Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729.Cap. 6, 2. an die Galater. [Spaltenumbruch]
sich in seinem Gemüthe an des verirreten odergefallenen Nechsten seine Stelle setzet, und sich selbst fraget: Siehe, wenn du der und der wä- rest, und dich so und so verhalten hättest; wie woltest du, daß andere sich gegen dich bezeigen sol- ten? Gewiß auf diese Art wird man auf man- ches kommen, daran man sonst so leicht nicht würde gedacht haben: insonderheit wird man sich hüten, daß man des Nechsten Fehler und Gebrechen nicht grösser mache als sie sind, viel- weniger ihn deßwegen hasse, sondern in so viel mehrere Erbarmung eingehe, und jene aufs gelindeste auslege, und sie in der Hoffnung der Liebe mehr einer Unwissenheit, Unbedachtsam- keit und Ubereilung, als einem Vorsatze und Fre- vel, zuschreibe. V. 2. Einer trage (mit williger und geduldiger Anmerckungen. 1. Von einem andern Erbauung und Hül- fe haben, ist erquicklich und angenehm; hinge- gen an ihm Aergernisse und ein sündliches, un- lauteres, und unordentliches Wesen sehen, ist einem lästig und beschwerlich. Da man sich nun natürlicher Weise gern einer Last entziehet, so soll man sie dagegen gern über sich nehmen. Siehe 2 B. Mos. 23, 6. da uns so gar die Liebe gegen unsers Nechsten Esel oder Vieh angewie- sen wird, daß wir dasselbe unter der Last nicht sollen erliegen lassen. 2. Des Nechsten Last bestehet aber nicht allein in sündlichen Schwachheiten, sondern auch sonst in natürlichen Mängeln und Ge- brechen, als Kranckheit, Armuth, allerley Leiden und schwere Arbeit; darinnen man sich desselben, als ein Mitglied anzunehmen hat. Es hat mancher auch von Natur seinem Tempe- ramente nach etwas an sich, das dem andern zur Last wird, z. e. die Hitze und der Zorn einem kaltsinnigen und langsamen; hingegen die Kaltsinnigkeit und eine langsame Trägheit einem hitzigen und muntern Menschen. Da denn immer einer an dem andern etwas zu tra- gen hat, und keiner mit Recht fodern kan, daß der andere seyn soll wie er; sondern ein ieder hat dahin zu sehen, daß er seine natürliche Constitution durch die Gnade reinigen und heiligen lasse. 3. Jst es unverantwortlich, einem seine Last nicht helfen ertragen: wie unchristlich muß es denn nicht seyn, wenn man einem die Lasten [Spaltenumbruch] verdoppelt, oder doch noch immer mehr aufleget: wie leider vielmal geschiehet. 4. Es ist dieses eine solche apostolische Er- innerung, welche sonderlich die Regenten und Herrschaften angehet. O wie wenige unter ihnen dencken daran: sondern die allermeisten sind vielmehr darauf bedacht, wie sie ihren Un- terthanen und Bedienten nur die Lasten häuffen mögen: vergessen demnach gar, daß sie auch Menschen, geschweige Christen sind, und der HErr JEsus gesaget habe: Was ihr wollet, daß euch die Leute thun sollen, das thut ih- nen auch. Matth. 7, 12. 5. Es muß aber auch niemand diese Er- mahnung Pauli also mißbrauchen, daß er ge- dencken wolte: andere sind schuldig meine Last zu tragen, darum will ich der Lasten nur viel ma- chen, damit sie mir etwas abzunehmen haben. Denn das wäre ein Zeichen eines sehr boshafti- gen Gemüthes. Welches mit solchem Miß- brauche der Liebe des Nechsten denn auch leicht- lich verursachen kan, daß andere darüber müde werden, und ihn unter seiner Last endlich liegen lassen. 6. Christi Gesetz ist dasselbe Gesetz, wel- ches durch den Dienst Mosis dem Volcke Jsrael gegeben worden: wie denn, was Paulus alhier von der Liebe des Nechsten saget, uns im Gesetz Mosis geboten ist 3 B. M. 19, 18. auch was die Liebe gegen die Feinde betrifft. 