geſchiehet das Urtheil ἐν πάσῃ αίσϑήσει, vermoͤge aller Empfind- lichkeit. Alſo verhaͤlt ſichs auch im Reiche der Gnaden. Es iſt keines weges zum richti- gen Urtheil hinlaͤnglich, daß man von den an- [Spaltenumbruch] gefuͤhrten practiſchen Wahrheiten nur allein leſe, was davon in Buͤchern ſtehet, oder hoͤre, was dieſer und jener davon vortraͤget, ſondern es iſt dazu allerdings die wuͤrckliche Empfin- dung, nach welchem ſie einem zum rechten Geſchmacke kommen, noͤthig. Da nun aber alle ſolche Empfindung zur Kraft des Willens gehoͤret, ſo ſiehet man, wie die Bekehrung und Heiligung des Willens, dadurch man zur Empfindung aller ſolcher Wahrheiten koͤmmt, zur richtigen Erkaͤntniß hoͤchſt noͤ- thig ſey. 10. Der ſelige Lutherus hat das Wort αἴσϑησις gar wohl durch das Wort Erfahrung uͤberſetzet. Denn durch ſolche Empfindung er- faͤhret man, wie einer ieden geiſtlichen Sache ih- re eigentliche Natur beſchaffen ſey. Und da ie- derman weiß, wie viel es in natuͤrlichen Dingen, und bey allen Profeſſionen, Kuͤnſten und Hand- thierungen auf die wuͤrckliche Erfahrung ankom- me, ſo kan man daher leichtlich erachten, wie viel in geiſtlichen Dingen zu ihrer rechten Beur- theilung an der Erfahrung gelegen ſey; an der Erfahrung, mit welcher es eine ſolche Beſchaffen- heit hat, als zuvor von der Empfindung ange- zeiget iſt. 11. Wer nun dieſes alles wohl erweget, der kan leichtlich erkennen, was von der Frage zu halten ſey: ob ein unbekehrter Menſch, ſo lange er ein ſolcher bleibet, eine wahre, rech- te, richtige und geiſtliche Erkaͤntniß goͤtt- licher Dinge habe? ſonderlich ſolcher, welche oben kuͤrtzlich nach einander geſetzet ſind, oder die zur geiſtlichen Empfindung gehoͤren: und ob er alſo im eigentlichen und bibliſchen Verſtande erleuchtet ſey? Gewiß es kan faſt nichts unge- reimters ſeyn, als dieſes: und verrathen ſich diejenigen, welche die Frage bejahen, damit deut- lich genug, daß ſie ſelbſt wie am Willen noch unbekehrt, alſo auch am Verſtande noch blind ſind, und wie die Blinden von der Farbe urthei- len. Was ſie wiſſen, haben ſie nur vom Leſen und vom Hoͤren, und von ihrem natuͤrlichen Be- grif geiſtlicher Dinge, ohne alle Kraft und Er- fahrung und ohne alle lebendige Erkaͤntniß. V. 10. Daß ihr pruͤfen moͤget, was das Be- Anmerckungen. 1. Τὰ διαφέροντα ſind allerley Dinge, ſo wol theoretiſche als practiſche Sachen, auch Begebenheiten, die einem im Chriſtenthum nur moͤgen vorkommen. Weil nun dieſelbe ſehr un- terſchieden und von gar unterſchiedener Natur, Wichtigkeit, Nothwendigkeit, Nutzbarkeit, auch Schaͤdlichkeit ſind, und alſo wohl gepruͤfet werden muͤſſen, ſo ſind daher nach geſchehener Pruͤfung τὰ διαφέροντα, die fuͤr wahr und guͤl- tig befundenen, und alſo die beſten, Sachen. 2. Und hieraus erhellet nun auch zugleich, was da ſey δοκιμάζειν, pruͤfen, nemlich eine ge- naue Unterſuchung und Beurtheilung der vor- kom-
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Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 1, v. 9. 10.
