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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
Verfahren sich dafür entschieden, die Beschlußfassung des Reichs-
tages auch auf die Eingangsformel auszudehnen 1). Dadurch ist
der Reichstag in der Lage, eine Controle darüber auszuüben,
daß die Eingangsformel mit dem für die Reichsgesetzgebung vor-
geschriebenen Verfahren im Einklang steht.

5. Der Beschluß des Bundesrathes, durch welchen einem Ge-
setzentwurf die Sanction ertheilt wird, ist nach den in Art. 6 und 7
der Reichsverfassung gegebenen Bestimmungen zu fassen. In der
Regel genügt daher die einfache Majorität, welche nach den
Bd. I. S. 279 fg. entwickelten Vorschriften festzustellen ist. Aus-
genommen hiervon sind

a) Gesetzesvorschläge, durch welche die bestehenden Einrich-
tungen hinsichtlich des Militärwesens, der Kriegs-
marine
oder der im Art. 35 der Reichsverf. bezeichneten Ab-
gaben
verändert werden sollen. Sie sind abgelehnt, wenn die
preußischen Stimmen im Bundesrathe gegen ihre Annahme abge-
geben werden 2).

b) Gesetzesvorschläge, durch welche Veränderungen der Ver-
fassung
erfolgen sollen. Sie sind abgelehnt, wenn sie im Bun-
desrathe 14 Stimmen gegen sich haben 3).

Daß in diesem Artikel unter Verfassung nur die Verfas-
sungs-Urkunde
, wie sie durch das Ges. v. 16. April 1871
festgestellt worden ist, nicht der gesammte Verfassungszustand
des Reiches zu verstehen ist, unterliegt keinem Zweifel. Diese
Verfassungs-Urkunde bezeichnet sich selbst als "Verfassung" und es
kann daher nicht angenommen werden, daß sie in ihrem eigenen
Artikel 78 unter diesem Ausdruck etwas Anderes versteht 4). Auch
würde die entgegengesetzte Ansicht zu völliger Unklarheit führen,
da der "Verfassungszustand" durch die Gesammtheit aller beste-

1) Der von v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 183 weitläufig aus-
geführte Grund, daß die Sanctionsformel ein "Theil des Gesetzes" sei,
vgl. auch dessen Staatsrecht des deutschen Reichs II. 1 S. 16 -- ist lediglich
eine versteckte petitio principii.
2) R.-V. Art. 5 Abs. 2. Vgl. oben Bd. I. S. 280. 281.
3) R.-V. Art. 78 Abs. 1. Die Entscheidung der Vorfrage, ob ein
Gesetzvorschlag eine Veränderung der Verfassung enthält oder nicht, erfolgt
durch einfache Majorität. Bd. I. S. 280. Hänel, S. 259. v. Rönne,
II. 1. S. 35.
4) v. Mohl, Reichsstaatsr. S. 143 fg.

§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Verfahren ſich dafür entſchieden, die Beſchlußfaſſung des Reichs-
tages auch auf die Eingangsformel auszudehnen 1). Dadurch iſt
der Reichstag in der Lage, eine Controle darüber auszuüben,
daß die Eingangsformel mit dem für die Reichsgeſetzgebung vor-
geſchriebenen Verfahren im Einklang ſteht.

5. Der Beſchluß des Bundesrathes, durch welchen einem Ge-
ſetzentwurf die Sanction ertheilt wird, iſt nach den in Art. 6 und 7
der Reichsverfaſſung gegebenen Beſtimmungen zu faſſen. In der
Regel genügt daher die einfache Majorität, welche nach den
Bd. I. S. 279 fg. entwickelten Vorſchriften feſtzuſtellen iſt. Aus-
genommen hiervon ſind

a) Geſetzesvorſchläge, durch welche die beſtehenden Einrich-
tungen hinſichtlich des Militärweſens, der Kriegs-
marine
oder der im Art. 35 der Reichsverf. bezeichneten Ab-
gaben
verändert werden ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn die
preußiſchen Stimmen im Bundesrathe gegen ihre Annahme abge-
geben werden 2).

b) Geſetzesvorſchläge, durch welche Veränderungen der Ver-
faſſung
erfolgen ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn ſie im Bun-
desrathe 14 Stimmen gegen ſich haben 3).

