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Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729.

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Erklärung des Briefs Pauli Cap. 9, v. 1-3.
Das neunte Capitel.
Darinnen Paulus/ nach bezeugter seiner hertzlichen Liebe
gegen die Jüdische Nation, mit Anzeigung des grossen Unterscheides
zwischen den rechten/ oder gläubigen/ und unrechten/ oder ungläubi-
gen/ Juden vorstellet/ woher der meisten Juden Verwerfung entstan-
den sey/ nemlich von der von ihnen geschehenen Verwerfung der Glau-
bens-Gerechtigkeit/ und von dem vergeblichen Gesuche der eignen Ge-
rechtigkeit aus dem Gehorsam nach dem Gesetze: Da denn nachdrück-
lich gezeiget wird/ wie daß sich GOtt in seinem freyen und zugleich wei-
sen Fürsatze/ die Menschen nicht aus eignem Verdienste/ welches sie
auch nicht haben/ sondern aus lauter Gnad in Christo/ selig zu
machen/ nicht vorschreiben/ noch davon ab-
bringen lasse.
V. 1.
[Spaltenumbruch]

JCh sage die Wahrheit in Chri-
sto und lüge nicht, deß mir
Zeugniß giebt mein Gewissen
im Heiligen Geist
(eine sehr
nachdrückliche Versicherung von
der bezeugeten Wahrheit in dem, was nachfol-
get. Es hat erstlich an sich schon einen grossen
Nachdruck, daß Paulus spricht: Jch sage die
Wahrheit und lüge nicht.
Und dazu bezie-
het er sich auf den höchsten und allwissenden Zeu-
gen, auch gewissen Rächer alles falschen Zeug-
nisses, auf JEsum Christum, den Richter
der Lebendigen und der Todten, in dessen Ge-
meinschaft er stehe. So berufet er sich auch auf
sein Gewissen; und zwar nicht schlechthin, son-
dern mit Anziehung des Heiligen Geistes, wie
ihn derselbe, dieses zu schreiben, sonderlich an-
treibe, und in der Bejahung ausser allem Zwei-
fel gesetzet habe. Mehrere dergleichen Bezeu-
gungen, davon diese doch aber die allernach-
drücklichste ist, siehet der Leser Rom. 1, 9. 2 Cor.
1, 23. Gal. 1, 20. Phil. 1, 8. 1 Thess. 2, 5.
1 Tim. 2, 7.)

V. 2.

Daß ich grosse Traurigkeit und
Schmertzen ohne Unterlaß in meinem
Hertzen habe
(nemlich über den so gar grossen
Verfall und jämmerlichen Zustand des Jüdischen
Volcks. Diß ist die Sache, welche Paulus so
hoch betheuret. Und das war nöthig. Denn
weil er das Judenthum, so fern es zum Anti-
christenthum worden war, verlassen hatte, er auch
von den Juden allenthalben sehr gehasset und
verfolget wurde, und sehen muste, wie sich nir-
gends einige Art auch sonst verkehrter und ver-
blendeter Leute seinem Evangelio von JEsu
Christo heftiger widersetzte, als die Jüdische
Nation, was den grössesten Haufen betraf: so
konte es bey ihnen, auch andern nicht wohl un-
terrichteten, das Ansehen haben, als stehe er in
einem grossen Hasse gegen die Jüden, und schrei-
be das, was von ihrer Verwerfung folget, nur
[Spaltenumbruch] aus einem rachgierigen und feindseligen Hertzen
wider sie. Wider solchen bösen Argwohn ver-
wahret sich hiemit der Apostel; zumal, da er
wohl wuste, daß zu Rom viele noch unbekehrte
Juden waren, und ihnen, wie auch nach gesche-
hener Communication, andern anderer Orten,
dieser Brief würde in die Hände kommen; und
er, um einigen Eingang bey ihnen zu haben, sie
gern von seiner recht hertzlichen Liebe überzeuget
wissen wolte. Daher er auch c. 10, 1. saget:
Lieben Brüder, meines Hertzens Wunsch
ist, und flehe auch GOtt für Jsrael, daß
sie selig werden.
Zu welchem hohen Grad
aber seine Liebe gegen sie gestiegen, drucket er v. 3.
aus, wie folget.

V. 3.

Jch habe gewünschet verbannet zu
seyn, von Christo für meine Brüder, die
meine Gefreundte sind nach dem Fleisch.

