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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages.
welche aber nicht das Deutsche Volk als Gesammtheit, sondern das
Volk der einzelnen Staaten, in denen sie gewählt sind, zu vertreten
haben. Auf diesem Gedanken beruhte der in dem Oesterreichischen
Reformprojekt von 1863 enthaltene Vorschlag einer sogenannten
Delegirten-Versammlung. Schon damals hob der Bericht des
Preußischen Staatsministeriums v. 15. Sept. 1863 hervor, daß
eine solche Versammlung "auf die Vertretung von Partikular-
Interessen, nicht von Deutschen Interessen hingewiesen ist" und
"daß das Spiel und Widerspiel dynastischer und partikularistischer
Interessen sein Gegengewicht und sein Correctiv in einer wahren,
aus direkter Betheiligung der ganzen Nation hervorgehenden
National-Vertretung finden muß" 1).

Derselbe Gesichtspunkt wurde bei den Preußischen Reform-
Vorschlägen von 1866 entschieden betont und festgehalten und er
hat in der Norddeutschen Bundesverfassung einen klaren und un-
zweideutigen Ausdruck im Art. 29 gefunden:
"Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des ge-
sammten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht
gebunden."

Bei der Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Deutschen
Reiche wurde dieser Charakter des Reichstages zwar beibehalten
und der Art. 29 deshalb unverändert gelassen, es wurde aber
zu Art. 28 der Zusatz beigefügt:
Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche
nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen
Bunde gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur der-
jenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesstaaten gewählt
sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist.

Diese Bestimmung war analog der im Art. 7 Abs. 4. vom
Bundesrath getroffenen Anordnung. Während die letztere aber
mit dem Wesen des Bundesrathes, der aus Vertretern der ein-
zelnen Bundesglieder besteht, vollkommen übereinstimmt 2), stand
Art. 28 Abs. 2 im schärfsten Widerspruch mit dem Wesen des
Reichstages, dessen Mitglieder nach Art. 29 nicht Vertreter der
Bevölkerungen einzelner Staaten, sondern des gesammten Volkes

1) Hahn Zwei Jahre Preuß.-deutsch. Politik S. 60.
2) Ganz und gar verkannt wird dieser Unterschied von Westerkamp
S. 108. 109. Note.

§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
welche aber nicht das Deutſche Volk als Geſammtheit, ſondern das
Volk der einzelnen Staaten, in denen ſie gewählt ſind, zu vertreten
haben. Auf dieſem Gedanken beruhte der in dem Oeſterreichiſchen
Reformprojekt von 1863 enthaltene Vorſchlag einer ſogenannten
Delegirten-Verſammlung. Schon damals hob der Bericht des
Preußiſchen Staatsminiſteriums v. 15. Sept. 1863 hervor, daß
eine ſolche Verſammlung „auf die Vertretung von Partikular-
Intereſſen, nicht von Deutſchen Intereſſen hingewieſen iſt“ und
„daß das Spiel und Widerſpiel dynaſtiſcher und partikulariſtiſcher
Intereſſen ſein Gegengewicht und ſein Correctiv in einer wahren,
aus direkter Betheiligung der ganzen Nation hervorgehenden
National-Vertretung finden muß“ 1).

Derſelbe Geſichtspunkt wurde bei den Preußiſchen Reform-
Vorſchlägen von 1866 entſchieden betont und feſtgehalten und er
hat in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung einen klaren und un-
zweideutigen Ausdruck im Art. 29 gefunden:
„Die Mitglieder des Reichstages ſind Vertreter des ge-
ſammten Volkes und an Aufträge und Inſtruktionen nicht
gebunden.“

Bei der Erweiterung des Norddeutſchen Bundes zum Deutſchen
Reiche wurde dieſer Charakter des Reichstages zwar beibehalten
und der Art. 29 deshalb unverändert gelaſſen, es wurde aber
zu Art. 28 der Zuſatz beigefügt:
Bei der Beſchlußfaſſung über eine Angelegenheit, welche
nach den Beſtimmungen dieſer Verfaſſung nicht dem ganzen
Bunde gemeinſchaftlich iſt, werden die Stimmen nur der-
jenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesſtaaten gewählt
ſind, welchen die Angelegenheit gemeinſchaftlich iſt.

