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Lange, Helene: Das Endziel der Frauenbewegung. Berlin, 1904.

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eigenen Bedingungen stellt. Es wäre ungeschichtlich gedacht, wenn
man in ihrem kecken und klugen Vorbeugen gegen ihr wohlbekannte
Gefahren eine bewußte Kritik an den Einrichtungen sehen wollte, die
die Lage ihres Geschlechtes bestimmten. Zu einer solchen Kritik fehlen,
wie schon gesagt, dem Mittelalter die geistigen Vorbedingungen.



Worin bestehen diese geistigen Vorbedingungen, und wie kam
es dazu, daß sie auf die Auffassung der Frauenfrage einwirkten?

Das kann uns erst klar werden, wenn wir die Frauenbewegung
im Zusammenhang der menschlichen Geistesgeschichte betrachten,
wenn wir festzustellen suchen, wie die Frauenfrage sich hineinschob
in die Reihe der großen Probleme, die das menschliche Denken im
Lauf seiner notwendigen Entwicklung nacheinander aufgeworfen und
zu bewältigen gesucht hat.

Bei dem ersten Schritt von dem naiven, dumpfen Hinnehmen
der gegebenen Verhältnisse und Lebensumstände zu einem kritischen
Erfassen der Wirklichkeit wandte sich die Reflexion zunächst den
weitesten, allgemeinsten Fragen zu: den letzten Ursachen der Er-
scheinungswelt, dem Zusammenhang der kosmischen Vorgänge.

Der zweite Schritt führte dann dazu, die historisch gewordenen
Formen des Gemeinschaftslebens, die ihrer Natur nach so viel
komplizierter, regelloser und willkürlicher zu sein schienen, durch das
Denken ordnenden Prinzipien zu unterwerfen. Vor diesem Schritt,
den Plato für die Antike getan hat, bleibt der Mensch des Mittelalters
stehen. Er vermag noch nicht den Gegensatz von Jndividuum und
Gesellschaft zu erfassen, er gelangt noch nicht zu einem Standpunkt,
von dem aus die Frage nach der Vernunftgemäßheit der gesellschaft-
lichen Einrichtungen gestellt werden kann, die Frage: leistet die Gesell-
schaft in ihrer augenblicklichen Verfassung dem einzelnen, was er
beanspruchen darf, und wie müßte sie beschaffen sein, damit dies
geleistet wird? Erst die Renaissance hat diese Frage von neuem -
für die germanischen Völker zum erstenmal - gestellt, und die französische
Revolution ist der große Protest des zur Kritik erwachten bürgerlichen
Bewußtseins gegen staatliche Einrichtungen, die ihren Wert vor dieser
Kritik nicht zu erweisen vermochten.

eigenen Bedingungen stellt. Es wäre ungeschichtlich gedacht, wenn
man in ihrem kecken und klugen Vorbeugen gegen ihr wohlbekannte
Gefahren eine bewußte Kritik an den Einrichtungen sehen wollte, die
die Lage ihres Geschlechtes bestimmten. Zu einer solchen Kritik fehlen,
wie schon gesagt, dem Mittelalter die geistigen Vorbedingungen.



Worin bestehen diese geistigen Vorbedingungen, und wie kam
es dazu, daß sie auf die Auffassung der Frauenfrage einwirkten?

Das kann uns erst klar werden, wenn wir die Frauenbewegung
im Zusammenhang der menschlichen Geistesgeschichte betrachten,
wenn wir festzustellen suchen, wie die Frauenfrage sich hineinschob
in die Reihe der großen Probleme, die das menschliche Denken im
Lauf seiner notwendigen Entwicklung nacheinander aufgeworfen und
zu bewältigen gesucht hat.

Bei dem ersten Schritt von dem naiven, dumpfen Hinnehmen
der gegebenen Verhältnisse und Lebensumstände zu einem kritischen
Erfassen der Wirklichkeit wandte sich die Reflexion zunächst den
weitesten, allgemeinsten Fragen zu: den letzten Ursachen der Er-
scheinungswelt, dem Zusammenhang der kosmischen Vorgänge.

