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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882.

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§. 96. Einleitung.
das Verfahren im weitesten Sinne des Wortes, die man als die
eigentlichen prozessualischen Rechtssätze bezeichnen kann, einen
sehr erheblichen Bestand an staatsrechtlichen Normen. Dieser
Bestand wird nach dem in der Deutschen Rechtsliteratur bestehen-
den Herkommen in den Werken über Staatsrecht fast ganz über-
gangen, in den Werken über Civil- und Strafprozeß im Ge-
menge mit dem eigentlichen Prozeßrecht behandelt. Wenngleich
zugegeben werden muß, daß diese Behandlung Seitens der Pro-
zeßrechtsschriftsteller eine vollständige, den ganzen Stoff umfassende
ist, so ist doch die Beleuchtung dieses Stoffes eine einseitige, da
sie eben nicht vom Standpunkt des Staatsrechts, sondern von
dem des Prozeßrechts aus geschieht und da in Folge dessen
staatsrechtliche und prozessualische Regeln fortwährend mit einander
verknüpft, niemals einander gegenüber gestellt werden. So wie
das Strafgesetzbuch eine reiche Quelle für das Staatsrecht ist,
deren Verwerthung nicht ausschließlich den Strafrechtsschriftstellern
überlassen bleiben kann, so sind auch die Prozeßgesetze auf ihren
staatsrechtlichen Inhalt zu untersuchen und für das Staatsrecht zu
verwerthen. Es gilt dies in besonders hervorragendem Maaße
von der Gerichtsverfassung, die eine ebenso wesentliche
und erhebliche Bedeutung für das Behördensystem und die Aemter-
verfassung des Staates wie für die Ordnung des Prozesses, der
Zuständigkeitsnormen, des Verfahrens, der Rechtsmittel u. s. w. hat.

Wenn es sonach für das öffentliche Recht jedes Staates als
eine Aufgabe der Wissenschaft hingestellt werden muß, die staats-
rechtlichen Vorschriften über die Gerichtsbarkeit von den prozeß-
rechtlichen Vorschriften über das gerichtliche Verfahren auszuson-
dern, so bietet für das Staatsrecht des Deutschen Reiches die Ge-
setzgebung über das Gerichtswesen noch eine andere Seite von sehr
weitreichender Bedeutung dar. Sie steckt nämlich auf einem sehr
umfassenden und wichtigen Gebiete die Gränzen ab, welche der
Autonomie und Gerichtsgewalt der Einzelstaaten gezogen sind; sie
legt den Einzelstaaten Verpflichtungen und Beschränkungen auf;
sie normirt die ihnen auf dem Gebiet der Rechtspflege zustehenden
Herrschaftsrechte; in ihr wird der Einfluß des unter den Einzel-
staaten bestehenden bundesstaatlichen Verhältnisses und der über
ihnen errichteten souveränen Reichsgewalt in Bezug auf die Rechts-
pflege fixirt.


§. 96. Einleitung.
das Verfahren im weiteſten Sinne des Wortes, die man als die
eigentlichen prozeſſualiſchen Rechtsſätze bezeichnen kann, einen
ſehr erheblichen Beſtand an ſtaatsrechtlichen Normen. Dieſer
Beſtand wird nach dem in der Deutſchen Rechtsliteratur beſtehen-
den Herkommen in den Werken über Staatsrecht faſt ganz über-
gangen, in den Werken über Civil- und Strafprozeß im Ge-
menge mit dem eigentlichen Prozeßrecht behandelt. Wenngleich
zugegeben werden muß, daß dieſe Behandlung Seitens der Pro-
zeßrechtsſchriftſteller eine vollſtändige, den ganzen Stoff umfaſſende
iſt, ſo iſt doch die Beleuchtung dieſes Stoffes eine einſeitige, da
ſie eben nicht vom Standpunkt des Staatsrechts, ſondern von
dem des Prozeßrechts aus geſchieht und da in Folge deſſen
ſtaatsrechtliche und prozeſſualiſche Regeln fortwährend mit einander
verknüpft, niemals einander gegenüber geſtellt werden. So wie
das Strafgeſetzbuch eine reiche Quelle für das Staatsrecht iſt,
deren Verwerthung nicht ausſchließlich den Strafrechtsſchriftſtellern
überlaſſen bleiben kann, ſo ſind auch die Prozeßgeſetze auf ihren
ſtaatsrechtlichen Inhalt zu unterſuchen und für das Staatsrecht zu
verwerthen. Es gilt dies in beſonders hervorragendem Maaße
von der Gerichtsverfaſſung, die eine ebenſo weſentliche
und erhebliche Bedeutung für das Behördenſyſtem und die Aemter-
verfaſſung des Staates wie für die Ordnung des Prozeſſes, der
Zuſtändigkeitsnormen, des Verfahrens, der Rechtsmittel u. ſ. w. hat.

