Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.Vorwort. Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folge-sätze und die wissenschaftliche Beherrschung der neu geschaffenen Rechtsbildungen ein immer steigendes Interesse. Mit dem Ausbau der Verfassung und mit ihrer Durchführung gliedern sich die Ver- hältnisse des neuen öffentlichen Rechts immer feiner und reicher, es wird immer schwieriger, zugleich aber auch wichtiger, in den einzelnen Erscheinungen des öffentlichen Rechtslebens die einheit- lichen Grundsätze und leitenden Principien festzuhalten; es ent- stehen durch die Praxis selbst in unerschöpflicher Fülle neue Fragen und Zweifel, welche nicht nach dem politischen Wunsch oder der politischen Macht, sondern nach den Grundsätzen des bestehenden Rechts entschieden werden müssen. Nachdem die That der Neuge- staltung Deutschlands vollbracht ist, entsteht das Bedürfniß, sich zum Bewußtsein zu bringen, worin diese That bestanden hat, welchen Erfolg sie bewirkt hat. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist eine Aufgabe der Vorwort. Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folge-ſätze und die wiſſenſchaftliche Beherrſchung der neu geſchaffenen Rechtsbildungen ein immer ſteigendes Intereſſe. Mit dem Ausbau der Verfaſſung und mit ihrer Durchführung gliedern ſich die Ver- hältniſſe des neuen öffentlichen Rechts immer feiner und reicher, es wird immer ſchwieriger, zugleich aber auch wichtiger, in den einzelnen Erſcheinungen des öffentlichen Rechtslebens die einheit- lichen Grundſätze und leitenden Principien feſtzuhalten; es ent- ſtehen durch die Praxis ſelbſt in unerſchöpflicher Fülle neue Fragen und Zweifel, welche nicht nach dem politiſchen Wunſch oder der politiſchen Macht, ſondern nach den Grundſätzen des beſtehenden Rechts entſchieden werden müſſen. Nachdem die That der Neuge- ſtaltung Deutſchlands vollbracht iſt, entſteht das Bedürfniß, ſich zum Bewußtſein zu bringen, worin dieſe That beſtanden hat, welchen Erfolg ſie bewirkt hat. Die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes iſt eine Aufgabe der <TEI> <text> <front> <div n="1"> <p><pb facs="#f0014" n="VI"/><fw place="top" type="header">Vorwort.</fw><lb/> Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folge-<lb/> ſätze und die wiſſenſchaftliche Beherrſchung der neu geſchaffenen<lb/> Rechtsbildungen ein immer ſteigendes Intereſſe. Mit dem Ausbau<lb/> der Verfaſſung und mit ihrer Durchführung gliedern ſich die Ver-<lb/> hältniſſe des neuen öffentlichen Rechts immer feiner und reicher,<lb/> es wird immer ſchwieriger, zugleich aber auch wichtiger, in den<lb/> einzelnen Erſcheinungen des öffentlichen Rechtslebens die einheit-<lb/> lichen Grundſätze und leitenden Principien feſtzuhalten; es ent-<lb/> ſtehen durch die Praxis ſelbſt in unerſchöpflicher Fülle neue Fragen<lb/> und Zweifel, welche nicht nach dem politiſchen Wunſch oder der<lb/> politiſchen Macht, ſondern nach den Grundſätzen des beſtehenden<lb/> Rechts entſchieden werden müſſen. Nachdem die That der Neuge-<lb/> ſtaltung Deutſchlands vollbracht iſt, entſteht das Bedürfniß, ſich<lb/> zum Bewußtſein zu bringen, worin dieſe That beſtanden hat, welchen<lb/> Erfolg ſie bewirkt hat.