Der zweite Schritt führte dann dazu, die historisch gewordenen
Formen des Gemeinschaftslebens, die ihrer Natur nach so viel
komplizierter, regelloser und willkürlicher zu sein schienen, durch das
Denken ordnenden Prinzipien zu unterwerfen. Vor diesem Schritt,
den Plato für die Antike getan hat, bleibt der Mensch des Mittelalters
stehen. Er vermag noch nicht den Gegensatz von Jndividuum und
Gesellschaft zu erfassen, er gelangt noch nicht zu einem Standpunkt,
von dem aus die Frage nach der Vernunftgemäßheit der gesellschaft-
lichen Einrichtungen gestellt werden kann, die Frage: leistet die Gesell-
schaft in ihrer augenblicklichen Verfassung dem einzelnen, was er
beanspruchen darf, und wie müßte sie beschaffen sein, damit dies
geleistet wird? Erst die Renaissance hat diese Frage von neuem –
für die germanischen Völker zum erstenmal – gestellt, und die französische
Revolution ist der große Protest des zur Kritik erwachten bürgerlichen
Bewußtseins gegen staatliche Einrichtungen, die ihren Wert vor dieser
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[6/0006] eigenen Bedingungen stellt. Es wäre ungeschichtlich gedacht, wenn man in ihrem kecken und klugen Vorbeugen gegen ihr wohlbekannte Gefahren eine bewußte Kritik an den Einrichtungen sehen wollte, die die Lage ihres Geschlechtes bestimmten. Zu einer solchen Kritik fehlen, wie schon gesagt, dem Mittelalter die geistigen Vorbedingungen. Worin bestehen diese geistigen Vorbedingungen, und wie kam es dazu, daß sie auf die Auffassung der Frauenfrage einwirkten? Das kann uns erst klar werden, wenn wir die Frauenbewegung im Zusammenhang der menschlichen Geistesgeschichte betrachten, wenn wir festzustellen suchen, wie die Frauenfrage sich hineinschob in die Reihe der großen Probleme, die das menschliche Denken im Lauf seiner notwendigen Entwicklung nacheinander aufgeworfen und zu bewältigen gesucht hat. Bei dem ersten Schritt von dem naiven, dumpfen Hinnehmen der gegebenen Verhältnisse und Lebensumstände zu einem kritischen Erfassen der Wirklichkeit wandte sich die Reflexion zunächst den weitesten, allgemeinsten Fragen zu: den letzten Ursachen der Er- scheinungswelt, dem Zusammenhang der kosmischen Vorgänge. Der zweite Schritt führte dann dazu, die historisch gewordenen Formen des Gemeinschaftslebens, die ihrer Natur nach so viel komplizierter, regelloser und willkürlicher zu sein schienen, durch das Denken ordnenden Prinzipien zu unterwerfen. Vor diesem Schritt, den Plato für die Antike getan hat, bleibt der Mensch des Mittelalters stehen. Er vermag noch nicht den Gegensatz von Jndividuum und Gesellschaft zu erfassen, er gelangt noch nicht zu einem Standpunkt, von dem aus die Frage nach der Vernunftgemäßheit der gesellschaft- lichen Einrichtungen gestellt werden kann, die Frage: leistet die Gesell- schaft in ihrer augenblicklichen Verfassung dem einzelnen, was er beanspruchen darf, und wie müßte sie beschaffen sein, damit dies geleistet wird? Erst die Renaissance hat diese Frage von neuem – für die germanischen Völker zum erstenmal – gestellt, und die französische Revolution ist der große Protest des zur Kritik erwachten bürgerlichen Bewußtseins gegen staatliche Einrichtungen, die ihren Wert vor dieser Kritik nicht zu erweisen vermochten.

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Zitationshilfe: Lange, Helene: Das Endziel der Frauenbewegung. Berlin, 1904, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_endziel_1904/6>, abgerufen am 29.03.2024.