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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich.
die Reichsverfassung selbst dieses Prinzip, wie bereits S. 94 ausge-
führt ist, in einzelnen Beziehungen durchbrochen und kraft der
dem Reiche zustehenden souveränen Gewalt kann es durch ein, nach
Art. 78 zu Stande gekommenes, die Verfassung abänderndes Ge-
setz die Selbstverwaltung der Einzelstaaten für gewisse Angelegen-
heiten beseitigen oder beschränken. Das Maaß der den Einzel-
staaten überlassenen Selbstverwaltung ist auf den verschiedenen
Gebieten der staatlichen Thätigkeit höchst mannigfach bestimmt.
Während z. B. die Handhabung der Gewerbepolizei den Einzel-
staaten vollständig verblieben ist und das Reich in der Gewerbe-
ordnung nur die Rechtsgrundsätze, nach denen die Verwaltung zu
führen ist, aufgestellt hat, ist die Selbstverwaltung der Zölle an
feste Formen und Regeln gebunden und einer stetigen, unmittel-
baren Controlle unterworfen. Bei der Darstellung der einzelnen
Verwaltungszweige wird die Gränzlinie der Verwaltungscompetenz
des Reichs und der Einzelstaaten näher festgestellt werden.

3) Neben den der Gesetzgebung und Aufsicht des Reichs un-
terstellten Angelegenheiten ist noch ein großer Kreis von öffentlich
rechtlichen Funktionen vorhanden, welche den Einzelstaaten ver-
blieben sind. Es gehört dahin zunächst die Organisation der Ein-
zelstaaten selbst, die Normirung des Thronfolgerechts, Wahlrechts,
der Beamtenverfassung, der Provinzial-, Kreis- und Gemeindever-
fassung, ferner das gesammte Gebiet der directen Steuern, das
Unterrichtswesen u. s. w. Hinsichtlich dieser Angelegenheiten sind
die Einzelstaaten nicht Selbstverwaltungskörper des Reiches, sondern
ihre Stellung ist eine freiere und unabhängigere, indem sie
weder der Gesetzgebung noch der Oberaufsicht des
Reiches unterworfen sind
. Freilich können diese Angelegen-
heiten nicht völlig getrennt und losgelöst werden von denjenigen,
auf denen das Reich competent ist; die verschiedenen Lebensfunc-
tionen des Staates hängen innerlich so fest zusammen, durchdringen
und bestimmen sich gegenseitig so vielfach, sind so ineinander ge-
schlungen und verwickelt, daß es unmöglich ist, sie durch einen
tiefen Schnitt von einander zu trennen oder zwischen ihnen eine
Competenzgrenze wie eine chinesische Mauer aufzurichten. Die
Einzelstaaten empfinden auf allen Gebieten des staatlichen Lebens
die höhere Macht, der sie unterworfen sind, da sie sich nur inner-
halb des Raumes bewegen können, den die Reichsgesetzgebung

§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
die Reichsverfaſſung ſelbſt dieſes Prinzip, wie bereits S. 94 ausge-
führt iſt, in einzelnen Beziehungen durchbrochen und kraft der
dem Reiche zuſtehenden ſouveränen Gewalt kann es durch ein, nach
Art. 78 zu Stande gekommenes, die Verfaſſung abänderndes Ge-
ſetz die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten für gewiſſe Angelegen-
heiten beſeitigen oder beſchränken. Das Maaß der den Einzel-
ſtaaten überlaſſenen Selbſtverwaltung iſt auf den verſchiedenen
Gebieten der ſtaatlichen Thätigkeit höchſt mannigfach beſtimmt.
Während z. B. die Handhabung der Gewerbepolizei den Einzel-
ſtaaten vollſtändig verblieben iſt und das Reich in der Gewerbe-
ordnung nur die Rechtsgrundſätze, nach denen die Verwaltung zu
führen iſt, aufgeſtellt hat, iſt die Selbſtverwaltung der Zölle an
feſte Formen und Regeln gebunden und einer ſtetigen, unmittel-
baren Controlle unterworfen. Bei der Darſtellung der einzelnen
Verwaltungszweige wird die Gränzlinie der Verwaltungscompetenz
des Reichs und der Einzelſtaaten näher feſtgeſtellt werden.