Anmerckungen.
1. Wenn man diese Worte von der Aus-
schliessung aus der seligen Gemeinschaft mit
Christo verstehen will, also, daß Paulus aus
gar besonderer Liebe zu Christo und den Jüden
wol gar mit Verlust seines eigenen Heils, die
Seligkeit so vieler tausend Jüden zu desto meh-
rern Verherrlichung des Namens JEsu beför-
dert sehen wollen; so hat man dabey zu mercken:
daß Paulus nicht saget eukhomai, ich wünsche,
wie man sonst einen völligen Wunsch, der noch
nicht erfüllet ist, auszudrucken pfleget: sondern
in perfecto: eukhomen, welches bey den Griechen
zuweilen die significationem modi potentialis
hat; also, daß es so viel ist, als eukhime[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]n, opta-
rem,
ich wünschte wol, ich möchte wol
wünschen:
wie man saget, wenn man auch
schon weiß, daß die Erfüllung und also der
Wunsch selbst nicht statt findet. Wie wir et-
was dergleichen an David sehen, da er, als er
von dem Tode seines so widerspenstigen Sohns,
des Absoloms, hörete, vor grosser Liebe sagte:
Wolte
Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 9, v. 1-3.
Das neunte Capitel.
Darinnen Paulus/ nach bezeugter ſeiner hertzlichen Liebe
gegen die Juͤdiſche Nation, mit Anzeigung des groſſen Unterſcheides
zwiſchen den rechten/ oder glaͤubigen/ und unrechten/ oder unglaͤubi-
gen/ Juden vorſtellet/ woher der meiſten Juden Verwerfung entſtan-
den ſey/ nemlich von der von ihnen geſchehenen Verwerfung der Glau-
bens-Gerechtigkeit/ und von dem vergeblichen Geſuche der eignen Ge-
rechtigkeit aus dem Gehorſam nach dem Geſetze: Da denn nachdruͤck-
lich gezeiget wird/ wie daß ſich GOtt in ſeinem freyen und zugleich wei-
ſen Fuͤrſatze/ die Menſchen nicht aus eignem Verdienſte/ welches ſie
auch nicht haben/ ſondern aus lauter Gnad in Chriſto/ ſelig zu
machen/ nicht vorſchreiben/ noch davon ab-
bringen laſſe.
V. 1.
[Spaltenumbruch]

JCh ſage die Wahrheit in Chri-
ſto und luͤge nicht, deß mir
Zeugniß giebt mein Gewiſſen
im Heiligen Geiſt
(eine ſehr
nachdruͤckliche Verſicherung von
der bezeugeten Wahrheit in dem, was nachfol-
get. Es hat erſtlich an ſich ſchon einen groſſen
Nachdruck, daß Paulus ſpricht: Jch ſage die
Wahrheit und luͤge nicht.
Und dazu bezie-
het er ſich auf den hoͤchſten und allwiſſenden Zeu-
gen, auch gewiſſen Raͤcher alles falſchen Zeug-
niſſes, auf JEſum Chriſtum, den Richter
der Lebendigen und der Todten, in deſſen Ge-
meinſchaft er ſtehe. So berufet er ſich auch auf
ſein Gewiſſen; und zwar nicht ſchlechthin, ſon-
dern mit Anziehung des Heiligen Geiſtes, wie
ihn derſelbe, dieſes zu ſchreiben, ſonderlich an-
treibe, und in der Bejahung auſſer allem Zwei-
fel geſetzet habe. Mehrere dergleichen Bezeu-
gungen, davon dieſe doch aber die allernach-
druͤcklichſte iſt, ſiehet der Leſer Rom. 1, 9. 2 Cor.
1, 23. Gal. 1, 20. Phil. 1, 8. 1 Theſſ. 2, 5.
1 Tim. 2, 7.)

