Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 58. Gesetze im formellen Sinne.
materiellen Sinne ist gesetzliches Recht gleichbedeutend mit ius
scriptum;
im formellen Sinne ist nur dasjenige ius scriptum Ge-
setzesrecht, welches unter Zustimmung der Volksvertretung ent-
standen ist.

Andererseits aber fallen unter diesen formellen Begriff des
Gesetzes alle diejenigen Willensacte des Staates, zu welchen die
Zustimmung der Volksvertretung erforderlich ist, auch wenn sie
keine Anordnung von Rechtssätzen enthalten. Ueberall, wo man
die selbstständige Entscheidung des Monarchen oder seiner Minister
ausschließen wollte, erklärte man "ein Gesetz" d. h. die Beobach-
tung der für die Gesetzgebung vorgeschriebenen Formen für erfor-
derlich, weil diese Formen die Genehmigung der Volksvertretung
in sich schließen. Man glaubte, indem man das Wort Gesetz auf
alle unter Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommenen
Willensentschlüsse des Staates, auch wenn sie keine Rechtssätze be-
treffen, anwendete, in der That die Volksvertretung auf die "Legis-
lative" beschränkt und die Theorie von der Theilung der Gewalten
durchgeführt zu haben.

In Wahrheit aber bezeichnet das Wort Gesetz in diesem Sinne
nicht einen Theil der in der Staatsgewalt enthaltenen Befug-
nisse
, sondern eine Form, in welcher der staatliche Wille er-
klärt wird, gleichviel was der Inhalt dieses Willens ist. Durch
ein "Gesetz" kann der Wirthschaftsplan für den Staatshaushalt
oder der Kosten-Anschlag für ein Unternehmen festgestellt, die Rich-
tigkeit einer Rechnungslegung anerkannt, das Vermögen der ver-
jagten Dynastie confiscirt und ebenso derselben restituirt, die Er-
richtung oder Zerstörung eines nationalen Denkmals anbefohlen,
die Ertheilung einer Dotation, des Ehrenbürgerrechts oder eines
Titels, sowie die Verbannung oder der Verlust der Staats-Ange-
gehörigkeit ausgesprochen werden. Durch ein Gesetz kann ebenso
eine schwebende Rechtsstreitigkeit entschieden, die Gültigkeit oder
Ungültigkeit eines Aktes der Regierung ausgesprochen, eine Wahl
anerkannt oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amnestie ertheilt
werden. Verwaltungsvorschriften von Wichtigkeit, welche nicht nach
dem Belieben der Regierung abgeändert oder aufgehoben, sondern
dauernd von den Verwaltungsbehörden befolgt werden sollen, wer-
den überaus häufig in der Form des Gesetzes erlassen. Ein und
dasselbe Gesetz kann einen sehr verschiedenartigen Inhalt haben

§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
materiellen Sinne iſt geſetzliches Recht gleichbedeutend mit ius
scriptum;
im formellen Sinne iſt nur dasjenige ius scriptum Ge-
ſetzesrecht, welches unter Zuſtimmung der Volksvertretung ent-
ſtanden iſt.

Andererſeits aber fallen unter dieſen formellen Begriff des
Geſetzes alle diejenigen Willensacte des Staates, zu welchen die
Zuſtimmung der Volksvertretung erforderlich iſt, auch wenn ſie
keine Anordnung von Rechtsſätzen enthalten. Ueberall, wo man
die ſelbſtſtändige Entſcheidung des Monarchen oder ſeiner Miniſter
ausſchließen wollte, erklärte man „ein Geſetz“ d. h. die Beobach-
tung der für die Geſetzgebung vorgeſchriebenen Formen für erfor-
derlich, weil dieſe Formen die Genehmigung der Volksvertretung
in ſich ſchließen. Man glaubte, indem man das Wort Geſetz auf
alle unter Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommenen
Willensentſchlüſſe des Staates, auch wenn ſie keine Rechtsſätze be-
treffen, anwendete, in der That die Volksvertretung auf die „Legis-
lative“ beſchränkt und die Theorie von der Theilung der Gewalten
durchgeführt zu haben.

