nicht alle so unmittelbar und einfach, und bey den ver- decktern geht man öfters wie in einem größern Circul herum, ehe man findet, daß man wiederum da ist, wo man angefangen hat. Solche Arten von Circuln ha- ben wir bereits in der Dianoiologie (§. 680. seqq.) be- trachtet, und können ebenfalls das Scheinbare in der Zuläßigkeit der Fragen hier übergehen, weil wir in der Dianoiologie (§. 425. seqq.) umständlich untersucht haben, wieferne sich Jrrthum und Unvollständigkeit darinn befinden kann, welches, so lange es noch unbe- merkt ist, die Frage zuläßig scheinen macht (§. 106.).
§. 119. Man setzt überhaupt die Einbildungs- kraft dem Verstande, und zwar besonders dem so ge- nannten reinen Verstande, entgegen. Durch diesen versteht man subiectiue betrachtet, das Vermögen der Seele, sich die Dinge durchaus deutlich vorzustellen, obiectiue aber die Begriffe, die zu dieser Deutlichkeit ge- bracht sind, und in so ferne sie dahin gebracht sind. Die Einbildungskraft läßt Schein und Wahres unge- trennt. Die Absonderung des Wahren von dem Schein, ist das Werk des Verstandes, und so fern es demselben darinn gelingt, so ferne wird er rein genennt. Man fragt hiebey, wie ferne es uns möglich sey, daß wir uns Wahrheiten ohne sinnliche Bil- der deutlich vorstellen können? Wir wollen aber genauer untersuchen, was diese Frage eigentlich sagen will, und ob sie nicht müsse in andere aufgelöst, oder ob statt derselben nicht einige andere müssen gemacht werden?
§. 120. Um bey den Gegenständen der äußern Sin- nen anzufangen, welche ohnehin der Einbildungskraft den ersten Stoff zu ihren Bildern geben, so haben wir in vorhergehendem Hauptstücke aussührlich angezeigt, wie dabey das Wahre von dem Schein getrennt wer- den müsse, und wie sich der physische Schein in zwo
Haupt-
III. Hauptſtuͤck.
nicht alle ſo unmittelbar und einfach, und bey den ver- decktern geht man oͤfters wie in einem groͤßern Circul herum, ehe man findet, daß man wiederum da iſt, wo man angefangen hat. Solche Arten von Circuln ha- ben wir bereits in der Dianoiologie (§. 680. ſeqq.) be- trachtet, und koͤnnen ebenfalls das Scheinbare in der Zulaͤßigkeit der Fragen hier uͤbergehen, weil wir in der Dianoiologie (§. 425. ſeqq.) umſtaͤndlich unterſucht haben, wieferne ſich Jrrthum und Unvollſtaͤndigkeit darinn befinden kann, welches, ſo lange es noch unbe- merkt iſt, die Frage zulaͤßig ſcheinen macht (§. 106.).
§. 119. Man ſetzt uͤberhaupt die Einbildungs- kraft dem Verſtande, und zwar beſonders dem ſo ge- nannten reinen Verſtande, entgegen. Durch dieſen verſteht man ſubiectiue betrachtet, das Vermoͤgen der Seele, ſich die Dinge durchaus deutlich vorzuſtellen, obiectiue aber die Begriffe, die zu dieſer Deutlichkeit ge- bracht ſind, und in ſo ferne ſie dahin gebracht ſind. Die Einbildungskraft laͤßt Schein und Wahres unge- trennt. Die Abſonderung des Wahren von dem Schein, iſt das Werk des Verſtandes, und ſo fern es demſelben darinn gelingt, ſo ferne wird er rein genennt. Man fragt hiebey, wie ferne es uns moͤglich ſey, daß wir uns Wahrheiten ohne ſinnliche Bil- der deutlich vorſtellen koͤnnen? Wir wollen aber genauer unterſuchen, was dieſe Frage eigentlich ſagen will, und ob ſie nicht muͤſſe in andere aufgeloͤſt, oder ob ſtatt derſelben nicht einige andere muͤſſen gemacht werden?
§. 120. Um bey den Gegenſtaͤnden der aͤußern Sin- nen anzufangen, welche ohnehin der Einbildungskraft den erſten Stoff zu ihren Bildern geben, ſo haben wir in vorhergehendem Hauptſtuͤcke ausſuͤhrlich angezeigt, wie dabey das Wahre von dem Schein getrennt wer- den muͤſſe, und wie ſich der phyſiſche Schein in zwo
Haupt-
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III. Hauptſtuͤck.
nicht alle ſo unmittelbar und einfach, und bey den ver-
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herum, ehe man findet, daß man wiederum da iſt, wo
man angefangen hat. Solche Arten von Circuln ha-
ben wir bereits in der Dianoiologie (§. 680. ſeqq.) be-
trachtet, und koͤnnen ebenfalls das Scheinbare in der
Zulaͤßigkeit der Fragen hier uͤbergehen, weil wir in
der Dianoiologie (§. 425. ſeqq.) umſtaͤndlich unterſucht
haben, wieferne ſich Jrrthum und Unvollſtaͤndigkeit
darinn befinden kann, welches, ſo lange es noch unbe-
merkt iſt, die Frage zulaͤßig ſcheinen macht (§. 106.).
§. 119. Man ſetzt uͤberhaupt die Einbildungs-
kraft dem Verſtande, und zwar beſonders dem ſo ge-
nannten reinen Verſtande, entgegen. Durch dieſen
verſteht man ſubiectiue betrachtet, das Vermoͤgen der
Seele, ſich die Dinge durchaus deutlich vorzuſtellen,
obiectiue aber die Begriffe, die zu dieſer Deutlichkeit ge-
bracht ſind, und in ſo ferne ſie dahin gebracht ſind.
Die Einbildungskraft laͤßt Schein und Wahres unge-
trennt. Die Abſonderung des Wahren von dem
Schein, iſt das Werk des Verſtandes, und ſo fern es
demſelben darinn gelingt, ſo ferne wird er rein genennt.
Man fragt hiebey, wie ferne es uns moͤglich ſey,
daß wir uns Wahrheiten ohne ſinnliche Bil-
der deutlich vorſtellen koͤnnen? Wir wollen aber
genauer unterſuchen, was dieſe Frage eigentlich ſagen
will, und ob ſie nicht muͤſſe in andere aufgeloͤſt, oder
ob ſtatt derſelben nicht einige andere muͤſſen gemacht
werden?
§. 120. Um bey den Gegenſtaͤnden der aͤußern Sin-
nen anzufangen, welche ohnehin der Einbildungskraft
den erſten Stoff zu ihren Bildern geben, ſo haben wir
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/300>, abgerufen am 16.07.2024.
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