bestimmt werden, so ist man auch längst schon gewöhnt, den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Güte einer Sache oder Handlung vollständig zu bestimmen, man sie von allen Seiten betrachten, und das Gute und Schlechte dabey gegen einander abwägen müsse. So viele Seiten man aus der Acht läßt oder übersieht, so viele Lücken bleiben auch, und man läßt sich durch den Schein blenden oder irre machen, wenn man nur die schönere oder hinwiederum nur die schlimmere Seite allein betrachtet. Man sehe, was wir oben (§. 13.) hierüber angemerkt haben.
§. 131. Ueberhaupt kömmt es in vorgedachter Theo- rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und dessen Anwendung auf einzelne Fälle an (§. 107.). Hierinn geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des Wahren ab. Denn was an sich wahr ist, ist auch in jeden Umständen und für jede Menschen wahr, weil da höchstens nur einzelne Bestimmungen hinzukommen, die aber dem an sich Wahren nicht widersprechen können. Hingegen mag zwar das an sich Gute gut heißen, es können sich aber in besondern Fällen Umstände mit ein- mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die- ses nicht ist, so geht der Wille auf das Bessere, und dieses hat in Absicht auf jedes Gute statt, weil das Gute keine absolute Einheit hat. Daher ist auch das Beste, das wir kennen oder dessen wir uns bewußt sind, noch nicht das beste Mögliche, und in so ferne kann auch hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Täuschwerk des Scheins vorkommen. Die Bestimmung der größten Summe des Guten, das ein Mensch in seinem Leben erlangen und wirken kann, wenn man seine Kräfte, Na- turgaben und äußerliche Umstände mit der möglichen Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die sichs noch dermalen nicht gedenken läßt, weil die Aus- messung der Grade des Guten vorerst auf Gründe ge-
bracht
Von dem moraliſchen Schein.
beſtimmt werden, ſo iſt man auch laͤngſt ſchon gewoͤhnt, den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Guͤte einer Sache oder Handlung vollſtaͤndig zu beſtimmen, man ſie von allen Seiten betrachten, und das Gute und Schlechte dabey gegen einander abwaͤgen muͤſſe. So viele Seiten man aus der Acht laͤßt oder uͤberſieht, ſo viele Luͤcken bleiben auch, und man laͤßt ſich durch den Schein blenden oder irre machen, wenn man nur die ſchoͤnere oder hinwiederum nur die ſchlimmere Seite allein betrachtet. Man ſehe, was wir oben (§. 13.) hieruͤber angemerkt haben.
§. 131. Ueberhaupt koͤmmt es in vorgedachter Theo- rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und deſſen Anwendung auf einzelne Faͤlle an (§. 107.). Hierinn geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des Wahren ab. Denn was an ſich wahr iſt, iſt auch in jeden Umſtaͤnden und fuͤr jede Menſchen wahr, weil da hoͤchſtens nur einzelne Beſtimmungen hinzukommen, die aber dem an ſich Wahren nicht widerſprechen koͤnnen. Hingegen mag zwar das an ſich Gute gut heißen, es koͤnnen ſich aber in beſondern Faͤllen Umſtaͤnde mit ein- mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die- ſes nicht iſt, ſo geht der Wille auf das Beſſere, und dieſes hat in Abſicht auf jedes Gute ſtatt, weil das Gute keine abſolute Einheit hat. Daher iſt auch das Beſte, das wir kennen oder deſſen wir uns bewußt ſind, noch nicht das beſte Moͤgliche, und in ſo ferne kann auch hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Taͤuſchwerk des Scheins vorkommen. Die Beſtimmung der groͤßten Summe des Guten, das ein Menſch in ſeinem Leben erlangen und wirken kann, wenn man ſeine Kraͤfte, Na- turgaben und aͤußerliche Umſtaͤnde mit der moͤglichen Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die ſichs noch dermalen nicht gedenken laͤßt, weil die Aus- meſſung der Grade des Guten vorerſt auf Gruͤnde ge-
bracht
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Von dem moraliſchen Schein.
beſtimmt werden, ſo iſt man auch laͤngſt ſchon gewoͤhnt,
den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Guͤte einer
Sache oder Handlung vollſtaͤndig zu beſtimmen, man
ſie von allen Seiten betrachten, und das Gute und
Schlechte dabey gegen einander abwaͤgen muͤſſe. So
viele Seiten man aus der Acht laͤßt oder uͤberſieht, ſo
viele Luͤcken bleiben auch, und man laͤßt ſich durch den
Schein blenden oder irre machen, wenn man nur
die ſchoͤnere oder hinwiederum nur die ſchlimmere
Seite allein betrachtet. Man ſehe, was wir oben (§. 13.)
hieruͤber angemerkt haben.
§. 131. Ueberhaupt koͤmmt es in vorgedachter Theo-
rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und deſſen
Anwendung auf einzelne Faͤlle an (§. 107.). Hierinn
geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des
Wahren ab. Denn was an ſich wahr iſt, iſt auch in
jeden Umſtaͤnden und fuͤr jede Menſchen wahr, weil da
hoͤchſtens nur einzelne Beſtimmungen hinzukommen, die
aber dem an ſich Wahren nicht widerſprechen koͤnnen.
Hingegen mag zwar das an ſich Gute gut heißen, es
koͤnnen ſich aber in beſondern Faͤllen Umſtaͤnde mit ein-
mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die-
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dieſes hat in Abſicht auf jedes Gute ſtatt, weil das Gute
keine abſolute Einheit hat. Daher iſt auch das Beſte,
das wir kennen oder deſſen wir uns bewußt ſind, noch
nicht das beſte Moͤgliche, und in ſo ferne kann auch
hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Taͤuſchwerk des
Scheins vorkommen. Die Beſtimmung der groͤßten
Summe des Guten, das ein Menſch in ſeinem Leben
erlangen und wirken kann, wenn man ſeine Kraͤfte, Na-
turgaben und aͤußerliche Umſtaͤnde mit der moͤglichen
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ſichs noch dermalen nicht gedenken laͤßt, weil die Aus-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/309>, abgerufen am 16.07.2024.
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