Das Endziel
der
Frauenbewegung
Rede
gehalten
auf dem Jnternationalen Frauenkongreß zu Berlin
Von
Helene Lange
Separatabdruck aus der Monatsschrift »Die Frau«
Heft 12. Elfter Jahrgang (1903/1904)
Preis 40 Pfennige
Berlin 1904
W. Moeser Buchdruckerei
Stallschreiberstraße 34. 35
Man hat in den Kreisen der Frauenbewegung selbst in den
letzten Jahren öfter die Ansicht ausgesprochen, daß in der allgemeinen
theoretischen Erörterung der Frauenfrage nun genug geschehen sei,
und daß es jetzt nur darauf ankommen müsse, ihre Spezialgebiete
mit Sachkunde und Energie zu bearbeiten, im einzelnen zu verwirk-
lichen, was man im großen erreichen will. Jn dieser Ansicht liegt
zweifellos ein Stück Wahrheit. Aber sie hat auch ihr Bedenkliches.
Je mehr die Arbeit der Frauenbewegung sich spezialisiert, je mehr
ihre Trägerinnen sich auf Einzelgebiete verteilen, um so größer ist
die Gefahr, daß sie die Fühlung unter einander verlieren, und daß
das, was schließlich im einzelnen geleistet wird, doch dem Ganzen
nicht mehr dient. Darum, meine ich, ist es immer wieder not-
wendig, die breite Fülle unserer Einzelarbeit durch die Jdeen zu-
sammenzufassen, die in der Frauenbewegung einen einheitlichen geschicht-
lichen Werdeprozeß erkennen lassen. Und ein Augenblick, wie der
heutige, da das imposante Bild dieser Leistungen in buntem Wechsel
an uns vorübergezogen ist, legt es uns besonders nahe, ehe wir
uns trennen, noch einmal still zu stehen und zu fragen: Wohin führt
all dies Schaffen und Ringen, was ist das Endziel der Frauen-
bewegung?
Die besonderen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, unter
denen sich die Frauenbewegung bei uns und in manchen anderen
Ländern entwickelt hat, verleiten heute dazu, sie lediglich auf wirtschaft-
liche Ursachen zurückzuführen und sie nur im Zusammenhang mit
diesen Ursachen zu erfassen. Jm Hinblick auf das Endziel der Frauen-
bewegung würde sich aus dieser rein materialistischen Betrachtung
der Schluß ergeben – ein Schluß, der in der Tat vielfach gezogen
wird –, daß mit der wirtschaftlichen Frauennot, gleichviel, wie sie
beseitigt wird, auch Frauenbewegung und Frauenfrage aus der Welt
geschafft wären, eine Auffassung, aus der heraus man sogar das
drastische Mittel der Zwangsheiraten plausibel zu machen gesucht hat.
Diese Auffassung schaltet die geistigen Ursachen der Bewegung
einfach aus. Wie sehr aber diese Ursachen mitgesprochen haben,
weiß jeder, der die Entwicklung der Frauenbewegung aus dem Ge-
dankenkreis ihrer ersten Vertreter und Vertreterinnen bis in die
Gegenwart hinein verfolgt hat. Läßt sich doch überdies geschichtlich
leicht nachweisen, daß ohne diese Ursachen ans der bloßen wirtschaft-
lichen Frauennot keine Frauenbewegung wird.
Jn seiner Studie über die Frauenfrage im Mittelalter weist
einer unserer bedeutendsten Nationalökonomen, Karl Bücher, nach,
daß das deutsche Mittelalter unter einer wirtschaftlichen Frauennot
litt, die viel weitgreifender und trostloser gewesen zu sein scheint,
als die des 19. Jahrhunderts. Jn den Städten, von denen
statistische Angaben erhalten sind, zählte man durchschnittlich
1200 Frauen auf 1000 Männer. Die vielen Unversorgten, Über-
flüssigen aber fanden schon damals nur zum kleinen Teil in der
Hauswirtschaft ein Unterkommen. Die Gewerbe sträubten sich gegen
die weibliche Arbeit. Das Kloster wurde doch nur von verhältnis-
mäßig wenigen Frauen aufgesucht, und dasselbe gilt von den
Beghinenhäusern, einer Art weiblicher Hausgenossenschaft, zu der sich
die notleidenden und heimatlosen Frauen damals zusammenschlossen.