ne rechte Beurtheilung ſolcher Sachen geſche-
hen kan. Denn wer wuͤrde doch wol vom Ho-
nig, Zucker, auch dieſer und jener Baum-
Frucht ſich einen richtigen Concept machen
koͤnnen, wenn er ſie nicht einmal geſehen,
vielweniger geſchmecket, ſondern davon nur
allein gehoͤret, oder geleſen haͤtte?
b. Wie dieſes, was von den leiblichen Sin-
nen und der ſinnlichen Empfindung
wahr iſt, auch in geiſtlichen Dingen
wahr ſey? Hier giebt es Sachen, welche
eben ſo wol die Kraͤfte der Seele, ſonderlich
den Willen, ruͤhren, als die materialiſchen
Dinge die Sinne. Solche ſind alle zur An-
richtung des Ebenbildes und des Reichs GOt-
tes in der Seelen gehoͤrige practiſche Wahr-
heiten: als da ſonderlich ſind die von der
Suͤnde und ſuͤndlichen Verderben des
Menſchen, von dem natuͤrlichen Unvermoͤ-
gen in geiſtlichen Dingen, von der Gnade
GOttes und ihrer kraͤftigen Wirckung, von
der Salbung, Regierung und Einwoh-
nung des Heiligen Geiſtes, von der Be-
rufung, Wiedergeburt, Rechtfertigung,
Erneuerung, von dem Glauben, von der
Liebe und von der lebendigen Hoffnung,
von den Heils-Guͤtern, als dem Frieden, der
Freude des Heiligen Geiſtes, der Chriſtli-
chen Freyheit, der Kindſchaft GOttes,
von der Nachfolge CHriſti und dem Creu-
tze der Chriſten und deſſelben groſſen Unter-
ſcheide, welchen es von den bloß natuͤrlichen
und ſelbſt gemachten Leiden hat; u. ſ. w. Alle
dieſe Sachen ſind ſo beſchaffen, daß ſie in der
Seele koͤnnen und muͤſſen empfuͤnden werden.
Jſt nun die Empfindung da, ſo koͤnnen ſie,
Vermoͤge derſelben, nach dem Zeugniſſe der
heiligen Schrift, recht lebendig, eigentlich,
und richtig erkant und beurtheilet werden.
Jſt ſie nicht da, ſo iſt die richtige Erkaͤntniß
und Beurtheilung unmoͤglich, ſo unmoͤglich
es iſt, daß ſinnliche Dinge ohne die Ordnung,
da die Gliedmaſſen der Sinne von ihnen be-
ruhiget werden, richtig koͤnnen erkannt wer-
werden.
c. Warum das Wort πάσῃ dabey ſtehe?
Dieſer wegen, weil es dißfalls im Reiche der
Gnaden gehet, wie im Reiche der Natur, das
iſt, gleichwie zur Beurtheilung eines Dinges
die Anwendung eines einigen Sinnes oft nicht
genug iſt, ſondern wenn ſie ſich fuͤr mehrere
Sinne ſchicket, ſo muͤſſen ſie alle dazu genom-
men werden. Z. E. es iſt nicht genug, daß ich
die Frucht eines Baumes nur ſehe, oder da-
von etwas leſe, und einen andern davon reden
hoͤre, ſondern ich muß ſie auch wuͤrcklich in
die Hand nehmen und daran riechen, und, da
auch dieſes noch nicht genug iſt, ſondern es
am meiſten auf den Geſchmack ankoͤmmt, ſo
muß ich ſie auch wuͤrcklich koſten und ſchme-
cken: und ſo denn geſchiehet das Urtheil ἐν
πάσῃ αίσϑήσει, vermoͤge aller Empfind-
lichkeit. Alſo verhaͤlt ſichs auch im Reiche
der Gnaden. Es iſt keines weges zum richti-
gen Urtheil hinlaͤnglich, daß man von den an-
gefuͤhrten practiſchen Wahrheiten nur allein
leſe, was davon in Buͤchern ſtehet, oder hoͤre,
was dieſer und jener davon vortraͤget, ſondern
es iſt dazu allerdings die wuͤrckliche Empfin-
dung, nach welchem ſie einem zum rechten
Geſchmacke kommen, noͤthig. Da nun aber
alle ſolche Empfindung zur Kraft des Willens
gehoͤret, ſo ſiehet man, wie die Bekehrung
und Heiligung des Willens, dadurch man
zur Empfindung aller ſolcher Wahrheiten
koͤmmt, zur richtigen Erkaͤntniß hoͤchſt noͤ-
thig ſey.