2 B. M. 13, 4. 5. Matth. 22, 37. seqq. Wie denn auch im gan- tzen neuen Testamente nicht ein eintziges Gebot zu finden ist, welches nicht entweder ausdrück- lich, oder doch dem Sinne nach, in dem alten und eintzigen Gesetze enthalten sey. 7. Es irren demnach die Socinianer, theils auch die Papisten, gar sehr, wenn sie Christum zum neuen Gesetzgeber machen, welcher ein voll- kommeneres Gesetz gegeben habe: da doch jenes so vollkommen ist, als es nur immer seyn können: als welches erfodert, daß der Mensch mit voll- kommner Liebe gegen GOtt, auch mit wohlge- ordneter Liebe gegen sich selbst und seinen Nech- sten ohne alle Sünde, oder sündliche Lust erfüllet seyn soll. Matth. 22, 37. sqq Rom. 7, 7. 15. sintemal der Mensch also erschaffen worden ist. 8. Es ist auch daraus offenbar, daß Chri- stus kein neues Gesetze gegeben habe, weil er selbst der Urheber ist des alten Mosaischen Gese- tzes. Sintemal er als der Engel des HErrn, oder der damals noch zukünftige Meßias, Mosen zum Pharao schickte und durch ihn unter grossen Wunder-Thaten der Straf-Gerichte das Volck Jsrael aus Aegypten u. durchs rothe Meer führete, auch in der Wüsten mit Brodt und Wasser ver- sorgete, und allewege in der Wolcken-Seule vor ihnen herzog; und, als er sie an den Berg Sinai gebracht hatte, sich in dieser Seule da hinauf zog, und von dannen aus derselben mit grosser Majestät das Gesetz gab 2 B. M. 3. 12. 13. 14. 17. 19. 20. Und in derselben wird er auch wie- der kommen zum Gerichte, und, daß er der rech- te legislator, oder der erste Gesetzgeber mit dem Vater und dem H. Geist gewesen, mit der ge- richtlichen execution genugsam erweisen. 8. Es
Cap. 6, 2. an die Galater. [Spaltenumbruch]
ſich in ſeinem Gemuͤthe an des verirreten odergefallenen Nechſten ſeine Stelle ſetzet, und ſich ſelbſt fraget: Siehe, wenn du der und der waͤ- reſt, und dich ſo und ſo verhalten haͤtteſt; wie wolteſt du, daß andere ſich gegen dich bezeigen ſol- ten? Gewiß auf dieſe Art wird man auf man- ches kommen, daran man ſonſt ſo leicht nicht wuͤrde gedacht haben: inſonderheit wird man ſich huͤten, daß man des Nechſten Fehler und Gebrechen nicht groͤſſer mache als ſie ſind, viel- weniger ihn deßwegen haſſe, ſondern in ſo viel mehrere Erbarmung eingehe, und jene aufs gelindeſte auslege, und ſie in der Hoffnung der Liebe mehr einer Unwiſſenheit, Unbedachtſam- keit und Ubereilung, als einem Vorſatze und Fre- vel, zuſchreibe. V. 2. Einer trage (mit williger und geduldiger Anmerckungen. 1. Von einem andern Erbauung und Huͤl- fe haben, iſt erquicklich und angenehm; hinge- gen an ihm Aergerniſſe und ein ſuͤndliches, un- lauteres, und unordentliches Weſen ſehen, iſt einem laͤſtig und beſchwerlich. Da man ſich nun natuͤrlicher Weiſe gern einer Laſt entziehet, ſo ſoll man ſie dagegen gern uͤber ſich nehmen. Siehe 2 B. Moſ. 23, 6. da uns ſo gar die Liebe gegen unſers Nechſten Eſel oder Vieh angewie- ſen wird, daß wir daſſelbe unter der Laſt nicht ſollen erliegen laſſen. 2. Des Nechſten Laſt beſtehet aber nicht allein in ſuͤndlichen Schwachheiten, ſondern auch ſonſt in natuͤrlichen Maͤngeln und Ge- brechen, als Kranckheit, Armuth, allerley Leiden und ſchwere Arbeit; darinnen man ſich deſſelben, als ein Mitglied anzunehmen hat. Es hat mancher auch von Natur ſeinem Tempe- ramente nach etwas an ſich, das dem andern zur Laſt wird, z. e. die Hitze und der Zorn einem kaltſinnigen und langſamen; hingegen die Kaltſinnigkeit und eine langſame Traͤgheit einem hitzigen und muntern Menſchen. Da denn immer einer an dem andern etwas zu tra- gen hat, und keiner mit Recht fodern kan, daß der andere ſeyn ſoll wie er; ſondern ein ieder hat dahin zu ſehen, daß er ſeine natuͤrliche Conſtitution durch die Gnade reinigen und heiligen laſſe. 