In Wahrheit aber bezeichnet das Wort Geſetz in dieſem Sinne
nicht einen Theil der in der Staatsgewalt enthaltenen Befug-
niſſe
, ſondern eine Form, in welcher der ſtaatliche Wille er-
klärt wird, gleichviel was der Inhalt dieſes Willens iſt. Durch
ein „Geſetz“ kann der Wirthſchaftsplan für den Staatshaushalt
oder der Koſten-Anſchlag für ein Unternehmen feſtgeſtellt, die Rich-
tigkeit einer Rechnungslegung anerkannt, das Vermögen der ver-
jagten Dynaſtie confiscirt und ebenſo derſelben reſtituirt, die Er-
richtung oder Zerſtörung eines nationalen Denkmals anbefohlen,
die Ertheilung einer Dotation, des Ehrenbürgerrechts oder eines
Titels, ſowie die Verbannung oder der Verluſt der Staats-Ange-
gehörigkeit ausgeſprochen werden. Durch ein Geſetz kann ebenſo
eine ſchwebende Rechtsſtreitigkeit entſchieden, die Gültigkeit oder
Ungültigkeit eines Aktes der Regierung ausgeſprochen, eine Wahl
anerkannt oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amneſtie ertheilt
werden. Verwaltungsvorſchriften von Wichtigkeit, welche nicht nach
dem Belieben der Regierung abgeändert oder aufgehoben, ſondern
dauernd von den Verwaltungsbehörden befolgt werden ſollen, wer-
den überaus häufig in der Form des Geſetzes erlaſſen. Ein und
daſſelbe Geſetz kann einen ſehr verſchiedenartigen Inhalt haben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0074" n="60"/><fw place="top" type="header">§. 58. Ge&#x017F;etze im formellen Sinne.</fw><lb/>
materiellen Sinne i&#x017F;t ge&#x017F;etzliches Recht gleichbedeutend mit <hi rendition="#aq">ius<lb/>
scriptum;</hi> im formellen Sinne i&#x017F;t nur dasjenige <hi rendition="#aq">ius scriptum</hi> Ge-<lb/>
&#x017F;etzesrecht, welches unter Zu&#x017F;timmung der Volksvertretung ent-<lb/>
&#x017F;tanden i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Anderer&#x017F;eits aber fallen unter die&#x017F;en formellen Begriff des<lb/>
Ge&#x017F;etzes alle diejenigen Willensacte des Staates, zu welchen die<lb/>
Zu&#x017F;timmung der Volksvertretung erforderlich i&#x017F;t, auch wenn &#x017F;ie<lb/>
keine Anordnung von Rechts&#x017F;ätzen enthalten. Ueberall, wo man<lb/>
die &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändige Ent&#x017F;cheidung des Monarchen oder &#x017F;einer Mini&#x017F;ter<lb/>
aus&#x017F;chließen wollte, erklärte man &#x201E;ein Ge&#x017F;etz&#x201C; d. h. die Beobach-<lb/>
tung der für die Ge&#x017F;etzgebung vorge&#x017F;chriebenen Formen für erfor-<lb/>
derlich, weil die&#x017F;e Formen die Genehmigung der Volksvertretung<lb/>
in &#x017F;ich &#x017F;chließen. Man glaubte, indem man das <hi rendition="#g">Wort</hi> Ge&#x017F;etz auf<lb/>
alle unter Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommenen<lb/>
Willensent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e des Staates, auch wenn &#x017F;ie keine Rechts&#x017F;ätze be-<lb/>
treffen, anwendete, in der That die Volksvertretung auf die &#x201E;Legis-<lb/>
lative&#x201C; be&#x017F;chränkt und die Theorie von der Theilung der Gewalten<lb/>
durchgeführt zu haben.</p><lb/>
          <p>In Wahrheit aber bezeichnet das Wort Ge&#x017F;etz in die&#x017F;em Sinne<lb/>
nicht einen Theil der in der Staatsgewalt enthaltenen <hi rendition="#g">Befug-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e</hi>, &#x017F;ondern eine <hi rendition="#g">Form</hi>, in welcher der &#x017F;taatliche Wille er-<lb/>
klärt wird, gleichviel was der Inhalt die&#x017F;es Willens i&#x017F;t. Durch<lb/>
ein &#x201E;Ge&#x017F;etz&#x201C; kann der Wirth&#x017F;chaftsplan für den Staatshaushalt<lb/>
oder der Ko&#x017F;ten-An&#x017F;chlag für ein Unternehmen fe&#x017F;tge&#x017F;tellt, die Rich-<lb/>
tigkeit einer Rechnungslegung anerkannt, das Vermögen der ver-<lb/>
jagten Dyna&#x017F;tie confiscirt und eben&#x017F;o der&#x017F;elben re&#x017F;tituirt, die Er-<lb/>
richtung oder Zer&#x017F;törung eines nationalen Denkmals anbefohlen,<lb/>
die Ertheilung einer Dotation, des Ehrenbürgerrechts oder eines<lb/>
Titels, &#x017F;owie die Verbannung oder der Verlu&#x017F;t der Staats-Ange-<lb/>
gehörigkeit ausge&#x017F;prochen werden. Durch ein Ge&#x017F;etz kann eben&#x017F;o<lb/>
eine &#x017F;chwebende Rechts&#x017F;treitigkeit ent&#x017F;chieden, die Gültigkeit oder<lb/>
Ungültigkeit eines Aktes der Regierung ausge&#x017F;prochen, eine Wahl<lb/>
anerkannt oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amne&#x017F;tie ertheilt<lb/>
werden. Verwaltungsvor&#x017F;chriften von Wichtigkeit, welche nicht nach<lb/>
dem Belieben der Regierung abgeändert oder aufgehoben, &#x017F;ondern<lb/>
dauernd von den Verwaltungsbehörden befolgt werden &#x017F;ollen, wer-<lb/>
den überaus häufig in der Form des Ge&#x017F;etzes erla&#x017F;&#x017F;en. Ein und<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe Ge&#x017F;etz kann einen &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedenartigen Inhalt haben<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0074] §. 58. Geſetze im formellen Sinne. materiellen Sinne iſt geſetzliches Recht gleichbedeutend mit ius scriptum; im formellen Sinne iſt nur dasjenige ius scriptum Ge- ſetzesrecht, welches unter Zuſtimmung der Volksvertretung ent- ſtanden iſt. Andererſeits aber fallen unter dieſen formellen Begriff des Geſetzes alle diejenigen Willensacte des Staates, zu welchen die Zuſtimmung der Volksvertretung erforderlich iſt, auch wenn ſie keine Anordnung von Rechtsſätzen enthalten. Ueberall, wo man die ſelbſtſtändige Entſcheidung des Monarchen oder ſeiner Miniſter ausſchließen wollte, erklärte man „ein Geſetz“ d. h. die Beobach- tung der für die Geſetzgebung vorgeſchriebenen Formen für erfor- derlich, weil dieſe Formen die Genehmigung der Volksvertretung in ſich ſchließen. Man glaubte, indem man das Wort Geſetz auf alle unter Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommenen Willensentſchlüſſe des Staates, auch wenn ſie keine Rechtsſätze be- treffen, anwendete, in der That die Volksvertretung auf die „Legis- lative“ beſchränkt und die Theorie von der Theilung der Gewalten durchgeführt zu haben. In Wahrheit aber bezeichnet das Wort Geſetz in dieſem Sinne nicht einen Theil der in der Staatsgewalt enthaltenen Befug- niſſe, ſondern eine Form, in welcher der ſtaatliche Wille er- klärt wird, gleichviel was der Inhalt dieſes Willens iſt. Durch ein „Geſetz“ kann der Wirthſchaftsplan für den Staatshaushalt oder der Koſten-Anſchlag für ein Unternehmen feſtgeſtellt, die Rich- tigkeit einer Rechnungslegung anerkannt, das Vermögen der ver- jagten Dynaſtie confiscirt und ebenſo derſelben reſtituirt, die Er- richtung oder Zerſtörung eines nationalen Denkmals anbefohlen, die Ertheilung einer Dotation, des Ehrenbürgerrechts oder eines Titels, ſowie die Verbannung oder der Verluſt der Staats-Ange- gehörigkeit ausgeſprochen werden. Durch ein Geſetz kann ebenſo eine ſchwebende Rechtsſtreitigkeit entſchieden, die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Aktes der Regierung ausgeſprochen, eine Wahl anerkannt oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amneſtie ertheilt werden. Verwaltungsvorſchriften von Wichtigkeit, welche nicht nach dem Belieben der Regierung abgeändert oder aufgehoben, ſondern dauernd von den Verwaltungsbehörden befolgt werden ſollen, wer- den überaus häufig in der Form des Geſetzes erlaſſen. Ein und daſſelbe Geſetz kann einen ſehr verſchiedenartigen Inhalt haben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/74
Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/74>, abgerufen am 24.11.2024.