der Tribüne entsteht, anordnen, daß Alle, die sich zur Zeit darauf befinden, die Tribüne räumen 1).
b) "Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant- wortlichkeit frei". R.-V. Art. 22 Abs. 2. Reichsstr.-Ges.-B. §. 12. Im Falle einer Anklage ist vom Richter festzustellen, ob ein Bericht "wahrheitsgetreu" ist; auszugsweise Berichte über die Verhand- lungen können in so tendenziöser Art verfaßt sein, daß sie, ob- gleich sie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge- sprochen oder geschehen ist, dennoch den Sinn der gethanen Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zusammenhange fälschen und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten sind. Noch viel weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur Verlesung gekommenen Aktenstückes oder eines Satzes aus einer Rede als ein "Bericht über Verhandlungen" erachtet werden 2).
Der Satz der Verfassung schließt nicht nur eine gerichtliche Verfolgung, sondern "jede Verantwortlichkeit" aus, mithin auch eine disciplinarische, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt ist. Er bezieht sich ferner auf jede Art von Berichten, also insbesondere auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Versammlungen erstattet werden. Seine wichtigste Anwendung aber findet er in Ansehung der durch die Presse verbreiteten Berichte.
Nach vielen Verfassungen ist es dem Landtage überlassen, durch einen Beschluß die Oeffentlichkeit auszuschließen; so z. B. auch durch die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfassung hat eine solche Bestimmung nicht. Die Geschäfts-Ordnung §. 33 sucht dies zwar nachzuholen, indem dieser Paragraph fast wörtlich dem Art. 79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen ist; gegenüber der bestimmten Vorschrift des Art. 22 der R.-V. aber ist diese Bestimmung der Geschäfts-Ordnung rechtsunwirksam. Es steht zwar nichts ent- gegen, daß sich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be- sprechung unter Ausschluß der Oeffentlichkeit versammeln, der staats- rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt
1) Gesch.-Ordn. §§. 59--61.
2) Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entsprechen- den §. 38 des Pr. Preßgesetzes v. 12. Mai 1851 bei HiersemenzelI. S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R.-Strafgesetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12.
Laband, Reichsstaatsrecht. I. 36
§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
der Tribüne entſteht, anordnen, daß Alle, die ſich zur Zeit darauf befinden, die Tribüne räumen 1).
b) „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant- wortlichkeit frei“. R.-V. Art. 22 Abſ. 2. Reichsſtr.-Geſ.-B. §. 12. Im Falle einer Anklage iſt vom Richter feſtzuſtellen, ob ein Bericht „wahrheitsgetreu“ iſt; auszugsweiſe Berichte über die Verhand- lungen können in ſo tendenziöſer Art verfaßt ſein, daß ſie, ob- gleich ſie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge- ſprochen oder geſchehen iſt, dennoch den Sinn der gethanen Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zuſammenhange fälſchen und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten ſind. Noch viel weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur Verleſung gekommenen Aktenſtückes oder eines Satzes aus einer Rede als ein „Bericht über Verhandlungen“ erachtet werden 2).
Der Satz der Verfaſſung ſchließt nicht nur eine gerichtliche Verfolgung, ſondern „jede Verantwortlichkeit“ aus, mithin auch eine disciplinariſche, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt iſt. Er bezieht ſich ferner auf jede Art von Berichten, alſo insbeſondere auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Verſammlungen erſtattet werden. Seine wichtigſte Anwendung aber findet er in Anſehung der durch die Preſſe verbreiteten Berichte.
Nach vielen Verfaſſungen iſt es dem Landtage überlaſſen, durch einen Beſchluß die Oeffentlichkeit auszuſchließen; ſo z. B. auch durch die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfaſſung hat eine ſolche Beſtimmung nicht. Die Geſchäfts-Ordnung §. 33 ſucht dies zwar nachzuholen, indem dieſer Paragraph faſt wörtlich dem Art. 79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen iſt; gegenüber der beſtimmten Vorſchrift des Art. 22 der R.-V. aber iſt dieſe Beſtimmung der Geſchäfts-Ordnung rechtsunwirkſam. Es ſteht zwar nichts ent- gegen, daß ſich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be- ſprechung unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit verſammeln, der ſtaats- rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt
1) Geſch.-Ordn. §§. 59—61.
2) Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entſprechen- den §. 38 des Pr. Preßgeſetzes v. 12. Mai 1851 bei HierſemenzelI. S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R.-Strafgeſetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12.
