Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 1. Riga, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorrede.
ders die ersten Grundbegriffe der Erkenntniß
nach unzählichen Absichten anders und wieder-
um anders combinirt und zusammen genommen
werden können, so ist sichs gar nicht zu verwun-
dern, wenn bereits schon mehrere Lehrgebäude
der Grundlehre zum Vorschein gekommen, wo
jeder Verfasser einen ihm eigenen Weg genom-
men, und wo der Unterschied mehr in der Ord-
nung
und der Wahl der Ausdrücke als in der
Sache selbst liegt. Jndessen kann immer eines
besser seyn als das andere, und überdieß fehlet
es noch an Klagen über die Mängel der Meta-
physic nicht, daß nicht jeder, welcher selbst dar-
über nachdenken will, Stoff genug finden sollte.
Besonders sind mehrere metaphysische Begriffe
von solchem Umfange, daß man sie in sehr vielen
und sehr verschiedenen Fällen muß gefunden und
erkennet haben, ehe man sagen kann, daß man
sie genau kenne. Und so genau sie auch jemand
kennen mag, so schwer ist es, sie andern eben
so genau beyzubringen,
dafern man sie nicht
in eben die Umstände setzen, und sie durch
alle die Fälle durchführen
kann, die zur ge-
nauen Bestimmung nöthig sind. Man begreift
hieraus, wie sehr es leicht ist, die Worte ohne
die Begriffe zu lernen. So hat uns Aristote-
les
das Wort aber nicht den Begriff hinterlassen,
den er Entelechia nennete. Eben so mag der
erste, so das Wort Substanz gebraucht hat, et-
was richtiges und erhebliches dabey gedacht ha-

ben.

Vorrede.
ders die erſten Grundbegriffe der Erkenntniß
nach unzaͤhlichen Abſichten anders und wieder-
um anders combinirt und zuſammen genommen
werden koͤnnen, ſo iſt ſichs gar nicht zu verwun-
dern, wenn bereits ſchon mehrere Lehrgebaͤude
der Grundlehre zum Vorſchein gekommen, wo
jeder Verfaſſer einen ihm eigenen Weg genom-
men, und wo der Unterſchied mehr in der Ord-
nung
und der Wahl der Ausdruͤcke als in der
Sache ſelbſt liegt. Jndeſſen kann immer eines
beſſer ſeyn als das andere, und uͤberdieß fehlet
es noch an Klagen uͤber die Maͤngel der Meta-
phyſic nicht, daß nicht jeder, welcher ſelbſt dar-
uͤber nachdenken will, Stoff genug finden ſollte.
Beſonders ſind mehrere metaphyſiſche Begriffe
von ſolchem Umfange, daß man ſie in ſehr vielen
und ſehr verſchiedenen Faͤllen muß gefunden und
erkennet haben, ehe man ſagen kann, daß man
ſie genau kenne. Und ſo genau ſie auch jemand
kennen mag, ſo ſchwer iſt es, ſie andern eben
ſo genau beyzubringen,
dafern man ſie nicht
in eben die Umſtaͤnde ſetzen, und ſie durch
alle die Faͤlle durchfuͤhren
kann, die zur ge-
nauen Beſtimmung noͤthig ſind. Man begreift
hieraus, wie ſehr es leicht iſt, die Worte ohne
die Begriffe zu lernen. So hat uns Ariſtote-
les
das Wort aber nicht den Begriff hinterlaſſen,
den er Entelechia nennete. Eben ſo mag der
erſte, ſo das Wort Subſtanz gebraucht hat, et-
was richtiges und erhebliches dabey gedacht ha-