3. Jſt es unverantwortlich, einem ſeine Laſt nicht helfen ertragen: wie unchriſtlich muß es denn nicht ſeyn, wenn man einem die Laſten [Spaltenumbruch] verdoppelt, oder doch noch immer mehr aufleget: wie leider vielmal geſchiehet. 4. Es iſt dieſes eine ſolche apoſtoliſche Er- innerung, welche ſonderlich die Regenten und Herrſchaften angehet. O wie wenige unter ihnen dencken daran: ſondern die allermeiſten ſind vielmehr darauf bedacht, wie ſie ihren Un- terthanen und Bedienten nur die Laſten haͤuffen moͤgen: vergeſſen demnach gar, daß ſie auch Menſchen, geſchweige Chriſten ſind, und der HErr JEſus geſaget habe: Was ihr wollet, daß euch die Leute thun ſollen, das thut ih- nen auch. Matth. 7, 12. 5. Es muß aber auch niemand dieſe Er- mahnung Pauli alſo mißbrauchen, daß er ge- dencken wolte: andere ſind ſchuldig meine Laſt zu tragen, darum will ich der Laſten nur viel ma- chen, damit ſie mir etwas abzunehmen haben. Denn das waͤre ein Zeichen eines ſehr boshafti- gen Gemuͤthes. Welches mit ſolchem Miß- brauche der Liebe des Nechſten denn auch leicht- lich verurſachen kan, daß andere daruͤber muͤde werden, und ihn unter ſeiner Laſt endlich liegen laſſen. 6. Chriſti Geſetz iſt daſſelbe Geſetz, wel- ches durch den Dienſt Moſis dem Volcke Jſrael gegeben worden: wie denn, was Paulus alhier von der Liebe des Nechſten ſaget, uns im Geſetz Moſis geboten iſt 3 B. M. 19, 18. auch was die Liebe gegen die Feinde betrifft. 2 B. M. 13, 4. 5. Matth. 22, 37. ſeqq. Wie denn auch im gan- tzen neuen Teſtamente nicht ein eintziges Gebot zu finden iſt, welches nicht entweder ausdruͤck- lich, oder doch dem Sinne nach, in dem alten und eintzigen Geſetze enthalten ſey. 7. Es irren demnach die Socinianer, theils auch die Papiſten, gar ſehr, wenn ſie Chriſtum zum neuen Geſetzgeber machen, welcher ein voll- kommeneres Geſetz gegeben habe: da doch jenes ſo vollkommen iſt, als es nur immer ſeyn koͤnnen: als welches erfodert, daß der Menſch mit voll- kommner Liebe gegen GOtt, auch mit wohlge- ordneter Liebe gegen ſich ſelbſt und ſeinen Nech- ſten ohne alle Suͤnde, oder ſuͤndliche Luſt erfuͤllet ſeyn ſoll. Matth. 22, 37. ſqq Rom. 7, 7. 15. ſintemal der Menſch alſo erſchaffen worden iſt. 8. Es iſt auch daraus offenbar, daß Chri- ſtus kein neues Geſetze gegeben habe, weil er ſelbſt der Urheber iſt des alten Moſaiſchen Geſe- tzes. Sintemal er als der Engel des HErrn, oder der damals noch zukuͤnftige Meßias, Moſen zum Pharao ſchickte und durch ihn unter groſſen Wunder-Thaten der Straf-Gerichte das Volck Jſrael aus Aegypten u. duꝛchs rothe Meer fuͤhrete, auch in der Wuͤſten mit Brodt und Waſſer ver- ſorgete, und allewege in der Wolcken-Seule vor ihnen herzog; und, als er ſie an den Berg Sinai gebracht hatte, ſich in dieſer Seule da hinauf zog, und von dannen aus derſelben mit groſſer Majeſtaͤt das Geſetz gab 2 B. M. 3. 12. 13. 14. 17. 19. 20. Und in derſelben wird er auch wie- der kommen zum Gerichte, und, daß er der rech- te legislator, oder der erſte Geſetzgeber mit dem Vater und dem H. Geiſt geweſen, mit der ge- richtlichen execution genugſam erweiſen. 8. Es
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Cap. 6, 2. an die Galater.