V. 2.

Daß ich groſſe Traurigkeit und
Schmertzen ohne Unterlaß in meinem
Hertzen habe
(nemlich uͤber den ſo gar groſſen
Verfall und jaͤmmerlichen Zuſtand des Juͤdiſchen
Volcks. Diß iſt die Sache, welche Paulus ſo
hoch betheuret. Und das war noͤthig. Denn
weil er das Judenthum, ſo fern es zum Anti-
chriſtenthum worden war, verlaſſen hatte, er auch
von den Juden allenthalben ſehr gehaſſet und
verfolget wurde, und ſehen muſte, wie ſich nir-
gends einige Art auch ſonſt verkehrter und ver-
blendeter Leute ſeinem Evangelio von JEſu
Chriſto heftiger widerſetzte, als die Juͤdiſche
Nation, was den groͤſſeſten Haufen betraf: ſo
konte es bey ihnen, auch andern nicht wohl un-
terrichteten, das Anſehen haben, als ſtehe er in
einem groſſen Haſſe gegen die Juͤden, und ſchrei-
be das, was von ihrer Verwerfung folget, nur
[Spaltenumbruch] aus einem rachgierigen und feindſeligen Hertzen
wider ſie. Wider ſolchen boͤſen Argwohn ver-
wahret ſich hiemit der Apoſtel; zumal, da er
wohl wuſte, daß zu Rom viele noch unbekehrte
Juden waren, und ihnen, wie auch nach geſche-
hener Communication, andern anderer Orten,
dieſer Brief wuͤrde in die Haͤnde kommen; und
er, um einigen Eingang bey ihnen zu haben, ſie
gern von ſeiner recht hertzlichen Liebe uͤberzeuget
wiſſen wolte. Daher er auch c. 10, 1. ſaget:
Lieben Bruͤder, meines Hertzens Wunſch
iſt, und flehe auch GOtt fuͤr Jſrael, daß
ſie ſelig werden.
Zu welchem hohen Grad
aber ſeine Liebe gegen ſie geſtiegen, drucket er v. 3.
aus, wie folget.

V. 3.

Jch habe gewuͤnſchet verbannet zu
ſeyn, von Chriſto fuͤr meine Bruͤder, die
meine Gefreundte ſind nach dem Fleiſch.