So finden wir denn Tausende von Frauen als „Fahrende“ auf den
Landstraßen oder als die unglücklichen Jnsassen der städtischen Frauen-
häuser. Was sie da hineintrieb, dafür haben wir ein ergreifendes
Zeugnis in der Geschichte jenes Predigers Rudolf, der im 13. Jahr-
hundert sein Leben der Rettungsarbeit unter diesen Unglücklichen
widmete. Es wird uns berichtet, daß sie ihm antworteten: „Herr,
wir sind arm und schwach, wir können uns auf keine andere Weise
ernähren; gebt uns Wasser und Brot, bann wollen wir euch gern
folgen“.
Also eine Frauennot mit all jenen furchtbaren Folgen für
Familie und öffentliche Sittlichkeit – und doch keine Frauen-
bewegung. Es genügt zur Erklärung dieser Tatsache nicht, auf die
Atomisierung der Frauen unter den alten Formen des wirtschaftlichen
und sozialen Lebens hinzuweisen, auf die Schwierigkeit, miteinander
Fühlung zu gewinnen, das Einzelschicksal als ein Massenschicksal
kennen zu lernen, die allgemeinen Ursachen dafür zu suchen und ihnen
gemeinsam entgegenzuarbeiten. Wo es sich um die wirtschaftliche
Notwehr handelt, haben wir ja solche Gemeinschaftsbildungen; aber
niemals geht das, was diese bezwecken, wofür sie unter Umständen
kämpfen, über die wirtschaftliche Notwehr hinaus, niemals erfassen
die Frauen ihre Lage unter dem Gesichtspunkt einer prinzipiellen Kritik
an der Verteilung von Existenzmöglichkeiten und Rechten unter die
Geschlechter, einer Kritik, die notwendig über das wirtschaftliche Ge-
biet hinaus auf andere Lebensverhältnisse hinübergegriffen hätte. Es
fehlt das geistige Moment, das diese rein wirtschaftlichen Kämpfe
erst zur Frauenbewegung im modernen Sinn gemacht hätte.
Und auch das ändert an dieser Tatsache nichts, daß auch in
früheren Jahrhunderten hier und da einmal eine starke weibliche
Jndividualität den für ihr Geschlecht gültigen Normen ihr instinktives
Selbstbewußtsein entgegensetzt. Jch erinnere nur an die hübsche
Hochzeitsszene in dem alten Spielmannsroman von Knodlieb. Der
Bräutigam reicht der Braut auf der Schwertspitze den Ring und
spricht dazu: „Wie der Ring den Finger von allen Seiten umfaßt,
so verpflichte ich dich zu fester und unwandelbarer Treue, die du mir
bewahren mußt oder das Leben lassen.“ Die Braut aber antwortete:
„Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Warum soll ich
dir bessere Treue bewahren als du mir? Adam hatte nur eine
Eva, so soll der Mann nur ein Weib haben. Du läßt dich mit
Buhlerinnen ein und willst doch nicht, daß ich eine sei. Jch werde
mich hüten, auf diese Bedingung einzugehen. Geh', leb' wohl und
sei so liederlich, wie du willst, aber ohne mich.“ Da mußte er
denn wohl nachgeben und sagte: „Wenn ich es jemals wieder tue,
so will ich die Güter verlieren, die ich dir geben werde, und du
sollst Macht haben, mich zu enthaupten.“ – „Unter dieser Be-
dingung“, antwortete sie, „wollen wir uns offen und ehrlich ver-
binden.“
Jst es nicht, als hörten wir Svava in Björnsons „Handschuh“?
Und doch ist hier eine weite Kluft. Denn aus der Frau der Spiel-
mannsdichtung spricht nicht das Geschlecht, sondern die einzelne
Jndividualität, die im Bewußtsein ihres besonderen Wertes ihre
eigenen Bedingungen stellt. Es wäre ungeschichtlich gedacht, wenn
man in ihrem kecken und klugen Vorbeugen gegen ihr wohlbekannte
Gefahren eine bewußte Kritik an den Einrichtungen sehen wollte, die
die Lage ihres Geschlechtes bestimmten. Zu einer solchen Kritik fehlen,
wie schon gesagt, dem Mittelalter die geistigen Vorbedingungen.
Worin bestehen diese geistigen Vorbedingungen, und wie kam
es dazu, daß sie auf die Auffassung der Frauenfrage einwirkten?
Das kann uns erst klar werden, wenn wir die Frauenbewegung
im Zusammenhang der menschlichen Geistesgeschichte betrachten,
wenn wir festzustellen suchen, wie die Frauenfrage sich hineinschob
in die Reihe der großen Probleme, die das menschliche Denken im
Lauf seiner notwendigen Entwicklung nacheinander aufgeworfen und
zu bewältigen gesucht hat.