ſich in ſeinem Gemuͤthe an des verirreten oder
gefallenen Nechſten ſeine Stelle ſetzet, und ſich
ſelbſt fraget: Siehe, wenn du der und der waͤ-
reſt, und dich ſo und ſo verhalten haͤtteſt; wie
wolteſt du, daß andere ſich gegen dich bezeigen ſol-
ten? Gewiß auf dieſe Art wird man auf man-
ches kommen, daran man ſonſt ſo leicht nicht
wuͤrde gedacht haben: inſonderheit wird man
ſich huͤten, daß man des Nechſten Fehler und
Gebrechen nicht groͤſſer mache als ſie ſind, viel-
weniger ihn deßwegen haſſe, ſondern in ſo viel
mehrere Erbarmung eingehe, und jene aufs
gelindeſte auslege, und ſie in der Hoffnung der
Liebe mehr einer Unwiſſenheit, Unbedachtſam-
keit und Ubereilung, als einem Vorſatze und Fre-
vel, zuſchreibe.
V. 2.
Einer trage (mit williger und geduldiger
Ubernehmung, als ſeine eigene) des andern
Laſt (ſie ſey eine ſuͤndliche, oder von einer ande-
ren ſolchen Beſchaffenheit, dadurch er einem
laͤſtig wird) ſo werdet ihr das Geſetz Chriſti
(das von Chriſto aufs neue ſehr eingeſchaͤrfte und
erneuerte Geſetz der Liebe, welches alle Pflich-
ten des Chriſtenthums in ſich faſſet Joh. 13, 34.
35. 15, 12. 1 Joh. 2, 6.) erfuͤllen (obgleich
nicht vollkoͤmmlich, doch wahrhaftig und auf-
richtig: obgleich nicht nach allen Stuffen, doch
nach allen dazu gehoͤrigen Stuͤcken: ſintemal die
Liebe des Geſetzes Erfuͤllung iſt. Gr. καὶ οὕτως
ἀναπληρώσατε, und alſo erfuͤllet das Geſetz
Chriſti.)
Anmerckungen.
1. Von einem andern Erbauung und Huͤl-
fe haben, iſt erquicklich und angenehm; hinge-
gen an ihm Aergerniſſe und ein ſuͤndliches, un-
lauteres, und unordentliches Weſen ſehen, iſt
einem laͤſtig und beſchwerlich. Da man ſich
nun natuͤrlicher Weiſe gern einer Laſt entziehet,
ſo ſoll man ſie dagegen gern uͤber ſich nehmen.
Siehe 2 B. Moſ. 23, 6. da uns ſo gar die Liebe
gegen unſers Nechſten Eſel oder Vieh angewie-
ſen wird, daß wir daſſelbe unter der Laſt nicht
ſollen erliegen laſſen.
2. Des Nechſten Laſt beſtehet aber nicht
allein in ſuͤndlichen Schwachheiten, ſondern
auch ſonſt in natuͤrlichen Maͤngeln und Ge-
brechen, als Kranckheit, Armuth, allerley
Leiden und ſchwere Arbeit; darinnen man ſich
deſſelben, als ein Mitglied anzunehmen hat.
Es hat mancher auch von Natur ſeinem Tempe-
ramente nach etwas an ſich, das dem andern zur
Laſt wird, z. e. die Hitze und der Zorn einem
kaltſinnigen und langſamen; hingegen die
Kaltſinnigkeit und eine langſame Traͤgheit
einem hitzigen und muntern Menſchen. Da
denn immer einer an dem andern etwas zu tra-
gen hat, und keiner mit Recht fodern kan, daß
der andere ſeyn ſoll wie er; ſondern ein ieder hat
dahin zu ſehen, daß er ſeine natuͤrliche Conſtitution
durch die Gnade reinigen und heiligen laſſe.