Anmerckungen.
1. Wenn man dieſe Worte von der Aus-
ſchlieſſung aus der ſeligen Gemeinſchaft mit
Chriſto verſtehen will, alſo, daß Paulus aus
gar beſonderer Liebe zu Chriſto und den Juͤden
wol gar mit Verluſt ſeines eigenen Heils, die
Seligkeit ſo vieler tauſend Juͤden zu deſto meh-
rern Verherrlichung des Namens JEſu befoͤr-
dert ſehen wollen; ſo hat man dabey zu mercken:
daß Paulus nicht ſaget ἐύχομαι, ich wuͤnſche,
wie man ſonſt einen voͤlligen Wunſch, der noch
nicht erfuͤllet iſt, auszudrucken pfleget: ſondern
in perfecto: ἠυχόμην, welches bey den Griechen
zuweilen die ſignificationem modi potentialis
hat; alſo, daß es ſo viel iſt, als ἐυχίμη[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]ν, opta-
rem,
ich wuͤnſchte wol, ich moͤchte wol
wuͤnſchen:
wie man ſaget, wenn man auch
ſchon weiß, daß die Erfuͤllung und alſo der
Wunſch ſelbſt nicht ſtatt findet. Wie wir et-
was dergleichen an David ſehen, da er, als er
von dem Tode ſeines ſo widerſpenſtigen Sohns,
des Abſoloms, hoͤrete, vor groſſer Liebe ſagte:
Wolte
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[112/0140] Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 9, v. 1-3. Das neunte Capitel. Darinnen Paulus/ nach bezeugter ſeiner hertzlichen Liebe gegen die Juͤdiſche Nation, mit Anzeigung des groſſen Unterſcheides zwiſchen den rechten/ oder glaͤubigen/ und unrechten/ oder unglaͤubi- gen/ Juden vorſtellet/ woher der meiſten Juden Verwerfung entſtan- den ſey/ nemlich von der von ihnen geſchehenen Verwerfung der Glau- bens-Gerechtigkeit/ und von dem vergeblichen Geſuche der eignen Ge- rechtigkeit aus dem Gehorſam nach dem Geſetze: Da denn nachdruͤck- lich gezeiget wird/ wie daß ſich GOtt in ſeinem freyen und zugleich wei- ſen Fuͤrſatze/ die Menſchen nicht aus eignem Verdienſte/ welches ſie auch nicht haben/ ſondern aus lauter Gnad in Chriſto/ ſelig zu machen/ nicht vorſchreiben/ noch davon ab- bringen laſſe. V. 1. JCh ſage die Wahrheit in Chri- ſto und luͤge nicht, deß mir Zeugniß giebt mein Gewiſſen im Heiligen Geiſt (eine ſehr nachdruͤckliche Verſicherung von der bezeugeten Wahrheit in dem, was nachfol- get. Es hat erſtlich an ſich ſchon einen groſſen Nachdruck, daß Paulus ſpricht: Jch ſage die Wahrheit und luͤge nicht. Und dazu bezie- het er ſich auf den hoͤchſten und allwiſſenden Zeu- gen, auch gewiſſen Raͤcher alles falſchen Zeug- niſſes, auf JEſum Chriſtum, den Richter der Lebendigen und der Todten, in deſſen Ge- meinſchaft er ſtehe. So berufet er ſich auch auf ſein Gewiſſen; und zwar nicht ſchlechthin, ſon- dern mit Anziehung des Heiligen Geiſtes, wie ihn derſelbe, dieſes zu ſchreiben, ſonderlich an- treibe, und in der Bejahung auſſer allem Zwei- fel geſetzet habe. Mehrere dergleichen Bezeu- gungen, davon dieſe doch aber die allernach- druͤcklichſte iſt, ſiehet der Leſer Rom. 1, 9. 2 Cor. 1, 23. Gal. 1, 20. Phil. 1, 8. 1 Theſſ. 2, 5. 1 Tim. 2, 7.) V. 2. Daß ich groſſe Traurigkeit und Schmertzen ohne Unterlaß in meinem Hertzen habe (nemlich uͤber den ſo gar groſſen Verfall und jaͤmmerlichen Zuſtand des Juͤdiſchen Volcks. Diß iſt die Sache, welche Paulus ſo hoch betheuret. Und das war noͤthig. Denn weil er das Judenthum, ſo fern es zum Anti- chriſtenthum worden war, verlaſſen hatte, er auch von den Juden allenthalben ſehr gehaſſet und verfolget wurde, und ſehen muſte, wie ſich nir- gends einige Art auch ſonſt verkehrter und ver- blendeter Leute ſeinem Evangelio von JEſu Chriſto heftiger widerſetzte, als die Juͤdiſche Nation, was den groͤſſeſten Haufen betraf: ſo konte es bey ihnen, auch andern nicht wohl un- terrichteten, das Anſehen haben, als ſtehe er in einem groſſen Haſſe gegen die Juͤden, und ſchrei- be das, was von ihrer Verwerfung folget, nur aus einem rachgierigen und feindſeligen Hertzen wider ſie. Wider ſolchen boͤſen Argwohn ver- wahret ſich hiemit der Apoſtel; zumal, da er wohl wuſte, daß zu Rom viele noch unbekehrte Juden waren, und ihnen, wie auch nach geſche- hener Communication, andern anderer Orten, dieſer Brief wuͤrde in die Haͤnde kommen; und er, um einigen Eingang bey ihnen zu haben, ſie gern von ſeiner recht hertzlichen Liebe uͤberzeuget wiſſen wolte. Daher er auch c. 10, 1. ſaget: Lieben Bruͤder, meines Hertzens Wunſch iſt, und flehe auch GOtt fuͤr Jſrael, daß ſie ſelig werden. Zu welchem hohen Grad aber ſeine Liebe gegen ſie geſtiegen, drucket er v. 3. aus, wie folget. V. 3. Jch habe gewuͤnſchet verbannet zu ſeyn, von Chriſto fuͤr meine Bruͤder, die meine Gefreundte ſind nach dem Fleiſch. Anmerckungen. 1. Wenn man dieſe Worte von der Aus- ſchlieſſung aus der ſeligen Gemeinſchaft mit Chriſto verſtehen will, alſo, daß Paulus aus gar beſonderer Liebe zu Chriſto und den Juͤden wol gar mit Verluſt ſeines eigenen Heils, die Seligkeit ſo vieler tauſend Juͤden zu deſto meh- rern Verherrlichung des Namens JEſu befoͤr- dert ſehen wollen; ſo hat man dabey zu mercken: daß Paulus nicht ſaget ἐύχομαι, ich wuͤnſche, wie man ſonſt einen voͤlligen Wunſch, der noch nicht erfuͤllet iſt, auszudrucken pfleget: ſondern in perfecto: ἠυχόμην, welches bey den Griechen zuweilen die ſignificationem modi potentialis hat; alſo, daß es ſo viel iſt, als ἐυχίμη_ ν, opta- rem, ich wuͤnſchte wol, ich moͤchte wol wuͤnſchen: wie man ſaget, wenn man auch ſchon weiß, daß die Erfuͤllung und alſo der Wunſch ſelbſt nicht ſtatt findet. Wie wir et- was dergleichen an David ſehen, da er, als er von dem Tode ſeines ſo widerſpenſtigen Sohns, des Abſoloms, hoͤrete, vor groſſer Liebe ſagte: Wolte

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Zitationshilfe: Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht01_1729/140>, abgerufen am 23.11.2024.