3) Neben den der Geſetzgebung und Aufſicht des Reichs un-
terſtellten Angelegenheiten iſt noch ein großer Kreis von öffentlich
rechtlichen Funktionen vorhanden, welche den Einzelſtaaten ver-
blieben ſind. Es gehört dahin zunächſt die Organiſation der Ein-
zelſtaaten ſelbſt, die Normirung des Thronfolgerechts, Wahlrechts,
der Beamtenverfaſſung, der Provinzial-, Kreis- und Gemeindever-
faſſung, ferner das geſammte Gebiet der directen Steuern, das
Unterrichtsweſen u. ſ. w. Hinſichtlich dieſer Angelegenheiten ſind
die Einzelſtaaten nicht Selbſtverwaltungskörper des Reiches, ſondern
ihre Stellung iſt eine freiere und unabhängigere, indem ſie
weder der Geſetzgebung noch der Oberaufſicht des
Reiches unterworfen ſind
. Freilich können dieſe Angelegen-
heiten nicht völlig getrennt und losgelöſt werden von denjenigen,
auf denen das Reich competent iſt; die verſchiedenen Lebensfunc-
tionen des Staates hängen innerlich ſo feſt zuſammen, durchdringen
und beſtimmen ſich gegenſeitig ſo vielfach, ſind ſo ineinander ge-
ſchlungen und verwickelt, daß es unmöglich iſt, ſie durch einen
tiefen Schnitt von einander zu trennen oder zwiſchen ihnen eine
Competenzgrenze wie eine chineſiſche Mauer aufzurichten. Die
Einzelſtaaten empfinden auf allen Gebieten des ſtaatlichen Lebens
die höhere Macht, der ſie unterworfen ſind, da ſie ſich nur inner-
halb des Raumes bewegen können, den die Reichsgeſetzgebung

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[105/0125] §. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich. die Reichsverfaſſung ſelbſt dieſes Prinzip, wie bereits S. 94 ausge- führt iſt, in einzelnen Beziehungen durchbrochen und kraft der dem Reiche zuſtehenden ſouveränen Gewalt kann es durch ein, nach Art. 78 zu Stande gekommenes, die Verfaſſung abänderndes Ge- ſetz die Selbſtverwaltung der Einzelſtaaten für gewiſſe Angelegen- heiten beſeitigen oder beſchränken. Das Maaß der den Einzel- ſtaaten überlaſſenen Selbſtverwaltung iſt auf den verſchiedenen Gebieten der ſtaatlichen Thätigkeit höchſt mannigfach beſtimmt. Während z. B. die Handhabung der Gewerbepolizei den Einzel- ſtaaten vollſtändig verblieben iſt und das Reich in der Gewerbe- ordnung nur die Rechtsgrundſätze, nach denen die Verwaltung zu führen iſt, aufgeſtellt hat, iſt die Selbſtverwaltung der Zölle an feſte Formen und Regeln gebunden und einer ſtetigen, unmittel- baren Controlle unterworfen. Bei der Darſtellung der einzelnen Verwaltungszweige wird die Gränzlinie der Verwaltungscompetenz des Reichs und der Einzelſtaaten näher feſtgeſtellt werden. 3) Neben den der Geſetzgebung und Aufſicht des Reichs un- terſtellten Angelegenheiten iſt noch ein großer Kreis von öffentlich rechtlichen Funktionen vorhanden, welche den Einzelſtaaten ver- blieben ſind. Es gehört dahin zunächſt die Organiſation der Ein- zelſtaaten ſelbſt, die Normirung des Thronfolgerechts, Wahlrechts, der Beamtenverfaſſung, der Provinzial-, Kreis- und Gemeindever- faſſung, ferner das geſammte Gebiet der directen Steuern, das Unterrichtsweſen u. ſ. w. Hinſichtlich dieſer Angelegenheiten ſind die Einzelſtaaten nicht Selbſtverwaltungskörper des Reiches, ſondern ihre Stellung iſt eine freiere und unabhängigere, indem ſie weder der Geſetzgebung noch der Oberaufſicht des Reiches unterworfen ſind. Freilich können dieſe Angelegen- heiten nicht völlig getrennt und losgelöſt werden von denjenigen, auf denen das Reich competent iſt; die verſchiedenen Lebensfunc- tionen des Staates hängen innerlich ſo feſt zuſammen, durchdringen und beſtimmen ſich gegenſeitig ſo vielfach, ſind ſo ineinander ge- ſchlungen und verwickelt, daß es unmöglich iſt, ſie durch einen tiefen Schnitt von einander zu trennen oder zwiſchen ihnen eine Competenzgrenze wie eine chineſiſche Mauer aufzurichten. Die Einzelſtaaten empfinden auf allen Gebieten des ſtaatlichen Lebens die höhere Macht, der ſie unterworfen ſind, da ſie ſich nur inner- halb des Raumes bewegen können, den die Reichsgeſetzgebung

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/125>, abgerufen am 30.04.2024.