Bei dem ersten Schritt von dem naiven, dumpfen Hinnehmen
der gegebenen Verhältnisse und Lebensumstände zu einem kritischen
Erfassen der Wirklichkeit wandte sich die Reflexion zunächst den
weitesten, allgemeinsten Fragen zu: den letzten Ursachen der Er-
scheinungswelt, dem Zusammenhang der kosmischen Vorgänge.
Der zweite Schritt führte dann dazu, die historisch gewordenen
Formen des Gemeinschaftslebens, die ihrer Natur nach so viel
komplizierter, regelloser und willkürlicher zu sein schienen, durch das
Denken ordnenden Prinzipien zu unterwerfen. Vor diesem Schritt,
den Plato für die Antike getan hat, bleibt der Mensch des Mittelalters
stehen. Er vermag noch nicht den Gegensatz von Jndividuum und
Gesellschaft zu erfassen, er gelangt noch nicht zu einem Standpunkt,
von dem aus die Frage nach der Vernunftgemäßheit der gesellschaft-
lichen Einrichtungen gestellt werden kann, die Frage: leistet die Gesell-
schaft in ihrer augenblicklichen Verfassung dem einzelnen, was er
beanspruchen darf, und wie müßte sie beschaffen sein, damit dies
geleistet wird? Erst die Renaissance hat diese Frage von neuem –
für die germanischen Völker zum erstenmal – gestellt, und die französische
Revolution ist der große Protest des zur Kritik erwachten bürgerlichen
Bewußtseins gegen staatliche Einrichtungen, die ihren Wert vor dieser
Kritik nicht zu erweisen vermochten.
Und nun erst konnte ein dritter Schritt geschehen. Das denkende
Bewußtsein, das erst das Verhältnis des Menschen zum Kosmos,
dann zu dem engeren Kreis der ihn umgebenden staatlichen Ordnung
betrachtet hatte, wandte sich nun den innersten Beziehungen zu, in
denen der Mensch sich fand: dem Verhältnis der Geschlechter innerhalb
der sozialen Ordnung.
Es ist natürlich, daß dieses erst auf einer späten Entwicklungsstufe
des menschlichen Denkens zum Problem werden konnte. Hier schien
durch die Natur selbst alles so durchaus bestimmt. Das Jnstinkt-
leben, das persönliche Empfinden hatte an diesen ursprünglichsten
sozialen Beziehungen einen so entscheidenden Anteil, daß sie sich als
Problem des Denkens zunächst gar nicht darboten. Und vor allem,
das praktische Jnteresse, das der stärkste Antrieb zur Kritik der staat-
lichen Ordnung gewesen war, das Gefühl der Unbefriedigung, sprach
bei dem, der bis dahin allein den Träger des denkenden Bewußt-
seins darstellte, beim Mann nicht mit. Er empfand sein Verhältnis
zur Frau als so durchaus befriedigend, daß ihm nicht im ent-
ferntesten der Gedanke aufsteigen konnte, auch hier sei ein Problem,
auch hier etwas, was einer Kritik nach den neu gewonnenen sozial-
ethischen Maßstäben nicht stand hielt. Und so stellt denn auch Rousseau,
als er seinen Staatsbau nach Vernunftprinzipien aufführt, das Ver-
hältnis der Geschlechter einfach unter die Formel: La femme est
faite spécialement pour plaire á l'homme. Daß diese Formel mit
den Grundlagen seiner Gesellschaftstheorie in klaffendem Widerspruch
steht, übersieht er. Mit dem Jnstinkt des Besitzenden hält er seine
Prinzipien von diesem Gebiet fern. Nur die Frauen selbst konnten
sie auf ihre eigene Stellung in der Gesellschaft anwenden. Denn nur
für sie bedeutete das herrschende System, wie für den tiers état
im Staat, Druck und Einengung. Von ihrer Seite mußte die Kritik
einsetzen. Mary Wolstonecraft tat diesen Schritt mit den Waffen
des Jean Jacques selbst. Aus seinen Voraussetzungen zog sie die
Schlüsse für ihr eigenes Geschlecht.
Fassen wir nun zusammen, was diese Betrachtungen klar gemacht
haben: Jm Mittelalter haben wir Frauenfrage und Frauennot, aber
keine Frauenbewegung, weil der geistige Unterbau dafür noch nicht
vorhanden ist, weil dem menschlichen Denken auf seinem Wege von
außen nach innen die gesellschaftliche Stellung der Geschlechter zu-
einander noch nicht zum Problem geworden war. Wir haben eine
Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, weil diese Vorbedingungen jetzt
erfüllt sind, weil aus der vorangegangenen Kritik der Gesellschaft die
Maßstäbe für die moderne Gestaltung der Frauenfrage gewonnen sind.
