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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem Wahrscheinlichen.
ersten Anblicke wieder, weil uns ihre eigene Merkmale
sogleich in die Sinnen fallen, so schwer es uns auch öf-
ters ist, diese Merkmale mit Worten zu benennen. Es
ist auch nicht zu zweifeln, daß die, so viel mit wahr-
scheinlichen Dingen umgehen, auf diese Art unvermerkt
eine Fertigkeit erlangen, in ihren Vermuthungen auf die
rechte Spur zu kommen. Sie kennen ihre Leute und
die Sachen, mit denen sie umgehen, nebst ihren Verhält-
nissen, bis aufs Jndividuale, und dieses giebt in einzel-
nen Fällen immer die sichersten Unterscheidungszeichen.
Und so kann die Vermuthung auf eine sehr natürliche
Art richtig seyn, ungeacht andere, die solche individuale
Kenntniß nicht haben, und daher höchstens nur sich mit
allgemeinen Betrachtungen und Möglichkeiten begnügen
müssen, sie nur für wahrscheinlich und den Erfolg für
glücklich ansehen.

§. 172. Bey Aufhäufung der Argumente macht im-
mer der Beweis, daß die Jnduction dabey vollständig
sey, das Beruhigende in der Gewißheit aus.
Wir haben in der Alethiologie (§. 182.) erwiesen, daß
jeder irrige Satz mit mehrern Wahrheiten in Harmonie
gebracht werden kann, und daß sich mehrere wahre
Sätze daraus herleiten lassen. Demnach ist es immer
möglich, einem irrigen Satze durch Aufhäufung solcher
Folgen und Argumente den Schein eines wahren Sa-
tzes zu geben, und in so ferne haben die moralischen Be-
weise für irrige und für wahre Sätze einerley Form.
Von den einzelnen Argumenten beweist keines vollstän-
dig, und die Frage, ob sie zusammengenommen vollstän-
dig beweisen, bleibt unerörtert, daferne man nicht er-
weist, daß die Jnduction vollständig sey. Denn wenn
sie es auch ist, aber man hat sich davon nicht versichert,
so ist der Zweifel noch nicht ganz gehoben, und man
glaubt nur mit einem verworrenen Bewußtseyn, indem
man das Gewicht der Argumente mehr empfindet als

richtig
Y 3

Von dem Wahrſcheinlichen.
erſten Anblicke wieder, weil uns ihre eigene Merkmale
ſogleich in die Sinnen fallen, ſo ſchwer es uns auch oͤf-
ters iſt, dieſe Merkmale mit Worten zu benennen. Es
iſt auch nicht zu zweifeln, daß die, ſo viel mit wahr-
ſcheinlichen Dingen umgehen, auf dieſe Art unvermerkt
eine Fertigkeit erlangen, in ihren Vermuthungen auf die
rechte Spur zu kommen. Sie kennen ihre Leute und
die Sachen, mit denen ſie umgehen, nebſt ihren Verhaͤlt-
niſſen, bis aufs Jndividuale, und dieſes giebt in einzel-
nen Faͤllen immer die ſicherſten Unterſcheidungszeichen.
Und ſo kann die Vermuthung auf eine ſehr natuͤrliche
Art richtig ſeyn, ungeacht andere, die ſolche individuale
Kenntniß nicht haben, und daher hoͤchſtens nur ſich mit
allgemeinen Betrachtungen und Moͤglichkeiten begnuͤgen
muͤſſen, ſie nur fuͤr wahrſcheinlich und den Erfolg fuͤr
gluͤcklich anſehen.

§. 172. Bey Aufhaͤufung der Argumente macht im-
mer der Beweis, daß die Jnduction dabey vollſtaͤndig
ſey, das Beruhigende in der Gewißheit aus.
Wir haben in der Alethiologie (§. 182.) erwieſen, daß
jeder irrige Satz mit mehrern Wahrheiten in Harmonie
gebracht werden kann, und daß ſich mehrere wahre
Saͤtze daraus herleiten laſſen. Demnach iſt es immer
moͤglich, einem irrigen Satze durch Aufhaͤufung ſolcher
Folgen und Argumente den Schein eines wahren Sa-
tzes zu geben, und in ſo ferne haben die moraliſchen Be-
weiſe fuͤr irrige und fuͤr wahre Saͤtze einerley Form.
Von den einzelnen Argumenten beweiſt keines vollſtaͤn-
dig, und die Frage, ob ſie zuſammengenommen vollſtaͤn-
dig beweiſen, bleibt uneroͤrtert, daferne man nicht er-
weiſt, daß die Jnduction vollſtaͤndig ſey. Denn wenn
ſie es auch iſt, aber man hat ſich davon nicht verſichert,
ſo iſt der Zweifel noch nicht ganz gehoben, und man
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man das Gewicht der Argumente mehr empfindet als

richtig
Y 3
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[341/0347] Von dem Wahrſcheinlichen. erſten Anblicke wieder, weil uns ihre eigene Merkmale ſogleich in die Sinnen fallen, ſo ſchwer es uns auch oͤf- ters iſt, dieſe Merkmale mit Worten zu benennen. Es iſt auch nicht zu zweifeln, daß die, ſo viel mit wahr- ſcheinlichen Dingen umgehen, auf dieſe Art unvermerkt eine Fertigkeit erlangen, in ihren Vermuthungen auf die rechte Spur zu kommen. Sie kennen ihre Leute und die Sachen, mit denen ſie umgehen, nebſt ihren Verhaͤlt- niſſen, bis aufs Jndividuale, und dieſes giebt in einzel- nen Faͤllen immer die ſicherſten Unterſcheidungszeichen. Und ſo kann die Vermuthung auf eine ſehr natuͤrliche Art richtig ſeyn, ungeacht andere, die ſolche individuale Kenntniß nicht haben, und daher hoͤchſtens nur ſich mit allgemeinen Betrachtungen und Moͤglichkeiten begnuͤgen muͤſſen, ſie nur fuͤr wahrſcheinlich und den Erfolg fuͤr gluͤcklich anſehen. §. 172. Bey Aufhaͤufung der Argumente macht im- mer der Beweis, daß die Jnduction dabey vollſtaͤndig ſey, das Beruhigende in der Gewißheit aus. Wir haben in der Alethiologie (§. 182.) erwieſen, daß jeder irrige Satz mit mehrern Wahrheiten in Harmonie gebracht werden kann, und daß ſich mehrere wahre Saͤtze daraus herleiten laſſen. Demnach iſt es immer moͤglich, einem irrigen Satze durch Aufhaͤufung ſolcher Folgen und Argumente den Schein eines wahren Sa- tzes zu geben, und in ſo ferne haben die moraliſchen Be- weiſe fuͤr irrige und fuͤr wahre Saͤtze einerley Form. Von den einzelnen Argumenten beweiſt keines vollſtaͤn- dig, und die Frage, ob ſie zuſammengenommen vollſtaͤn- dig beweiſen, bleibt uneroͤrtert, daferne man nicht er- weiſt, daß die Jnduction vollſtaͤndig ſey. Denn wenn ſie es auch iſt, aber man hat ſich davon nicht verſichert, ſo iſt der Zweifel noch nicht ganz gehoben, und man glaubt nur mit einem verworrenen Bewußtſeyn, indem man das Gewicht der Argumente mehr empfindet als richtig Y 3

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/347>, abgerufen am 23.11.2024.