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 36
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0581"n="561"/><fwplace="top"type="header">§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.</fw><lb/>
der Tribüne entſteht, anordnen, daß Alle, die ſich zur Zeit darauf<lb/>
befinden, die Tribüne räumen <noteplace="foot"n="1)">Geſch.-Ordn. §§. 59—61.</note>.</p><lb/><p><hirendition="#aq">b</hi>) „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den<lb/>
öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant-<lb/>
wortlichkeit frei“. R.-V. Art. 22 Abſ. 2. Reichsſtr.-Geſ.-B. §. 12.<lb/>
Im Falle einer Anklage iſt vom Richter feſtzuſtellen, ob ein Bericht<lb/>„wahrheitsgetreu“ iſt; auszugsweiſe Berichte über die Verhand-<lb/>
lungen können in ſo tendenziöſer Art verfaßt ſein, daß ſie, ob-<lb/>
gleich ſie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge-<lb/>ſprochen oder geſchehen iſt, dennoch den Sinn der gethanen<lb/>
Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zuſammenhange fälſchen<lb/>
und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten ſind. Noch viel<lb/>
weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur<lb/>
Verleſung gekommenen Aktenſtückes oder eines Satzes aus einer<lb/>
Rede als ein „Bericht über Verhandlungen“ erachtet werden <noteplace="foot"n="2)">Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entſprechen-<lb/>
den §. 38 des Pr. Preßgeſetzes v. 12. Mai 1851 bei <hirendition="#g">Hierſemenzel</hi><hirendition="#aq">I.</hi><lb/>
S. 85 ff. Ferner <hirendition="#g">Oppenhoff</hi>, R.-Strafgeſetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12.</note>.</p><lb/><p>Der Satz der Verfaſſung ſchließt nicht nur eine gerichtliche<lb/>
Verfolgung, ſondern „jede Verantwortlichkeit“ aus, mithin auch eine<lb/>
disciplinariſche, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt iſt.<lb/>
Er bezieht ſich ferner auf jede Art von Berichten, alſo insbeſondere<lb/>
auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Verſammlungen<lb/>
erſtattet werden. Seine wichtigſte Anwendung aber findet er in<lb/>
Anſehung der durch die Preſſe verbreiteten Berichte.</p><lb/><p>Nach vielen Verfaſſungen iſt es dem Landtage überlaſſen, durch<lb/>
einen Beſchluß die Oeffentlichkeit auszuſchließen; ſo z. B. auch durch<lb/>
die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfaſſung hat eine<lb/>ſolche Beſtimmung nicht. Die Geſchäfts-Ordnung §. 33 ſucht dies<lb/>
zwar nachzuholen, indem dieſer Paragraph faſt wörtlich dem Art.<lb/>
79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen iſt; gegenüber der beſtimmten<lb/>
Vorſchrift des Art. 22 der R.-V. aber iſt dieſe Beſtimmung der<lb/>
Geſchäfts-Ordnung rechtsunwirkſam. Es ſteht zwar nichts ent-<lb/>
gegen, daß ſich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be-<lb/>ſprechung unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit verſammeln, der ſtaats-<lb/>
rechtliche Charakter einer <hirendition="#g">Reichstags-Verhandlung</hi> kömmt<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Laband</hi>, Reichsſtaatsrecht. <hirendition="#aq">I.</hi> 36</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[561/0581]
§. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geſchäfte.
der Tribüne entſteht, anordnen, daß Alle, die ſich zur Zeit darauf
befinden, die Tribüne räumen 1).
b) „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den
öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant-
wortlichkeit frei“. R.-V. Art. 22 Abſ. 2. Reichsſtr.-Geſ.-B. §. 12.
Im Falle einer Anklage iſt vom Richter feſtzuſtellen, ob ein Bericht
„wahrheitsgetreu“ iſt; auszugsweiſe Berichte über die Verhand-
lungen können in ſo tendenziöſer Art verfaßt ſein, daß ſie, ob-
gleich ſie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge-
ſprochen oder geſchehen iſt, dennoch den Sinn der gethanen
Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zuſammenhange fälſchen
und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten ſind. Noch viel
weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur
Verleſung gekommenen Aktenſtückes oder eines Satzes aus einer
Rede als ein „Bericht über Verhandlungen“ erachtet werden 2).
Der Satz der Verfaſſung ſchließt nicht nur eine gerichtliche
Verfolgung, ſondern „jede Verantwortlichkeit“ aus, mithin auch eine
disciplinariſche, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt iſt.
Er bezieht ſich ferner auf jede Art von Berichten, alſo insbeſondere
auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Verſammlungen
erſtattet werden. Seine wichtigſte Anwendung aber findet er in
Anſehung der durch die Preſſe verbreiteten Berichte.
Nach vielen Verfaſſungen iſt es dem Landtage überlaſſen, durch
einen Beſchluß die Oeffentlichkeit auszuſchließen; ſo z. B. auch durch
die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfaſſung hat eine
ſolche Beſtimmung nicht. Die Geſchäfts-Ordnung §. 33 ſucht dies
zwar nachzuholen, indem dieſer Paragraph faſt wörtlich dem Art.
79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen iſt; gegenüber der beſtimmten
Vorſchrift des Art. 22 der R.-V. aber iſt dieſe Beſtimmung der
Geſchäfts-Ordnung rechtsunwirkſam. Es ſteht zwar nichts ent-
gegen, daß ſich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be-
ſprechung unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit verſammeln, der ſtaats-
rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt
1) Geſch.-Ordn. §§. 59—61.
2) Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entſprechen-
den §. 38 des Pr. Preßgeſetzes v. 12. Mai 1851 bei Hierſemenzel I.
S. 85 ff. Ferner Oppenhoff, R.-Strafgeſetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12.
Laband, Reichsſtaatsrecht. I. 36
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/581>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.