</p><lb/> <p>Die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes iſt eine Aufgabe der<lb/> Rechtswiſſenſchaft. Mit einer bloßen Zuſammenſtellung der Artikel<lb/> der Reichsverfaſſung und der Reichsgeſetze unter gewiſſen Ueber-<lb/> ſchriften kann ſie nicht gelöſt werden; ebenſowenig durch die Hin-<lb/> zufügung von Stellen aus den Motiven der Geſetzesvorlagen und<lb/> aus den Verhandlungen des Reichstages, welche meiſtens doch nur<lb/> Erwägungen <hi rendition="#aq">de lege ferenda</hi> enthalten. Es handelt ſich vielmehr<lb/> um die Analyſe der neu entſtandenen öffentlich rechtlichen Ver-<lb/> hältniſſe, um die Feſtſtellung der juriſtiſchen Natur derſelben und<lb/> um die Auffindung der allgemeineren Rechtsbegriffe, denen ſie<lb/> untergeordnet ſind. Man darf ſich über dieſe Aufgabe nicht mit<lb/> der Verſicherung hinwegſetzen, daß die Verfaſſung des Deutſchen<lb/> Reiches ſo eigenartig ſei, daß ſie unter keine der herkömmlichen<lb/> juriſtiſchen Begriffskategorien paſſe. Eigenthümlich iſt der Deutſchen<lb/> Verfaſſung, ſowie jeder concreten Rechtsbildung, nur die thatſäch-<lb/> liche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe;<lb/> dagegen iſt die Schaffung eines neuen Rechtsinſtitutes, welches<lb/> einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht un-<lb/> tergeordnet werden kann, gerade ſo unmöglich wie die Erfindung<lb/> einer neuen logiſchen Kategorie oder die Entſtehung einer neuen<lb/> Naturkraft. Es kann ſchwierig ſein, bei einer neuen Erſcheinung<lb/> im Rechtsleben zu erkennen, aus welchen juriſtiſchen Elementen<lb/> das rechtliche Weſen derſelben zuſammengeſetzt iſt; aber die wiſſen-<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [VI/0014]
Vorwort.
Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folge-
ſätze und die wiſſenſchaftliche Beherrſchung der neu geſchaffenen
Rechtsbildungen ein immer ſteigendes Intereſſe. Mit dem Ausbau
der Verfaſſung und mit ihrer Durchführung gliedern ſich die Ver-
hältniſſe des neuen öffentlichen Rechts immer feiner und reicher,
es wird immer ſchwieriger, zugleich aber auch wichtiger, in den
einzelnen Erſcheinungen des öffentlichen Rechtslebens die einheit-
lichen Grundſätze und leitenden Principien feſtzuhalten; es ent-
ſtehen durch die Praxis ſelbſt in unerſchöpflicher Fülle neue Fragen
und Zweifel, welche nicht nach dem politiſchen Wunſch oder der
politiſchen Macht, ſondern nach den Grundſätzen des beſtehenden
Rechts entſchieden werden müſſen. Nachdem die That der Neuge-
ſtaltung Deutſchlands vollbracht iſt, entſteht das Bedürfniß, ſich
zum Bewußtſein zu bringen, worin dieſe That beſtanden hat, welchen
Erfolg ſie bewirkt hat.
Die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes iſt eine Aufgabe der
Rechtswiſſenſchaft. Mit einer bloßen Zuſammenſtellung der Artikel
der Reichsverfaſſung und der Reichsgeſetze unter gewiſſen Ueber-
ſchriften kann ſie nicht gelöſt werden; ebenſowenig durch die Hin-
zufügung von Stellen aus den Motiven der Geſetzesvorlagen und
aus den Verhandlungen des Reichstages, welche meiſtens doch nur
Erwägungen de lege ferenda enthalten. Es handelt ſich vielmehr
um die Analyſe der neu entſtandenen öffentlich rechtlichen Ver-
hältniſſe, um die Feſtſtellung der juriſtiſchen Natur derſelben und
um die Auffindung der allgemeineren Rechtsbegriffe, denen ſie
untergeordnet ſind. Man darf ſich über dieſe Aufgabe nicht mit
der Verſicherung hinwegſetzen, daß die Verfaſſung des Deutſchen
Reiches ſo eigenartig ſei, daß ſie unter keine der herkömmlichen
juriſtiſchen Begriffskategorien paſſe. Eigenthümlich iſt der Deutſchen
Verfaſſung, ſowie jeder concreten Rechtsbildung, nur die thatſäch-
liche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe;
dagegen iſt die Schaffung eines neuen Rechtsinſtitutes, welches
einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht un-
tergeordnet werden kann, gerade ſo unmöglich wie die Erfindung
einer neuen logiſchen Kategorie oder die Entſtehung einer neuen
Naturkraft. Es kann ſchwierig ſein, bei einer neuen Erſcheinung
im Rechtsleben zu erkennen, aus welchen juriſtiſchen Elementen
das rechtliche Weſen derſelben zuſammengeſetzt iſt; aber die wiſſen-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |