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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem Wahrscheinlichen.
Unachtsamkeit und Nachläßigkeit zu unterschei-
den habe. Das moralisch Unmögliche ist der Geden-
kensart und Gemüthsverfassung eines Menschen zuwi-
der, und so fern ein Mensch sich Regeln vorschreibt,
oder auch sich daran gewöhnt, die er mit Wissen nicht
übertritt, so fern wird das vorsetzliche Uebertreten dersel-
ben für moralisch unmöglich angesehen, weil er sich
eine Art von Nothwendigkeit auferlegt, nach densel-
ben zu handeln, auch wo das Gegentheil möglich bleibt.
Was nun solche Regeln unbestimmt lassen, wird zu
dem moralisch Möglichen gerechnet. Uebrigens
werden die Wörter, moralisch möglich, unmög-
lich, nothwendig,
metaphorisch genommen, und da-
her der Begriff derselben, so wie der Begriff der mo-
ralischen Beweise,
viel weiter ausgedehnt. Auf die-
se Art wird sogar in Glücksspielen ein Fall, der kaum
oder Wahrscheinlichkeit hat, moralisch
unmöglich genennt.

§. 231. Die von dem göttlichen Willen, und
überhaupt von den göttlichen Vollkommenheiten
hergenommene Argumente, machen hiebey eine beson-
dere Classe aus, und verdienen in vielen Absichten eine
genauere Untersuchung. Man macht dabey, was wirk-
lich geschieht, zu göttlichen Absichten, und die Ursachen,
so die Veränderungen hervorbringen, zu Mitteln. Jn
Ansehung ersterer wird zwischen dem positiven Wol-
len
und dem bloßen Zulassen ein Unterschied ge-
macht. Gott will, was wirklich und gut ist, er läßt
die Schranken des Wirklichen und die daherrührenden
Mängel, wegen des Wirklichen und Guten zu. So
lange man hiebey a posteriori geht, und folglich die all-
gemeinern Gesetze der Dinge und Veränderungen in
der Welt aus der Erfahrung kennen lernt, so lange hat
die Vergleichung derselben keine Schwierigkeiten. Wir
können noch beyfügen, daß, wenn wir die göttlichen

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Von dem Wahrſcheinlichen.
Unachtſamkeit und Nachlaͤßigkeit zu unterſchei-
den habe. Das moraliſch Unmoͤgliche iſt der Geden-
kensart und Gemuͤthsverfaſſung eines Menſchen zuwi-
der, und ſo fern ein Menſch ſich Regeln vorſchreibt,
oder auch ſich daran gewoͤhnt, die er mit Wiſſen nicht
uͤbertritt, ſo fern wird das vorſetzliche Uebertreten derſel-
ben fuͤr moraliſch unmoͤglich angeſehen, weil er ſich
eine Art von Nothwendigkeit auferlegt, nach denſel-
ben zu handeln, auch wo das Gegentheil moͤglich bleibt.
Was nun ſolche Regeln unbeſtimmt laſſen, wird zu
dem moraliſch Moͤglichen gerechnet. Uebrigens
werden die Woͤrter, moraliſch moͤglich, unmoͤg-
lich, nothwendig,
metaphoriſch genommen, und da-
her der Begriff derſelben, ſo wie der Begriff der mo-
raliſchen Beweiſe,
viel weiter ausgedehnt. Auf die-
ſe Art wird ſogar in Gluͤcksſpielen ein Fall, der kaum
oder Wahrſcheinlichkeit hat, moraliſch
unmoͤglich genennt.

§. 231. Die von dem goͤttlichen Willen, und
uͤberhaupt von den goͤttlichen Vollkommenheiten
hergenommene Argumente, machen hiebey eine beſon-
dere Claſſe aus, und verdienen in vielen Abſichten eine
genauere Unterſuchung. Man macht dabey, was wirk-
lich geſchieht, zu goͤttlichen Abſichten, und die Urſachen,
ſo die Veraͤnderungen hervorbringen, zu Mitteln. Jn
Anſehung erſterer wird zwiſchen dem poſitiven Wol-
len
und dem bloßen Zulaſſen ein Unterſchied ge-
macht. Gott will, was wirklich und gut iſt, er laͤßt
die Schranken des Wirklichen und die daherruͤhrenden
Maͤngel, wegen des Wirklichen und Guten zu. So
lange man hiebey a poſteriori geht, und folglich die all-
gemeinern Geſetze der Dinge und Veraͤnderungen in
der Welt aus der Erfahrung kennen lernt, ſo lange hat
die Vergleichung derſelben keine Schwierigkeiten. Wir
koͤnnen noch beyfuͤgen, daß, wenn wir die goͤttlichen

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[391/0397] Von dem Wahrſcheinlichen. Unachtſamkeit und Nachlaͤßigkeit zu unterſchei- den habe. Das moraliſch Unmoͤgliche iſt der Geden- kensart und Gemuͤthsverfaſſung eines Menſchen zuwi- der, und ſo fern ein Menſch ſich Regeln vorſchreibt, oder auch ſich daran gewoͤhnt, die er mit Wiſſen nicht uͤbertritt, ſo fern wird das vorſetzliche Uebertreten derſel- ben fuͤr moraliſch unmoͤglich angeſehen, weil er ſich eine Art von Nothwendigkeit auferlegt, nach denſel- ben zu handeln, auch wo das Gegentheil moͤglich bleibt. Was nun ſolche Regeln unbeſtimmt laſſen, wird zu dem moraliſch Moͤglichen gerechnet. Uebrigens werden die Woͤrter, moraliſch moͤglich, unmoͤg- lich, nothwendig, metaphoriſch genommen, und da- her der Begriff derſelben, ſo wie der Begriff der mo- raliſchen Beweiſe, viel weiter ausgedehnt. Auf die- ſe Art wird ſogar in Gluͤcksſpielen ein Fall, der kaum [FORMEL] oder [FORMEL] Wahrſcheinlichkeit hat, moraliſch unmoͤglich genennt. §. 231. Die von dem goͤttlichen Willen, und uͤberhaupt von den goͤttlichen Vollkommenheiten hergenommene Argumente, machen hiebey eine beſon- dere Claſſe aus, und verdienen in vielen Abſichten eine genauere Unterſuchung. Man macht dabey, was wirk- lich geſchieht, zu goͤttlichen Abſichten, und die Urſachen, ſo die Veraͤnderungen hervorbringen, zu Mitteln. Jn Anſehung erſterer wird zwiſchen dem poſitiven Wol- len und dem bloßen Zulaſſen ein Unterſchied ge- macht. Gott will, was wirklich und gut iſt, er laͤßt die Schranken des Wirklichen und die daherruͤhrenden Maͤngel, wegen des Wirklichen und Guten zu. So lange man hiebey a poſteriori geht, und folglich die all- gemeinern Geſetze der Dinge und Veraͤnderungen in der Welt aus der Erfahrung kennen lernt, ſo lange hat die Vergleichung derſelben keine Schwierigkeiten. Wir koͤnnen noch beyfuͤgen, daß, wenn wir die goͤttlichen Voll- B b 4

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/397>, abgerufen am 23.11.2024.