Jn der Formulierung des 19. Jahrhunderts heißt nun die Frauen-
frage nicht: wie sind diese oder jene Gruppen von Frauen, die
unsere wirtschaftlichen Verhältnisse um ihre Existenzmöglichkeiten ge-
bracht haben, zu versorgen? sondern: wie ist die Lage der Frau in
ihren wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen in Einklang zu bringen
mit dem Selbstbewußtsein der vollgiltigen sittlichen Persönlichkeit, das
den eigentlichen Jnhalt der Menschenwürde ausmacht?
Die Frauen der Revolution, wie Olympe de Gouges und Mary
Wolstonecraft, die in der Sprache der Zeit die „Menschenrechte“ für
die Frau forderten, dachten sich die Erfüllung ihrer Forderung leicht.
Brauchte doch der Mann nur die Rechte, die er selbst errang, auch
der Frau zu gewähren. Was dieser begrifflich so leicht aufzustellenden
Lösung tatsächlich im Wege stand, war jenen Jdealistinnen nicht klar.
Es lag in dem, was Burke damals der aus die Menschenrechte
gerichteten Geistesbewegung entgegenhielt: daß die gesellschaftliche
Ordnung nicht allein auf die Vernunft gegründet werden müsse,
sondern auf die menschliche Natur, von der die Vernunft nur
ein sehr kleiner Teil sei. Und wenn irgend eine soziale Reform
mit der Natur des Menschen zu rechnen hatte, so war es diese, die
in die persönlichsten, mit dem Jnstinktleben am engsten verbundenen
menschlichen Beziehungen eingreifen mußte. Und eben hier lagen die
stärksten widerstrebenden Mächte. Gewiß war der Gedanke sehr plausibel,
daß der Mann die Frau zur gleichberechtigten Bürgerin machen
könne, wenn er nur wolle. Aber es gehörte mehr geschichtlicher
Sinn dazu, als jene Zeit besaß, um zu begreifen, daß er es noch
gar nicht wollen konnte.
Jahrhunderte hindurch hatte die geistige Persönlichkeit der Frau –
immer von einzelnen feinen und hochstehenden Naturen abgesehen –
für den Mann keine entscheidende Rolle gespielt. Sein persönliches
Verhältnis zu ihr erhielt seine Färbung durchaus durch die Vor-
herrschaft des Jnstinktlebens. Dem geistlich gerichteten Asketen erschien
das Weib als das sündige Gefäß; dem, der sich unbefangen zu
seiner Menschlichkeit bekannte, immer doch vor allem als Geschlechts-
wesen, dessen Bestimmung in ihm ihren Mittelpunkt hatte. Auf der
einen Seite fragte man, ob sie eine Seele haben könne, auf der
andern Seite brachte der Sprichwörterschatz der Völker in unendlichen
Wendungen lange Haare und kurzen Verstand zusammen. Wie sollte
man dazu kommen, der Frau plötzlich eine soziale Stellung zu geben,
als sei ihre geistige Persönlichkeit dem Manne in jeder Hinsicht eben-
bürtig? So mächtig sich der voraussetzungslose Nationalismus gezeigt
hatte, als er die Jahrhunderte alten feudalen Herrschafts- und Dienst-
verhältnisse in Trümmer schlug – hier konnte ihm kein rascher Sieg
zufallen. Er konnte nicht mehr als einen Umbildungsprozeß einleiten,
der dieses letzte Stück Jnstinktleben allmählich vergeistigte.
Und so beginnt der Kampf, vielleicht der tiefgreifendste, den die
Menschheit gekannt hat. Es gibt kaum ein Lebensgebiet, das er in
seinem Verlauf nicht berührt hätte.
Zunächst waren es die wirtschaftlichen Umwälzungen, die diesem
Kampf einen breiten Schauplatz gaben. Sie schufen wieder eine
Frauennot, die wirtschaftliche Frauenfrage des 19. Jahrhunderts.
Und damit wurde der Kampf der Geister in den Lüften übertäubt
durch den rasch entbrennenden Konkurrenzkampf auf heiß umstrittener
Erde, in dem alle jene ideellen Ansprüche sich zu sehr realen Forde-
rungen verdichten mußten.