10. Der ſelige Lutherus hat das Wort
αἴσϑησις gar wohl durch das Wort Erfahrung
uͤberſetzet. Denn durch ſolche Empfindung er-
faͤhret man, wie einer ieden geiſtlichen Sache ih-
re eigentliche Natur beſchaffen ſey. Und da ie-
derman weiß, wie viel es in natuͤrlichen Dingen,
und bey allen Profeſſionen, Kuͤnſten und Hand-
thierungen auf die wuͤrckliche Erfahrung ankom-
me, ſo kan man daher leichtlich erachten, wie
viel in geiſtlichen Dingen zu ihrer rechten Beur-
theilung an der Erfahrung gelegen ſey; an der
Erfahrung, mit welcher es eine ſolche Beſchaffen-
heit hat, als zuvor von der Empfindung ange-
zeiget iſt.
11. Wer nun dieſes alles wohl erweget,
der kan leichtlich erkennen, was von der Frage zu
halten ſey: ob ein unbekehrter Menſch, ſo
lange er ein ſolcher bleibet, eine wahre, rech-
te, richtige und geiſtliche Erkaͤntniß goͤtt-
licher Dinge habe? ſonderlich ſolcher, welche
oben kuͤrtzlich nach einander geſetzet ſind, oder
die zur geiſtlichen Empfindung gehoͤren: und ob
er alſo im eigentlichen und bibliſchen Verſtande
erleuchtet ſey? Gewiß es kan faſt nichts unge-
reimters ſeyn, als dieſes: und verrathen ſich
diejenigen, welche die Frage bejahen, damit deut-
lich genug, daß ſie ſelbſt wie am Willen noch
unbekehrt, alſo auch am Verſtande noch blind
ſind, und wie die Blinden von der Farbe urthei-
len. Was ſie wiſſen, haben ſie nur vom Leſen
und vom Hoͤren, und von ihrem natuͤrlichen Be-
grif geiſtlicher Dinge, ohne alle Kraft und Er-
fahrung und ohne alle lebendige Erkaͤntniß.
V. 10.
Daß ihr pruͤfen moͤget, was das Be-
ſte ſey, auf daß ihr ſeyd lauter und unanſtoͤſ-
ſig, bis auf den Tag CHriſti.
Anmerckungen.
1. Τὰ διαφέροντα ſind allerley Dinge,
ſo wol theoretiſche als practiſche Sachen, auch
Begebenheiten, die einem im Chriſtenthum nur
moͤgen vorkommen. Weil nun dieſelbe ſehr un-
terſchieden und von gar unterſchiedener Natur,
Wichtigkeit, Nothwendigkeit, Nutzbarkeit,
auch Schaͤdlichkeit ſind, und alſo wohl gepruͤfet
werden muͤſſen, ſo ſind daher nach geſchehener
Pruͤfung τὰ διαφέροντα, die fuͤr wahr und guͤl-
tig befundenen, und alſo die beſten, Sachen.
2. Und hieraus erhellet nun auch zugleich,
was da ſey δοκιμάζειν, pruͤfen, nemlich eine ge-
naue Unterſuchung und Beurtheilung der vor-
kom-
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