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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von der Wortforschung.
Weg bahnen. Wir haben einige Gründe hievon be-
reits oben (§. 112.) kurz angezeigt, und werden nun die
verschiedenen Fälle, die in den wirklichen Sprachen vor-
kommen, etwas näher betrachten, weil die Ursachen, die
in die Bedeutung abgeleiteter Wörter einen Einfluß
haben, nothwendig müssen unterschieden werden, damit
man wisse, was einer jeden zuzuschreiben ist, und wie
ferne man auf die Etymologie bauen könne, zumal da
dieser Theil der Sprachlehre in sehr ungleicher Ach-
tung ist.

§. 255. So viel ist überhaupt unstreitig, daß die
Etymologie der Wörter dem Gedächtniß große Erleich-
terung giebt, weil ohne dieselbe alle Wörter der Spra-
che als von einander unabhängig müßten angesehen
werden. Dieses wäre aber der Absicht und Vollkom-
menheit der Sprache zuwider, weil die Anzahl der Wur-
zelwörter darinn so geringe, als möglich ist, seyn solle.
Jn dieser Absicht wäre demnach zu wünschen, daß nicht
nur die Wurzelwörter einer Sprache, nebst ihrer ur-
sprünglichen Bedeutung, durchaus bekannt wäre, son-
dern auch die daraus abgeleiteten und zusammengesetz-
ten Wörter eine ihrer Ableitung und Zusammensetzung
gemäße Bedeutung erhalten hätten.

§. 256. An diesen beyden Stücken aber fehlt in
den wirklichen Sprachen viel. Denn einmal kann
man nicht sagen, daß man in denselben alle Wurzel-
wörter nebst ihrer ursprünglichen Bedeutung und Ge-
stalt wüßte. Und daher entsteht die Aufgabe, wie
man aus den noch vorhandenen abgeleiteten Wörtern
die ursprüngliche Gestalt und Bedeutung der Wurzel-
wörter, daraus sie entstanden sind, finden solle? Jede
Sprache hat hierinn etwas eigenes. Besonders aber
läßt sich zum Behufe der deutschen Sprache anmerken,
daß sie in Provinzen, wo man an ihre Ausbesserung
noch wenig gedacht, und wo nicht die Einkehr fremder

Völker
K 5

Von der Wortforſchung.
Weg bahnen. Wir haben einige Gruͤnde hievon be-
reits oben (§. 112.) kurz angezeigt, und werden nun die
verſchiedenen Faͤlle, die in den wirklichen Sprachen vor-
kommen, etwas naͤher betrachten, weil die Urſachen, die
in die Bedeutung abgeleiteter Woͤrter einen Einfluß
haben, nothwendig muͤſſen unterſchieden werden, damit
man wiſſe, was einer jeden zuzuſchreiben iſt, und wie
ferne man auf die Etymologie bauen koͤnne, zumal da
dieſer Theil der Sprachlehre in ſehr ungleicher Ach-
tung iſt.

§. 255. So viel iſt uͤberhaupt unſtreitig, daß die
Etymologie der Woͤrter dem Gedaͤchtniß große Erleich-
terung giebt, weil ohne dieſelbe alle Woͤrter der Spra-
che als von einander unabhaͤngig muͤßten angeſehen
werden. Dieſes waͤre aber der Abſicht und Vollkom-
menheit der Sprache zuwider, weil die Anzahl der Wur-
zelwoͤrter darinn ſo geringe, als moͤglich iſt, ſeyn ſolle.
Jn dieſer Abſicht waͤre demnach zu wuͤnſchen, daß nicht
nur die Wurzelwoͤrter einer Sprache, nebſt ihrer ur-
ſpruͤnglichen Bedeutung, durchaus bekannt waͤre, ſon-
dern auch die daraus abgeleiteten und zuſammengeſetz-
ten Woͤrter eine ihrer Ableitung und Zuſammenſetzung
gemaͤße Bedeutung erhalten haͤtten.

§. 256. An dieſen beyden Stuͤcken aber fehlt in
den wirklichen Sprachen viel. Denn einmal kann
man nicht ſagen, daß man in denſelben alle Wurzel-
woͤrter nebſt ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung und Ge-
ſtalt wuͤßte. Und daher entſteht die Aufgabe, wie
man aus den noch vorhandenen abgeleiteten Woͤrtern
die urſpruͤngliche Geſtalt und Bedeutung der Wurzel-
woͤrter, daraus ſie entſtanden ſind, finden ſolle? Jede
Sprache hat hierinn etwas eigenes. Beſonders aber
laͤßt ſich zum Behufe der deutſchen Sprache anmerken,
daß ſie in Provinzen, wo man an ihre Ausbeſſerung
noch wenig gedacht, und wo nicht die Einkehr fremder

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[153/0159] Von der Wortforſchung. Weg bahnen. Wir haben einige Gruͤnde hievon be- reits oben (§. 112.) kurz angezeigt, und werden nun die verſchiedenen Faͤlle, die in den wirklichen Sprachen vor- kommen, etwas naͤher betrachten, weil die Urſachen, die in die Bedeutung abgeleiteter Woͤrter einen Einfluß haben, nothwendig muͤſſen unterſchieden werden, damit man wiſſe, was einer jeden zuzuſchreiben iſt, und wie ferne man auf die Etymologie bauen koͤnne, zumal da dieſer Theil der Sprachlehre in ſehr ungleicher Ach- tung iſt. §. 255. So viel iſt uͤberhaupt unſtreitig, daß die Etymologie der Woͤrter dem Gedaͤchtniß große Erleich- terung giebt, weil ohne dieſelbe alle Woͤrter der Spra- che als von einander unabhaͤngig muͤßten angeſehen werden. Dieſes waͤre aber der Abſicht und Vollkom- menheit der Sprache zuwider, weil die Anzahl der Wur- zelwoͤrter darinn ſo geringe, als moͤglich iſt, ſeyn ſolle. Jn dieſer Abſicht waͤre demnach zu wuͤnſchen, daß nicht nur die Wurzelwoͤrter einer Sprache, nebſt ihrer ur- ſpruͤnglichen Bedeutung, durchaus bekannt waͤre, ſon- dern auch die daraus abgeleiteten und zuſammengeſetz- ten Woͤrter eine ihrer Ableitung und Zuſammenſetzung gemaͤße Bedeutung erhalten haͤtten. §. 256. An dieſen beyden Stuͤcken aber fehlt in den wirklichen Sprachen viel. Denn einmal kann man nicht ſagen, daß man in denſelben alle Wurzel- woͤrter nebſt ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung und Ge- ſtalt wuͤßte. Und daher entſteht die Aufgabe, wie man aus den noch vorhandenen abgeleiteten Woͤrtern die urſpruͤngliche Geſtalt und Bedeutung der Wurzel- woͤrter, daraus ſie entſtanden ſind, finden ſolle? Jede Sprache hat hierinn etwas eigenes. Beſonders aber laͤßt ſich zum Behufe der deutſchen Sprache anmerken, daß ſie in Provinzen, wo man an ihre Ausbeſſerung noch wenig gedacht, und wo nicht die Einkehr fremder Voͤlker K 5

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/159>, abgerufen am 27.11.2024.