Wenn es ſonach für das öffentliche Recht jedes Staates als
eine Aufgabe der Wiſſenſchaft hingeſtellt werden muß, die ſtaats-
rechtlichen Vorſchriften über die Gerichtsbarkeit von den prozeß-
rechtlichen Vorſchriften über das gerichtliche Verfahren auszuſon-
dern, ſo bietet für das Staatsrecht des Deutſchen Reiches die Ge-
ſetzgebung über das Gerichtsweſen noch eine andere Seite von ſehr
weitreichender Bedeutung dar. Sie ſteckt nämlich auf einem ſehr
umfaſſenden und wichtigen Gebiete die Gränzen ab, welche der
Autonomie und Gerichtsgewalt der Einzelſtaaten gezogen ſind; ſie
legt den Einzelſtaaten Verpflichtungen und Beſchränkungen auf;
ſie normirt die ihnen auf dem Gebiet der Rechtspflege zuſtehenden
Herrſchaftsrechte; in ihr wird der Einfluß des unter den Einzel-
ſtaaten beſtehenden bundesſtaatlichen Verhältniſſes und der über
ihnen errichteten ſouveränen Reichsgewalt in Bezug auf die Rechts-
pflege fixirt.


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[16/0026] §. 96. Einleitung. das Verfahren im weiteſten Sinne des Wortes, die man als die eigentlichen prozeſſualiſchen Rechtsſätze bezeichnen kann, einen ſehr erheblichen Beſtand an ſtaatsrechtlichen Normen. Dieſer Beſtand wird nach dem in der Deutſchen Rechtsliteratur beſtehen- den Herkommen in den Werken über Staatsrecht faſt ganz über- gangen, in den Werken über Civil- und Strafprozeß im Ge- menge mit dem eigentlichen Prozeßrecht behandelt. Wenngleich zugegeben werden muß, daß dieſe Behandlung Seitens der Pro- zeßrechtsſchriftſteller eine vollſtändige, den ganzen Stoff umfaſſende iſt, ſo iſt doch die Beleuchtung dieſes Stoffes eine einſeitige, da ſie eben nicht vom Standpunkt des Staatsrechts, ſondern von dem des Prozeßrechts aus geſchieht und da in Folge deſſen ſtaatsrechtliche und prozeſſualiſche Regeln fortwährend mit einander verknüpft, niemals einander gegenüber geſtellt werden. So wie das Strafgeſetzbuch eine reiche Quelle für das Staatsrecht iſt, deren Verwerthung nicht ausſchließlich den Strafrechtsſchriftſtellern überlaſſen bleiben kann, ſo ſind auch die Prozeßgeſetze auf ihren ſtaatsrechtlichen Inhalt zu unterſuchen und für das Staatsrecht zu verwerthen. Es gilt dies in beſonders hervorragendem Maaße von der Gerichtsverfaſſung, die eine ebenſo weſentliche und erhebliche Bedeutung für das Behördenſyſtem und die Aemter- verfaſſung des Staates wie für die Ordnung des Prozeſſes, der Zuſtändigkeitsnormen, des Verfahrens, der Rechtsmittel u. ſ. w. hat. Wenn es ſonach für das öffentliche Recht jedes Staates als eine Aufgabe der Wiſſenſchaft hingeſtellt werden muß, die ſtaats- rechtlichen Vorſchriften über die Gerichtsbarkeit von den prozeß- rechtlichen Vorſchriften über das gerichtliche Verfahren auszuſon- dern, ſo bietet für das Staatsrecht des Deutſchen Reiches die Ge- ſetzgebung über das Gerichtsweſen noch eine andere Seite von ſehr weitreichender Bedeutung dar. Sie ſteckt nämlich auf einem ſehr umfaſſenden und wichtigen Gebiete die Gränzen ab, welche der Autonomie und Gerichtsgewalt der Einzelſtaaten gezogen ſind; ſie legt den Einzelſtaaten Verpflichtungen und Beſchränkungen auf; ſie normirt die ihnen auf dem Gebiet der Rechtspflege zuſtehenden Herrſchaftsrechte; in ihr wird der Einfluß des unter den Einzel- ſtaaten beſtehenden bundesſtaatlichen Verhältniſſes und der über ihnen errichteten ſouveränen Reichsgewalt in Bezug auf die Rechts- pflege fixirt.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht0302_1882/26>, abgerufen am 28.03.2024.