ben.
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0008" n="IV"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Vorrede.</hi></fw><lb/>
ders die er&#x017F;ten Grundbegriffe der Erkenntniß<lb/>
nach unza&#x0364;hlichen Ab&#x017F;ichten anders und wieder-<lb/>
um anders combinirt und zu&#x017F;ammen genommen<lb/>
werden ko&#x0364;nnen, &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ichs gar nicht zu verwun-<lb/>
dern, wenn bereits &#x017F;chon mehrere Lehrgeba&#x0364;ude<lb/>
der Grundlehre zum Vor&#x017F;chein gekommen, wo<lb/>
jeder Verfa&#x017F;&#x017F;er einen ihm eigenen <hi rendition="#fr">Weg</hi> genom-<lb/>
men, und wo der Unter&#x017F;chied mehr in der <hi rendition="#fr">Ord-<lb/>
nung</hi> und der <hi rendition="#fr">Wahl der Ausdru&#x0364;cke</hi> als in der<lb/><hi rendition="#fr">Sache &#x017F;elb&#x017F;t</hi> liegt. Jnde&#x017F;&#x017F;en kann immer eines<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;eyn als das andere, und u&#x0364;berdieß fehlet<lb/>
es noch an Klagen u&#x0364;ber die Ma&#x0364;ngel der Meta-<lb/>
phy&#x017F;ic nicht, daß nicht jeder, welcher &#x017F;elb&#x017F;t dar-<lb/>
u&#x0364;ber nachdenken will, Stoff genug finden &#x017F;ollte.<lb/>
Be&#x017F;onders &#x017F;ind mehrere metaphy&#x017F;i&#x017F;che Begriffe<lb/>
von &#x017F;olchem Umfange, daß man &#x017F;ie in &#x017F;ehr vielen<lb/>
und &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedenen Fa&#x0364;llen muß gefunden und<lb/>
erkennet haben, ehe man &#x017F;agen kann, daß man<lb/>
&#x017F;ie genau kenne. Und &#x017F;o genau &#x017F;ie auch jemand<lb/>
kennen mag, &#x017F;o &#x017F;chwer i&#x017F;t es, <hi rendition="#fr">&#x017F;ie andern eben<lb/>
&#x017F;o genau beyzubringen,</hi> dafern man &#x017F;ie nicht<lb/>
in <hi rendition="#fr">eben die Um&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;etzen,</hi> und &#x017F;ie <hi rendition="#fr">durch<lb/>
alle die Fa&#x0364;lle durchfu&#x0364;hren</hi> kann, die zur ge-<lb/>
nauen Be&#x017F;timmung no&#x0364;thig &#x017F;ind. Man begreift<lb/>
hieraus, wie &#x017F;ehr es leicht i&#x017F;t, die Worte ohne<lb/>
die Begriffe zu lernen. So hat uns <hi rendition="#fr">Ari&#x017F;tote-<lb/>
les</hi> das Wort aber nicht den Begriff hinterla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
den er <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">Entelechia</hi></hi> nennete. Eben &#x017F;o mag der<lb/>
er&#x017F;te, &#x017F;o das Wort <hi rendition="#fr">Sub&#x017F;tanz</hi> gebraucht hat, et-<lb/>
was richtiges und erhebliches dabey gedacht ha-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ben.</fw><lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[IV/0008] Vorrede. ders die erſten Grundbegriffe der Erkenntniß nach unzaͤhlichen Abſichten anders und wieder- um anders combinirt und zuſammen genommen werden koͤnnen, ſo iſt ſichs gar nicht zu verwun- dern, wenn bereits ſchon mehrere Lehrgebaͤude der Grundlehre zum Vorſchein gekommen, wo jeder Verfaſſer einen ihm eigenen Weg genom- men, und wo der Unterſchied mehr in der Ord- nung und der Wahl der Ausdruͤcke als in der Sache ſelbſt liegt. Jndeſſen kann immer eines beſſer ſeyn als das andere, und uͤberdieß fehlet es noch an Klagen uͤber die Maͤngel der Meta- phyſic nicht, daß nicht jeder, welcher ſelbſt dar- uͤber nachdenken will, Stoff genug finden ſollte. Beſonders ſind mehrere metaphyſiſche Begriffe von ſolchem Umfange, daß man ſie in ſehr vielen und ſehr verſchiedenen Faͤllen muß gefunden und erkennet haben, ehe man ſagen kann, daß man ſie genau kenne. Und ſo genau ſie auch jemand kennen mag, ſo ſchwer iſt es, ſie andern eben ſo genau beyzubringen, dafern man ſie nicht in eben die Umſtaͤnde ſetzen, und ſie durch alle die Faͤlle durchfuͤhren kann, die zur ge- nauen Beſtimmung noͤthig ſind. Man begreift hieraus, wie ſehr es leicht iſt, die Worte ohne die Begriffe zu lernen. So hat uns Ariſtote- les das Wort aber nicht den Begriff hinterlaſſen, den er Entelechia nennete. Eben ſo mag der erſte, ſo das Wort Subſtanz gebraucht hat, et- was richtiges und erhebliches dabey gedacht ha- ben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic01_1771/8
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 1. Riga, 1771, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic01_1771/8>, abgerufen am 22.11.2024.