müsse. Man hat es schon unzählige male ge- sagt. Jeder Mensch hat in einem größern oder kleinern Grade die dazu erforderlichen Kräfte des Verstandes. Es ist natürlich, daß sie ihm gegeben sind, um sie wirklich zu gebrauchen. Der Verstand selbst beruhigt sich bey Zweifeln und Ungewißheit nicht. Es ist natürlich, daß er suche, Gewißheit zu finden. Man weiß, daß man sich bey dem Jrrthum zuletzt nur be- trogen findet. Es ist natürlich, daß man su- che, ihn zu vermeyden.
Alles dieses fällt von selbst in die Augen. Durchgeht man aber die menschliche Erkennt- nis, und besonders die Lehrgebäude der Welt- weisen jeder Zeiten und jeder Länder, so findet man sie in den meisten Stücken lange nicht so übereinstimmend, als man es von so vielen Be- weggründen erwarten sollte. Und da die Wahrheit einförmig und unveränderlich ist, so findet man dagegen, daß sich die menschlichen Meynungen fast der Wahrheit zum Trotz, wie die Moden in der Kleidung ändern, und die Ge- schichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es den Lehrgebäuden der Weltweisen, welche doch aus der Erforschung der Wahrheit ihre Haupt- beschäftigung machen, eben nicht viel besser er- gangen. Man kann den Aristoteles, Gassendi, Cartesius, Newton, Leibniz, Wolf etc. in vielen Hauptstücken, die Jdealisten, Materialisten, Zweifler, Fatalisten etc. aber bald durchaus ein- ander entgegen setzen.
Betrach-
Vorrede.
muͤſſe. Man hat es ſchon unzaͤhlige male ge- ſagt. Jeder Menſch hat in einem groͤßern oder kleinern Grade die dazu erforderlichen Kraͤfte des Verſtandes. Es iſt natuͤrlich, daß ſie ihm gegeben ſind, um ſie wirklich zu gebrauchen. Der Verſtand ſelbſt beruhigt ſich bey Zweifeln und Ungewißheit nicht. Es iſt natuͤrlich, daß er ſuche, Gewißheit zu finden. Man weiß, daß man ſich bey dem Jrrthum zuletzt nur be- trogen findet. Es iſt natuͤrlich, daß man ſu- che, ihn zu vermeyden.
Alles dieſes faͤllt von ſelbſt in die Augen. Durchgeht man aber die menſchliche Erkennt- nis, und beſonders die Lehrgebaͤude der Welt- weiſen jeder Zeiten und jeder Laͤnder, ſo findet man ſie in den meiſten Stuͤcken lange nicht ſo uͤbereinſtimmend, als man es von ſo vielen Be- weggruͤnden erwarten ſollte. Und da die Wahrheit einfoͤrmig und unveraͤnderlich iſt, ſo findet man dagegen, daß ſich die menſchlichen Meynungen faſt der Wahrheit zum Trotz, wie die Moden in der Kleidung aͤndern, und die Ge- ſchichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es den Lehrgebaͤuden der Weltweiſen, welche doch aus der Erforſchung der Wahrheit ihre Haupt- beſchaͤftigung machen, eben nicht viel beſſer er- gangen. Man kann den Ariſtoteles, Gaſſendi, Carteſius, Newton, Leibniz, Wolf ꝛc. in vielen Hauptſtuͤcken, die Jdealiſten, Materialiſten, Zweifler, Fataliſten ꝛc. aber bald durchaus ein- ander entgegen ſetzen.
Betrach-
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[0008]
Vorrede.
muͤſſe. Man hat es ſchon unzaͤhlige male ge-
ſagt. Jeder Menſch hat in einem groͤßern oder
kleinern Grade die dazu erforderlichen Kraͤfte
des Verſtandes. Es iſt natuͤrlich, daß ſie ihm
gegeben ſind, um ſie wirklich zu gebrauchen.
Der Verſtand ſelbſt beruhigt ſich bey Zweifeln
und Ungewißheit nicht. Es iſt natuͤrlich, daß
er ſuche, Gewißheit zu finden. Man weiß,
daß man ſich bey dem Jrrthum zuletzt nur be-
trogen findet. Es iſt natuͤrlich, daß man ſu-
che, ihn zu vermeyden.
Alles dieſes faͤllt von ſelbſt in die Augen.
Durchgeht man aber die menſchliche Erkennt-
nis, und beſonders die Lehrgebaͤude der Welt-
weiſen jeder Zeiten und jeder Laͤnder, ſo findet
man ſie in den meiſten Stuͤcken lange nicht ſo
uͤbereinſtimmend, als man es von ſo vielen Be-
weggruͤnden erwarten ſollte. Und da die
Wahrheit einfoͤrmig und unveraͤnderlich iſt, ſo
findet man dagegen, daß ſich die menſchlichen
Meynungen faſt der Wahrheit zum Trotz, wie
die Moden in der Kleidung aͤndern, und die Ge-
ſchichte der Weltweisheit belehrt uns, daß es
den Lehrgebaͤuden der Weltweiſen, welche doch
aus der Erforſchung der Wahrheit ihre Haupt-
beſchaͤftigung machen, eben nicht viel beſſer er-
gangen. Man kann den Ariſtoteles, Gaſſendi,
Carteſius, Newton, Leibniz, Wolf ꝛc. in vielen
Hauptſtuͤcken, die Jdealiſten, Materialiſten,
Zweifler, Fataliſten ꝛc. aber bald durchaus ein-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/8>, abgerufen am 21.11.2024.
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