Dieſe Beſtimmung war analog der im Art. 7 Abſ. 4. vom
Bundesrath getroffenen Anordnung. Während die letztere aber
mit dem Weſen des Bundesrathes, der aus Vertretern der ein-
zelnen Bundesglieder beſteht, vollkommen übereinſtimmt 2), ſtand
Art. 28 Abſ. 2 im ſchärfſten Widerſpruch mit dem Weſen des
Reichstages, deſſen Mitglieder nach Art. 29 nicht Vertreter der
Bevölkerungen einzelner Staaten, ſondern des geſammten Volkes

1) Hahn Zwei Jahre Preuß.-deutſch. Politik S. 60.
2) Ganz und gar verkannt wird dieſer Unterſchied von Weſterkamp
S. 108. 109. Note.
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[500/0520] §. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages. welche aber nicht das Deutſche Volk als Geſammtheit, ſondern das Volk der einzelnen Staaten, in denen ſie gewählt ſind, zu vertreten haben. Auf dieſem Gedanken beruhte der in dem Oeſterreichiſchen Reformprojekt von 1863 enthaltene Vorſchlag einer ſogenannten Delegirten-Verſammlung. Schon damals hob der Bericht des Preußiſchen Staatsminiſteriums v. 15. Sept. 1863 hervor, daß eine ſolche Verſammlung „auf die Vertretung von Partikular- Intereſſen, nicht von Deutſchen Intereſſen hingewieſen iſt“ und „daß das Spiel und Widerſpiel dynaſtiſcher und partikulariſtiſcher Intereſſen ſein Gegengewicht und ſein Correctiv in einer wahren, aus direkter Betheiligung der ganzen Nation hervorgehenden National-Vertretung finden muß“ 1). Derſelbe Geſichtspunkt wurde bei den Preußiſchen Reform- Vorſchlägen von 1866 entſchieden betont und feſtgehalten und er hat in der Norddeutſchen Bundesverfaſſung einen klaren und un- zweideutigen Ausdruck im Art. 29 gefunden: „Die Mitglieder des Reichstages ſind Vertreter des ge- ſammten Volkes und an Aufträge und Inſtruktionen nicht gebunden.“ Bei der Erweiterung des Norddeutſchen Bundes zum Deutſchen Reiche wurde dieſer Charakter des Reichstages zwar beibehalten und der Art. 29 deshalb unverändert gelaſſen, es wurde aber zu Art. 28 der Zuſatz beigefügt: Bei der Beſchlußfaſſung über eine Angelegenheit, welche nach den Beſtimmungen dieſer Verfaſſung nicht dem ganzen Bunde gemeinſchaftlich iſt, werden die Stimmen nur der- jenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesſtaaten gewählt ſind, welchen die Angelegenheit gemeinſchaftlich iſt. Dieſe Beſtimmung war analog der im Art. 7 Abſ. 4. vom Bundesrath getroffenen Anordnung. Während die letztere aber mit dem Weſen des Bundesrathes, der aus Vertretern der ein- zelnen Bundesglieder beſteht, vollkommen übereinſtimmt 2), ſtand Art. 28 Abſ. 2 im ſchärfſten Widerſpruch mit dem Weſen des Reichstages, deſſen Mitglieder nach Art. 29 nicht Vertreter der Bevölkerungen einzelner Staaten, ſondern des geſammten Volkes 1) Hahn Zwei Jahre Preuß.-deutſch. Politik S. 60. 2) Ganz und gar verkannt wird dieſer Unterſchied von Weſterkamp S. 108. 109. Note.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/520>, abgerufen am 22.11.2024.