Es war selbstverständlich, daß sich hier, wo es um das nackte
Dasein ging, die Gegensätze ungeheuer verschärften. Massen von
Frauen waren plötzlich, auch ohne ihren Willen, in das öffentliche
Leben hinausgedrängt, sie hatten den wirtschaftlichen Mächten ihr
tägliches Brot abzuringen wie der Mann. Das Leben legte ihnen
seine Lasten und Pflichten auf, ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht;
wollten sie nicht unterliegen, so mußten sie die gleichen Mittel haben,
diese Lasten zu bewältigen: Bildungs- und Berufsfreiheit, und schließlich
die öffentlichen Rechte, die im modernen Staatsleben mehr und mehr
auch das Mittel wirtschaftlicher Selbstbehauptung wurden. So prägte
das moderne wirtschaftliche Leben die allgemeinen Prinzipien, die seit
Olympe de Gouges und Mary Wolstonecraft aufgestellt waren, in
einzelne praktische Forderungen um, und teilte ihnen etwas von der
mechanischen Wucht realer wirtschaftlicher Notwendigkeiten mit.
Es war gewiß nicht zu verwundern, daß der Mann gewöhnlichen
Schlages, der diesen Ansprüchen der Frauen aus seinem eigenen,
durch die Vorgänge im Wirtschaftsleben selbst arg bedrängten und
erschütterten Berufsgebiet begegnete, nur an die Wahrung seines
Besitzstandes dachte und sich zu allen Mitteln wirtschaftlicher Notwehr
berechtigt glaubte. Aber es mußte aufs tiefste erbittern, wenn die
Frauen auch da nur auf Geringschätzung und ironische Abwehr
stießen, wo ein objektives, über persönlichen Jnteressen stehendes
Verständnis für ihre Lage zu erwarten gewesen wäre. Auch die
Wissenschaft sprach von der „Weiberemanzipation“, die aus dem
„Schlamm der Überbildung“ ausgestiegen sei, und schlug mit dem
Hinweis auf den bekannten Fehlbestand von 8 Lot Hirngewicht vor
den Frauen die Tür zu.
Diese zuerst unüberwindliche Opposition im Zusammenhang mit
den so schwierigen und vieldeutigen wirtschaftlichen Verhältnissen ließ
auch das eigentliche Wesen der Frauenbewegung nicht immer rein
hervortreten. Übersehen wir sie in ihren ersten Anfängen, so erscheint
sie uns selbst noch vielfach ihres Weges nicht sicher. Jhr Programm
entwickelt sich im Kampf, und es leidet an den Einseitigkeiten eines
Kampfprogramms. Man erfaßte wirtschaftlich mechanische Vorgänge,
wie sie z. B. die Regelung der Frauenlöhne bestimmten, als per-
sönliche Ungerechtigkeiten, man täuschte sich dilettantisch über das
Gewicht männlicher Kulturleistungen; man übersah, von einzelnen
starken Jndividualitäten auf die Allgemeinheit schließend, wie weit
der Frau in ihrer Bestimmtheit durch die Mutterschaft für die
Erfüllung voller männlicher Berufssphären Schranken gesetzt waren,
und hielt an dem Dogma der vollen Berufsfreiheit auch gegenüber
den dringendsten Forderungen des Arbeiterinnenschutzes fest. Man
setzte überhaupt die Männerleistung als absoluten Maßstab und über-
sah, daß das stärkste Argument für die Ansprüche der Frauen die
Eigenart ihrer Leistungen ist.
Nicht minder scharfe Formen nahm der Kampf an, als er
aus dem engeren Kreis der einzelnen Berufsgebiete auf den weiteren
des Staatslebens hinaustrat. Die Frauen sahen und sehen alle Tage,
wie einzig der seine Ansprüche durchsetzt, der die Hand auf die
Klinke der Gesetzgebung zu legen vermag, und so wird auch von
der wirtschaftlichen Seite her eine Forderung bekräftigt, die in
Ländern mit ausgeprägt demokratischem Bewußtsein schon im Anfang
der Bewegung praktisch verfolgt wurde.
Der wirtschaftliche und der sozialpolitische Jnhalt ihres Pro-
gramms machte die Frauenbewegung zur Massenbewegung, nötigte
sie, sich Schlagworte zu prägen, Organisationen zu schaffen, und
sammelte eine Gefolgschaft von Tausenden um ihre Fahnen. Es liegt
etwas Jmposantes in der unbeirrten Überzeugtheit, die sich in ein-
drucksvollen Massenkundgebungen gegen Jahrtausende alte rechtliche
und sittliche Begriffe wendet und mit der Zuversicht jenes alten
„Gott will es!“ der Kreuzfahrer das Land der Zukunft sucht. Daß
dabei zugleich eine gewisse Senkung des Niveaus eintreten muß, daß
das Gold in kleine gangbare Münzen umgeprägt wurde und nicht
eben die feinsten Naturen zuweilen im Vordergrund standen, das ist
eine Erscheinung, welche die Frauenbewegung mit jeder anderen
Massenbewegung teilt.
An diesem Punkt aber hat sich eine Reaktion entwickelt, die in
dem letzten Jahrzehnt das vielgestaltige Gewirr des Kampfes mit
neuen Tendenzen durchkreuzt hat. Es ist jener ästhetische Jndividua-
lismus, wie ihn Ellen Key in die Frauenbewegung eingeführt hat. So
lange diese Jndividualistinnen dem großen sozialen Kampf gewisser-
maßen vom Bagagewagen aus zusehen und über die Häßlichkeiten
darin etwas preziös die Nase rümpfen, haben sie für die Frauen-
bewegung wenig zu bedeuten. Sie sollten ihr unbefriedigtes ästhetisches
Empfinden, das sich von der „Frauensache“ verletzt abwendet, mit
dem Wort Hölderlins zum Schweigen bringen: Wie kann
man die Schönheit seiner Haltung wahren, wenn man im Ge-
dränge steht?
Aber diese Richtung, die auch der Frauenbewegung mit den
Forderungen der „Lebenskunst“, des schönen Egoismus, gegenübertritt,
droht doch, den Mittelpunkt ihres ganzen Programms zu verschieben,
indem sie das individualistische Prinzip da an die Stelle des sozialen
setzt, wo es am verhängnisvollsten werden muß, auf dem Gebiet der
sexuellen Sittlichkeit. Denn geht die Frauenbewegung ihrem Ursprung
und ihrem ganzen Wesen nach darauf hinaus, das Verhältnis der
Geschlechter durch die Betonung der geistigen Persönlichkeit der
Frau neuen sittlichen Anschauungen zu unterwerfen, so muß sie auf
dieses Gebiet schließlich ihren schärfsten Nachdruck legen, wie sie hier
dem schärfsten Widerstand begegnen muß. Es ist eine Lebensfrage
für sie, ob hier an Stelle der Rücksicht auf die Gesamtheit ein
individuelles Sichausleben eingesetzt wird, ob man hier über dem
zum modernen Schlagwort gewordenen „Schrei nach dem Kinde“
das Kind selbst und seine Entwicklungsmöglichkeiten vergißt. Und
eben darum muß die Frauenbewegung auch innerhalb ihrer eigenen
Reihen den Kampf aufnehmen gegen alle, die das Vorrecht des
Jnstinkts, das sie beim Manne bekämpft, bei der Frau wieder pro-
klamieren wollen.
So wogt der Kampf hin und her, auf den verschiedensten Ge-
bieten, so drängt die Bewegung vorwärts, nicht immer den inneren
Gesetzen ihres Fortschrittes folgend, nicht immer die Sterne im Auge,
die ihr die Richtung geben müssen, auch darin keine Ausnahme von
den allgemeinen menschlichen Gesetzen. Auch von diesem Kampf gilt
das Wort des Dichters:
Wer in der Sonne kämpft, ein Sohn der Erde,
Und feurig geißelt das Gespann der Pferde,
Wer brünstig ringt nach eines Zieles Ferne,
Von Staub umwölkt – wie glaubte der die Sterne?
Doch, so heißt es weiter:
Doch das Gespann erlahmt, die Pfade dunkeln,
Die ew'gen Lichter fangen an zu funkeln.
Die heiligen Gesetze werden sichtbar,
Das Kampfgeschrei verstummt – der Tag ist richtbar.
Die Zeit ist nicht fern, da auch unser Tag richtbar sein wird.
Schon sehen auch wir durch das Staubgewölk die ewigen Lichter
funkeln. Und schon ist es uns möglich, die Formel zu finden, in
der das in der Frauenfrage gestellte Problem sich lösen wird.
Man hat wohl gemeint, diese Lösung sei mit dem Tage gegeben,
der die volle Rechtsgleichheit der Geschlechter bringt. Jch kann in
dieser Rechtsgleichheit nichts weiter erblicken als eine – und nicht
einmal die einzige –notwendige Voraussetzung für das Ziel,
keineswegs das Ziel selbst. Sie ist die Schale, nicht der Kern;
sie schafft der Frau nur einen Raum, und es kommt darauf an, wie
sie ihn ausfüllt. Und dieses „Wie“ kann nur aus der Verpflichtung
abgeleitet werden, die allein dem Menschenleben Sinn und Würde
gibt: die sittlichen Gesetze der eigenen Persönlichkeit in
Lebensformen zum Ausdruck zu bringen.
