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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

In allen Fällen aber, in denen die Verfassungsstreitigkeit das
Verhältniß des Einzelstaates zum Reich nicht berührt, sondern eine
innere Angelegenheit des ersteren bleibt, ist das Reich nur competent,
wenn es angerufen wird. So lange das Staatsrecht 1) des betref-
fenden Bundesgliedes selbst die Mittel zu einer rechtlichen Lösung
des Streites bietet, ist die Intervention des Reiches ausgeschlossen.
Ebenso wenn die streitenden Theile auf Schiedsrichter sich einigen.
Das Reich tritt nur subsidiär zur Lösung des Conflictes ein.

Zunächst ist es nun Sache des Bundesrathes, den gütlichen Aus-
gleich zu versuchen. In den Verhältnissen ist es gegeben, daß der
Bundesrath seinen Einfluß vorzüglich auf die Regierung auszuüben
im Stande ist; in sehr viel geringerem Grade auf die Landesver-
tretung. Doch ist die Bedeutung der Thatsache, daß der Bundes-
rath entweder vollständig oder wenigstens bis zu einer gewissen
Linie auf der Seite der Regierung steht, auch für die von der
Landesvertretung einzunehmende Haltung nicht zu unterschätzen.

Wenn der Versuch gütlicher Ausgleichung nicht gelingt, so hat
der Bundesrath im Einverständniß mit dem Reichstage, also im
Wege der Reichsgesetzgebung die Streitigkeit zu erledigen. Daraus,
daß die Form der Gesetzgebung vorgeschrieben ist, folgt keines-
wegs, daß die Entscheidung nicht materiell die Bedeutung eines
Richterspruches habe. Es muß im Gegentheil als ein ideelles
Postulat eines solchen Gesetzes aufgestellt werden, daß es das be-
stehende
Recht declarirt. Denn es handelt sich um "Erledigung
von Verfassungsstreitigkeiten" d. h. von Rechtsstreitigkeiten und
die Organe des Reiches treten nur dann in Function, wenn nicht
verfassungsmäßig eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitig-
keiten bestimmt ist, sie haben also offenbar eine Aufgabe, wie sie
einer solchen Behörde obliegt, d. h. eine richterliche. Es lassen
sich auch wohl Fälle von Verfassungsstreitigkeiten denken, in denen
das Recht so zweifellos ist, daß Bundesrath und Reichstag über-
einstimmend es zur Geltung bringen.

Der "Weg der Gesetzgebung" gestattet aber ganz anderen Mo-
tiven als juristischen und ganz anderen Erwägungen als richter-
lichen einen sehr erheblichen Einfluß 2). Bundesrath und Reichs-

1) Der Art. 76 sagt "Verfassung"; es braucht dies aber nicht gerade
die "Verfassungs-Urkunde" oder das Verfassungs-Gesetz zu sein.
2) Vgl. v. Martitz Betrachtungen etc. S. 29 fg.
§. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches.

In allen Fällen aber, in denen die Verfaſſungsſtreitigkeit das
Verhältniß des Einzelſtaates zum Reich nicht berührt, ſondern eine
innere Angelegenheit des erſteren bleibt, iſt das Reich nur competent,
wenn es angerufen wird. So lange das Staatsrecht 1) des betref-
fenden Bundesgliedes ſelbſt die Mittel zu einer rechtlichen Löſung
des Streites bietet, iſt die Intervention des Reiches ausgeſchloſſen.
Ebenſo wenn die ſtreitenden Theile auf Schiedsrichter ſich einigen.
Das Reich tritt nur ſubſidiär zur Löſung des Conflictes ein.

Zunächſt iſt es nun Sache des Bundesrathes, den gütlichen Aus-
gleich zu verſuchen. In den Verhältniſſen iſt es gegeben, daß der
Bundesrath ſeinen Einfluß vorzüglich auf die Regierung auszuüben
im Stande iſt; in ſehr viel geringerem Grade auf die Landesver-
tretung. Doch iſt die Bedeutung der Thatſache, daß der Bundes-
rath entweder vollſtändig oder wenigſtens bis zu einer gewiſſen
Linie auf der Seite der Regierung ſteht, auch für die von der
Landesvertretung einzunehmende Haltung nicht zu unterſchätzen.