Daß in dieſem Artikel unter Verfaſſung nur die Verfaſ-
ſungs-Urkunde
, wie ſie durch das Geſ. v. 16. April 1871
feſtgeſtellt worden iſt, nicht der geſammte Verfaſſungszuſtand
des Reiches zu verſtehen iſt, unterliegt keinem Zweifel. Dieſe
Verfaſſungs-Urkunde bezeichnet ſich ſelbſt als „Verfaſſung“ und es
kann daher nicht angenommen werden, daß ſie in ihrem eigenen
Artikel 78 unter dieſem Ausdruck etwas Anderes verſteht 4). Auch
würde die entgegengeſetzte Anſicht zu völliger Unklarheit führen,
da der „Verfaſſungszuſtand“ durch die Geſammtheit aller beſte-

1) Der von v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 183 weitläufig aus-
geführte Grund, daß die Sanctionsformel ein „Theil des Geſetzes“ ſei,
vgl. auch deſſen Staatsrecht des deutſchen Reichs II. 1 S. 16 — iſt lediglich
eine verſteckte petitio principii.
2) R.-V. Art. 5 Abſ. 2. Vgl. oben Bd. I. S. 280. 281.
3) R.-V. Art. 78 Abſ. 1. Die Entſcheidung der Vorfrage, ob ein
Geſetzvorſchlag eine Veränderung der Verfaſſung enthält oder nicht, erfolgt
durch einfache Majorität. Bd. I. S. 280. Hänel, S. 259. v. Rönne,
II. 1. S. 35.
4) v. Mohl, Reichsſtaatsr. S. 143 fg.
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[36/0050] §. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung. Verfahren ſich dafür entſchieden, die Beſchlußfaſſung des Reichs- tages auch auf die Eingangsformel auszudehnen 1). Dadurch iſt der Reichstag in der Lage, eine Controle darüber auszuüben, daß die Eingangsformel mit dem für die Reichsgeſetzgebung vor- geſchriebenen Verfahren im Einklang ſteht. 5. Der Beſchluß des Bundesrathes, durch welchen einem Ge- ſetzentwurf die Sanction ertheilt wird, iſt nach den in Art. 6 und 7 der Reichsverfaſſung gegebenen Beſtimmungen zu faſſen. In der Regel genügt daher die einfache Majorität, welche nach den Bd. I. S. 279 fg. entwickelten Vorſchriften feſtzuſtellen iſt. Aus- genommen hiervon ſind a) Geſetzesvorſchläge, durch welche die beſtehenden Einrich- tungen hinſichtlich des Militärweſens, der Kriegs- marine oder der im Art. 35 der Reichsverf. bezeichneten Ab- gaben verändert werden ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn die preußiſchen Stimmen im Bundesrathe gegen ihre Annahme abge- geben werden 2). b) Geſetzesvorſchläge, durch welche Veränderungen der Ver- faſſung erfolgen ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn ſie im Bun- desrathe 14 Stimmen gegen ſich haben 3). Daß in dieſem Artikel unter Verfaſſung nur die Verfaſ- ſungs-Urkunde, wie ſie durch das Geſ. v. 16. April 1871 feſtgeſtellt worden iſt, nicht der geſammte Verfaſſungszuſtand des Reiches zu verſtehen iſt, unterliegt keinem Zweifel. Dieſe Verfaſſungs-Urkunde bezeichnet ſich ſelbſt als „Verfaſſung“ und es kann daher nicht angenommen werden, daß ſie in ihrem eigenen Artikel 78 unter dieſem Ausdruck etwas Anderes verſteht 4). Auch würde die entgegengeſetzte Anſicht zu völliger Unklarheit führen, da der „Verfaſſungszuſtand“ durch die Geſammtheit aller beſte- 1) Der von v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 183 weitläufig aus- geführte Grund, daß die Sanctionsformel ein „Theil des Geſetzes“ ſei, vgl. auch deſſen Staatsrecht des deutſchen Reichs II. 1 S. 16 — iſt lediglich eine verſteckte petitio principii. 2) R.-V. Art. 5 Abſ. 2. Vgl. oben Bd. I. S. 280. 281. 3) R.-V. Art. 78 Abſ. 1. Die Entſcheidung der Vorfrage, ob ein Geſetzvorſchlag eine Veränderung der Verfaſſung enthält oder nicht, erfolgt durch einfache Majorität. Bd. I. S. 280. Hänel, S. 259. v. Rönne, II. 1. S. 35. 4) v. Mohl, Reichsſtaatsr. S. 143 fg.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/50>, abgerufen am 22.11.2024.