Auf die Frauen angewandt bedeutet das nichts anderes, als
die volle Wirkung ihres Frauentums, ihrer Eigenart, auf alle Lebens-
äußerungen der Gesamtheit. Nicht darauf kommt es an, daß ihnen
hier und da ein Teilgebiet der Manneswelt freigegeben wird, nicht
darauf, ob sie diesen oder jenen Beruf ausüben oder nicht, sondern
auf etwas viel Größeres und zugleich Jnnerlicheres: darauf, daß die
Frau aus der Welt des Mannes eine Welt schafft, die das Gepräge
beider Geschlechter trägt. Die Frau will nicht nur äußerlich die
gleichen Möglichkeiten haben, zu wirken, am Leben teilzunehmen,
sondern sie will in dies Leben ihre eigenen Werte tragen, sie
will dadurch eine neue soziale und sittliche Gesamtanschauung
schaffen, in der ihre Maßstäbe dieselbe Geltung haben wie die des
Mannes.
Jn der Empfindung dafür, daß dies, die Verwertung der eigen-
artigen Frauenkraft für die Kultur, die letzte Aufgabe der Frauen-
bewegung sei, liegt das Berechtigte und Fruchtbare jener vorhin
gekennzeichneten individualistischen Richtung. Nur muß sie sich hüten,
ihre Forderungen utopistisch auf Gebiete anzuwenden, die unter der
Herrschaft volkswirtschaftlicher Notwendigkeit stehen. Sie kann weder
mechanisch bestimmte Gebiete der Erwerbstätigkeit für die Frau
vorbehalten oder sperren, noch darf sie vergessen, daß unsere heutigen
Verhältnisse nur sehr wenigen Menschen das Glück gewähren, in
ihrem Beruf ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, so sehr
das natürlich eine Forderung feinster menschlicher Kultur wäre.
Angesichts unserer modernen Arbeitszerlegung ist es eine unberechtigte
Einseitigkeit, über „mißbrauchte Frauenkraft“ überall da zu klagen,
wo die Frau im Beruf nicht ihre besondere Kraft verwerten
kann. Mit dem gleichen Recht kann man von „mißbrauchter
Männerkraft“ reden. Aus einer großen amerikanischen Schweine-
schlächterei wird berichtet, daß ein Mann dort seit 38 Jahren
nichts tut, als täglich mit demselben Handgriff zahllose Male die
an ihm auf einem Triebrad vorbeigeführten Tiere töten. Das
ist ein besonders krasses, aber für das Wesen der industriellen Arbeit
doch typisches Beispiel. Wenn so das Leben von Millionen von
Arbeitern sich um einen und denselben Handgriff dreht, so kann
die Frau nicht erwarten, davon eine Ausnahme zu machen. Ob
und wie diese Zustände zu ändern sind, ob der größte Teil der
Menschheit dauernd darauf verzichten muß, in der Berufsarbeit
zugleich die volle innere Befriedigung zu finden, kann niemand
voraussagen. Einstweilen aber darf man nicht für die arbeitende
Frau Jdeale aufstellen, die auch für den Mann unter den heutigen
wirtschaftlichen Verhältnissen gar nicht verwirklicht werden können.
Deshalb bleibt es natürlich doch mit die wichtigste sozialpolitische
Aufgabe, durch einen den Verhältnissen vorsichtig angepaßten
Arbeiterinnenschutz die Frau aus der ungeheuren Tretmühle der
Jndustrie für ihren Mutterberuf zurückzugewinnen. Sonst würde
hier allmählich ein Stück weiblichen Einflusses verloren gehen, das
an keiner andern Stelle zu ersetzen, auf keine andere Weise wieder
einzubringen wäre.
Da aber, wo die Arbeit noch Persönlichkeitsausdruck sein kann,
wo wirklich geistige und seelische Werte in ihr Leben gewinnen können,
wo es sich um den Aufbau der Kultur im eigentlichen Sinne handelt,
soll das weibliche Prinzip überall neben das männliche treten.
Wäre die Welt des Mannes die beste der Welten, erfüllte sie tat-
sächlich, wenigstens in ihren großen Richtlinien, ein sittliches Jdeal,
so könnte man diesen Anspruch der Frauen bestreiten. Aber wenn
die gewaltige wissenschaftliche und technische Kultur unserer Zeit als
spezifische Leistung des Mannes anerkannt werden muß, so tragen
doch auch die großen sozialen Mißstände, die mit dieser Kultur empor-
gewachsen sind, ebenso sein Gepräge. Und vieles von dem, was diesen
sozialen Mißständen zugrunde liegt, hat seinen natürlichen Gegner
in der Frau. Nicht ihr entspricht es, daß immer noch das Faustrecht
zwischen den Völkern herrscht, wenn auch unter rechtlichen Formen;
nicht sie ist verantwortlich, wenn Verwahrlosung und Alkohol die
Gefängnisse füllen und der Staat das sittliche Bewußtsein der
männlichen Jugend vergiftet durch das von ihm geduldete und unter-
stützte Laster. Mit dem Männerstaat sind diese Zustände zu furcht-
baren Schäden erwachsen, die jetzt als dunkle Probleme der Kultur-
menschheit schier unlösbare Aufgaben stellen.