Wenn der Verſuch gütlicher Ausgleichung nicht gelingt, ſo hat
der Bundesrath im Einverſtändniß mit dem Reichstage, alſo im
Wege der Reichsgeſetzgebung die Streitigkeit zu erledigen. Daraus,
daß die Form der Geſetzgebung vorgeſchrieben iſt, folgt keines-
wegs, daß die Entſcheidung nicht materiell die Bedeutung eines
Richterſpruches habe. Es muß im Gegentheil als ein ideelles
Poſtulat eines ſolchen Geſetzes aufgeſtellt werden, daß es das be-
ſtehende
Recht declarirt. Denn es handelt ſich um „Erledigung
von Verfaſſungsſtreitigkeiten“ d. h. von Rechtsſtreitigkeiten und
die Organe des Reiches treten nur dann in Function, wenn nicht
verfaſſungsmäßig eine Behörde zur Entſcheidung ſolcher Streitig-
keiten beſtimmt iſt, ſie haben alſo offenbar eine Aufgabe, wie ſie
einer ſolchen Behörde obliegt, d. h. eine richterliche. Es laſſen
ſich auch wohl Fälle von Verfaſſungsſtreitigkeiten denken, in denen
das Recht ſo zweifellos iſt, daß Bundesrath und Reichstag über-
einſtimmend es zur Geltung bringen.

Der „Weg der Geſetzgebung“ geſtattet aber ganz anderen Mo-
tiven als juriſtiſchen und ganz anderen Erwägungen als richter-
lichen einen ſehr erheblichen Einfluß 2). Bundesrath und Reichs-

1) Der Art. 76 ſagt „Verfaſſung“; es braucht dies aber nicht gerade
die „Verfaſſungs-Urkunde“ oder das Verfaſſungs-Geſetz zu ſein.
2) Vgl. v. Martitz Betrachtungen ꝛc. S. 29 fg.
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[271/0291] §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. In allen Fällen aber, in denen die Verfaſſungsſtreitigkeit das Verhältniß des Einzelſtaates zum Reich nicht berührt, ſondern eine innere Angelegenheit des erſteren bleibt, iſt das Reich nur competent, wenn es angerufen wird. So lange das Staatsrecht 1) des betref- fenden Bundesgliedes ſelbſt die Mittel zu einer rechtlichen Löſung des Streites bietet, iſt die Intervention des Reiches ausgeſchloſſen. Ebenſo wenn die ſtreitenden Theile auf Schiedsrichter ſich einigen. Das Reich tritt nur ſubſidiär zur Löſung des Conflictes ein. Zunächſt iſt es nun Sache des Bundesrathes, den gütlichen Aus- gleich zu verſuchen. In den Verhältniſſen iſt es gegeben, daß der Bundesrath ſeinen Einfluß vorzüglich auf die Regierung auszuüben im Stande iſt; in ſehr viel geringerem Grade auf die Landesver- tretung. Doch iſt die Bedeutung der Thatſache, daß der Bundes- rath entweder vollſtändig oder wenigſtens bis zu einer gewiſſen Linie auf der Seite der Regierung ſteht, auch für die von der Landesvertretung einzunehmende Haltung nicht zu unterſchätzen. Wenn der Verſuch gütlicher Ausgleichung nicht gelingt, ſo hat der Bundesrath im Einverſtändniß mit dem Reichstage, alſo im Wege der Reichsgeſetzgebung die Streitigkeit zu erledigen. Daraus, daß die Form der Geſetzgebung vorgeſchrieben iſt, folgt keines- wegs, daß die Entſcheidung nicht materiell die Bedeutung eines Richterſpruches habe. Es muß im Gegentheil als ein ideelles Poſtulat eines ſolchen Geſetzes aufgeſtellt werden, daß es das be- ſtehende Recht declarirt. Denn es handelt ſich um „Erledigung von Verfaſſungsſtreitigkeiten“ d. h. von Rechtsſtreitigkeiten und die Organe des Reiches treten nur dann in Function, wenn nicht verfaſſungsmäßig eine Behörde zur Entſcheidung ſolcher Streitig- keiten beſtimmt iſt, ſie haben alſo offenbar eine Aufgabe, wie ſie einer ſolchen Behörde obliegt, d. h. eine richterliche. Es laſſen ſich auch wohl Fälle von Verfaſſungsſtreitigkeiten denken, in denen das Recht ſo zweifellos iſt, daß Bundesrath und Reichstag über- einſtimmend es zur Geltung bringen. Der „Weg der Geſetzgebung“ geſtattet aber ganz anderen Mo- tiven als juriſtiſchen und ganz anderen Erwägungen als richter- lichen einen ſehr erheblichen Einfluß 2). Bundesrath und Reichs- 1) Der Art. 76 ſagt „Verfaſſung“; es braucht dies aber nicht gerade die „Verfaſſungs-Urkunde“ oder das Verfaſſungs-Geſetz zu ſein. 2) Vgl. v. Martitz Betrachtungen ꝛc. S. 29 fg.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/291>, abgerufen am 24.11.2024.