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Lambert, Johann Heinrich: Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues. Augsburg, 1761.

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Cosmologische Briefe

de Gründe zu prüfen, und jede Schlüsse genaue ab-
zuwägen, oder die Weltkörper darauf zu legen, um
zu sehen, wie viel Gewicht ich ihnen zugeben därfe,
da ich ohne Bedenken die Erde zum Sandkorn ma-
che? Mag der Grund, daß wir nicht wissen, was
groß oder klein ist, das Recht geben, Körper von je-
der Grösse dahin zu setzen, wo man sie nöthig hat,
um das System vollends aufzuführen? Sind sie
darinn eben so nothwendig, und ist das System bis
dahin so strenge erwiesen, daß man sie nicht mehr
weglassen kann? Muß das Gebäude der Welt solche
Ecksteine und Pfeiler haben, um durch jede Zeiten
durch dauerhaft zu seyn? Solle man sie so ungesehen
zugeben? Wer ist jenseits der Milchstrasse gewesen,
um sie in Augenschein zu nehmen, und das Maaß
davon zurück zu bringen? Woher das Recht, Ver-
muthungen für bündige Schlüsse, und Erdichtungen
für Wahrheiten auszugeben, und erst das Recht,
grosse dahin zu setzen, wo wir es nie werden sehen
können, und wo wir folglich auch nie sehen werden,
ob nicht das Gegentheil oder ganz was anders
statt finde? Wo sind die Beweise, wenn wir ohne
Sehen glauben, und statt dessen sie gleiche Dienste
thun sollen?

Sehen Sie, mein Herr, ich trete nun vor
den Richterstuhl der Vernunft. Dieses ist ihre
Stimme, und sie fordert die Prüfung meines Sy-
stems und meiner Gründe als ihr Eigenthum. Sie
wird, was irrig ist, verwerfen, was übertrieben ist,

behörig

Coſmologiſche Briefe

de Gruͤnde zu pruͤfen, und jede Schluͤſſe genaue ab-
zuwaͤgen, oder die Weltkoͤrper darauf zu legen, um
zu ſehen, wie viel Gewicht ich ihnen zugeben daͤrfe,
da ich ohne Bedenken die Erde zum Sandkorn ma-
che? Mag der Grund, daß wir nicht wiſſen, was
groß oder klein iſt, das Recht geben, Koͤrper von je-
der Groͤſſe dahin zu ſetzen, wo man ſie noͤthig hat,
um das Syſtem vollends aufzufuͤhren? Sind ſie
darinn eben ſo nothwendig, und iſt das Syſtem bis
dahin ſo ſtrenge erwieſen, daß man ſie nicht mehr
weglaſſen kann? Muß das Gebaͤude der Welt ſolche
Eckſteine und Pfeiler haben, um durch jede Zeiten
durch dauerhaft zu ſeyn? Solle man ſie ſo ungeſehen
zugeben? Wer iſt jenſeits der Milchſtraſſe geweſen,
um ſie in Augenſchein zu nehmen, und das Maaß
davon zuruͤck zu bringen? Woher das Recht, Ver-
muthungen fuͤr buͤndige Schluͤſſe, und Erdichtungen
fuͤr Wahrheiten auszugeben, und erſt das Recht,
groſſe dahin zu ſetzen, wo wir es nie werden ſehen
koͤnnen, und wo wir folglich auch nie ſehen werden,
ob nicht das Gegentheil oder ganz was anders
ſtatt finde? Wo ſind die Beweiſe, wenn wir ohne
Sehen glauben, und ſtatt deſſen ſie gleiche Dienſte
thun ſollen?

Sehen Sie, mein Herr, ich trete nun vor
den Richterſtuhl der Vernunft. Dieſes iſt ihre
Stimme, und ſie fordert die Pruͤfung meines Sy-
ſtems und meiner Gruͤnde als ihr Eigenthum. Sie
wird, was irrig iſt, verwerfen, was uͤbertrieben iſt,

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[298/0331] Coſmologiſche Briefe de Gruͤnde zu pruͤfen, und jede Schluͤſſe genaue ab- zuwaͤgen, oder die Weltkoͤrper darauf zu legen, um zu ſehen, wie viel Gewicht ich ihnen zugeben daͤrfe, da ich ohne Bedenken die Erde zum Sandkorn ma- che? Mag der Grund, daß wir nicht wiſſen, was groß oder klein iſt, das Recht geben, Koͤrper von je- der Groͤſſe dahin zu ſetzen, wo man ſie noͤthig hat, um das Syſtem vollends aufzufuͤhren? Sind ſie darinn eben ſo nothwendig, und iſt das Syſtem bis dahin ſo ſtrenge erwieſen, daß man ſie nicht mehr weglaſſen kann? Muß das Gebaͤude der Welt ſolche Eckſteine und Pfeiler haben, um durch jede Zeiten durch dauerhaft zu ſeyn? Solle man ſie ſo ungeſehen zugeben? Wer iſt jenſeits der Milchſtraſſe geweſen, um ſie in Augenſchein zu nehmen, und das Maaß davon zuruͤck zu bringen? Woher das Recht, Ver- muthungen fuͤr buͤndige Schluͤſſe, und Erdichtungen fuͤr Wahrheiten auszugeben, und erſt das Recht, groſſe dahin zu ſetzen, wo wir es nie werden ſehen koͤnnen, und wo wir folglich auch nie ſehen werden, ob nicht das Gegentheil oder ganz was anders ſtatt finde? Wo ſind die Beweiſe, wenn wir ohne Sehen glauben, und ſtatt deſſen ſie gleiche Dienſte thun ſollen? Sehen Sie, mein Herr, ich trete nun vor den Richterſtuhl der Vernunft. Dieſes iſt ihre Stimme, und ſie fordert die Pruͤfung meines Sy- ſtems und meiner Gruͤnde als ihr Eigenthum. Sie wird, was irrig iſt, verwerfen, was uͤbertrieben iſt, behoͤrig

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues. Augsburg, 1761, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_einrichtung_1761/331>, abgerufen am 21.05.2024.