Nicht als ob von dem Tage an, wo dem öffentlichen Einfluß
der Frauen kein äußeres Hindernis mehr entgegensteht, diese Auf-
gaben sofort gelöst sein würden. Die Frau hat unter Druck und
Verwahrlosung so manche Eigenschaft in sich groß werden lassen, die
erst unter der Verantwortlichkeit des öffentlichen Lebens allmählich ver-
schwinden muß. Auch sind die Kräfte, die hier ins Spiel kommen,
zu fein, zu innerlich, um äußere Einrichtungen schnell umzubilden,
die ihnen mit der ganzen Wucht Jahrtausende alter Überlieferungen
gegenüberstehen. Und dennoch ist in diesen Kräften ein Korrektiv von
höchster Bedeutung gegeben. Und so sicher, wie im organischen Leben
neue Kräfte neue Lebensformen schaffen, wird der Einfluß der zum
Selbstbewußtsein, zum Glauben an sich erwachten Frau andere, ihr
gemäßere soziale Verhältnisse zu schaffen vermögen. Vielleicht sehr
langsam – nicht durch wenige äußere Siege der organisierten Frauen-
bewegung, sondern durch die von innen heraus still und allmählich
wachsende Macht eines neuen Willens. Je stärker er wird, um so
weniger wird er des äußeren Kampfes bedürfen, um sich durchzusetzen.
Den Menschen selbst unbewußt, in jenem heimlichen Spiel geistiger
Kräfte, das hinter jedem Werturteil, hinter jeder Willensäußerung
und jedem Glaubenssatz der Menschheit steht, wird dieser neue Frauen-
wille wirksam werden. Wie weit es ihm gelingen wird, sich in den
sozialen Lebensformen der Zukunft zur Geltung zu bringen, und wie
diese Lebensformen beschaffen sein werden, das können wir jetzt nicht
voraussagen. Aus einer ernsthaften Betrachtung solcher Probleme
müssen alle billigen Zukunfts-Utopien ausscheiden, um so mehr, als
unter dem langsamen Einfluß dieser Kräfte selbst sich allmählich die
Maßstäbe ändern werden, die die jetzige Generation allzu eilfertig
mit der Gehirnwage in der Hand bestimmt hat. Aber der Richtung,
in der sich der Einfluß der Frau auf das Kulturleben äußern wird,
ist sich die Frauengenration der Gegenwart schon bewußt. Er wird
in die große Gesellschaftsordnung noch einmal alle die Kräfte ein-
führen, die den geistig-sittlichen Untergrund der Familie gebildet
haben: die seine menschliche Rücksicht auf den andern, gleichviel ob
er stark oder schwach, ob er geistig reich oder arm ist, die liebevolle
Achtung vor dem Einzelleben überhaupt, die geistigere Auffassung
des sexuellen Lebens und das immer gegenwärtige Bewußtsein, daß
wir hier im Dienst der Zukunft stehen und der kommenden Generation
verantwortlich sind.
Diese Kräfte werden denen des Mannes zur Seite treten, nicht
an ihre Stelle. Nur ein ganz unpsychologisches und ungezügeltes
Denken konnte darauf verfallen, die Maßstäbe des Mannes durch
die der Frau verdrängen und in der Frau ein neues „führendes
Geschlecht“ an den Platz des alten setzen zu wollen. Nicht um eine
neue Majorisierung der einen durch die andern handelt es sich, sondern
um die Verschmelzung der mit den beiden Geschlechtern gegebenen
geistigen Welten. Vielleicht wird diese Verschmelzung den geistigen
Faktor in der Menschheitsentwicklung so stark machen helfen, daß er
den wirtschaftlich-mechanischen Triebkräften die Wage zu halten
vermag. Vielleicht könnte so die gewaltige Einbuße an allgemeiner
persönlicher Kultur, mit der unsere mächtige äußere Entwicklung
erkauft worden ist, wenigstens zum Teil wieder eingebracht und der
den materiellen Fortschritt beherrschenden Maschine der Mensch
wieder entrissen werden.
Diese Vereinigung der beiden geistigen Welten zu einer sozialen
Gesamtanschauung, in der keine etwas von ihrer Kraft einbüßt, das ist
das Endziel der Frauenbewegung. Wenn es erreicht ist, so
wird es kein führendes Geschlecht mehr geben, sondern nur noch
führende Persönlichkeiten.