3. Jſt es unverantwortlich, einem ſeine
Laſt nicht helfen ertragen: wie unchriſtlich muß
es denn nicht ſeyn, wenn man einem die Laſten
verdoppelt, oder doch noch immer mehr aufleget:
wie leider vielmal geſchiehet.
4. Es iſt dieſes eine ſolche apoſtoliſche Er-
innerung, welche ſonderlich die Regenten und
Herrſchaften angehet. O wie wenige unter
ihnen dencken daran: ſondern die allermeiſten
ſind vielmehr darauf bedacht, wie ſie ihren Un-
terthanen und Bedienten nur die Laſten haͤuffen
moͤgen: vergeſſen demnach gar, daß ſie auch
Menſchen, geſchweige Chriſten ſind, und der
HErr JEſus geſaget habe: Was ihr wollet,
daß euch die Leute thun ſollen, das thut ih-
nen auch. Matth. 7, 12.
5. Es muß aber auch niemand dieſe Er-
mahnung Pauli alſo mißbrauchen, daß er ge-
dencken wolte: andere ſind ſchuldig meine Laſt
zu tragen, darum will ich der Laſten nur viel ma-
chen, damit ſie mir etwas abzunehmen haben.
Denn das waͤre ein Zeichen eines ſehr boshafti-
gen Gemuͤthes. Welches mit ſolchem Miß-
brauche der Liebe des Nechſten denn auch leicht-
lich verurſachen kan, daß andere daruͤber muͤde
werden, und ihn unter ſeiner Laſt endlich liegen
laſſen.
6. Chriſti Geſetz iſt daſſelbe Geſetz, wel-
ches durch den Dienſt Moſis dem Volcke Jſrael
gegeben worden: wie denn, was Paulus alhier
von der Liebe des Nechſten ſaget, uns im Geſetz
Moſis geboten iſt 3 B. M. 19, 18. auch was die
Liebe gegen die Feinde betrifft. 2 B. M. 13, 4. 5.
Matth. 22, 37. ſeqq. Wie denn auch im gan-
tzen neuen Teſtamente nicht ein eintziges Gebot
zu finden iſt, welches nicht entweder ausdruͤck-
lich, oder doch dem Sinne nach, in dem alten
und eintzigen Geſetze enthalten ſey.
7. Es irren demnach die Socinianer, theils
auch die Papiſten, gar ſehr, wenn ſie Chriſtum
zum neuen Geſetzgeber machen, welcher ein voll-
kommeneres Geſetz gegeben habe: da doch jenes
ſo vollkommen iſt, als es nur immer ſeyn koͤnnen:
als welches erfodert, daß der Menſch mit voll-
kommner Liebe gegen GOtt, auch mit wohlge-
ordneter Liebe gegen ſich ſelbſt und ſeinen Nech-
ſten ohne alle Suͤnde, oder ſuͤndliche Luſt erfuͤllet
ſeyn ſoll. Matth. 22, 37. ſqq Rom. 7, 7. 15.
ſintemal der Menſch alſo erſchaffen worden iſt.
8. Es iſt auch daraus offenbar, daß Chri-
ſtus kein neues Geſetze gegeben habe, weil er
ſelbſt der Urheber iſt des alten Moſaiſchen Geſe-
tzes. Sintemal er als der Engel des HErrn,
oder der damals noch zukuͤnftige Meßias, Moſen
zum Pharao ſchickte und durch ihn unter groſſen
Wunder-Thaten der Straf-Gerichte das Volck
Jſrael aus Aegypten u. duꝛchs rothe Meer fuͤhrete,
auch in der Wuͤſten mit Brodt und Waſſer ver-
ſorgete, und allewege in der Wolcken-Seule vor
ihnen herzog; und, als er ſie an den Berg Sinai
gebracht hatte, ſich in dieſer Seule da hinauf
zog, und von dannen aus derſelben mit groſſer
Majeſtaͤt das Geſetz gab 2 B. M. 3. 12. 13. 14.
17. 19. 20. Und in derſelben wird er auch wie-
der kommen zum Gerichte, und, daß er der rech-
te legislator, oder der erſte Geſetzgeber mit dem
Vater und dem H. Geiſt geweſen, mit der ge-
richtlichen execution genugſam erweiſen.
8. Es
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