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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Im Gegensatz dazu hat sich die Anschauung geltend gemacht,
daß den einzelnen Deutschen Staaten als staatsrechtliche Sozietät
verbunden gedacht, die Reichsgewalt zusteht. Zu gemeinschaftlicher
Ausübung bestimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete
zustehender Befugnisse seien sie einen Bund eingegangen und die
Reichsgewalt stehe ihnen daher gemeinschaftlich zu nach Art des
Condominium pro indiviso oder der Ganerbschaft 1). Diese
Theorie leugnet überhaupt den staatlichen Charakter des Reiches
und die Selbstständigkeit der dem Reiche zustehenden Hoheitsrechte.
Für die Einzelstaaten ist sie nur scheinbar günstiger, denn die
Rechte der Einzelstaaten sind ihrem Inhalte nach keine größeren,
wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So-
zietät oder wenn man sie als Mitglieder einer juristischen Per-
son denkt.

Jede juristische Person ist nun aber an sich willens- und
handlungsunfähig; sie bedarf eines Vertreters, sie bedarf willens-
und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand-
lungen als Wille und Rechtshandlungen der Person gelten. Dies
gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch
ergiebt sich die Nothwendigkeit eines Trägers der staatlichen Ge-
walt, der an und für sich (von Natur) willens- und handlungs-
fähig ist. Auch dieser Träger der Staatsgewalt wird "Souverän"
genannt, indem er die dem Staat als gedachte Person zustehende
rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unsere Kulturperiode
allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieser Träger
der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch sein, oder
die Gesammtheit aller Mitglieder des Staates.

Im Deutschen Reich ist das letztere Prinzip adoptirt. Das

staates gemäß, als Grundlage "das in den Einzelstaaten gruppirte (Nord)-
Deutsche Volk an." Nach unserer Auffassung ist das deutsche Volk allerdings
das letzte natürliche Substrat, jedoch zunächst und unmittelbar nur für die
Einzelstaaten und erst diese, als öffentlichrechtliche Personen sind das Substrat
des Reiches. An v. Gerber schließt sich fast wörtlich an v. Rönne S. 29,
jedoch mit dem komischen Mißverständniß, daß er die Einzelstaaten des Reiches
"als natürliche Grundlage des Deutschen Volkes" (!) erklärt. Vgl. ferner v.
Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.
1) So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des
Reiches mit der Zusammenlegung mehrerer, verschiedenen Personen gehörigen
Grundstücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht.
§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Im Gegenſatz dazu hat ſich die Anſchauung geltend gemacht,
daß den einzelnen Deutſchen Staaten als ſtaatsrechtliche Sozietät
verbunden gedacht, die Reichsgewalt zuſteht. Zu gemeinſchaftlicher
Ausübung beſtimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete
zuſtehender Befugniſſe ſeien ſie einen Bund eingegangen und die
Reichsgewalt ſtehe ihnen daher gemeinſchaftlich zu nach Art des
Condominium pro indiviso oder der Ganerbſchaft 1). Dieſe
Theorie leugnet überhaupt den ſtaatlichen Charakter des Reiches
und die Selbſtſtändigkeit der dem Reiche zuſtehenden Hoheitsrechte.
Für die Einzelſtaaten iſt ſie nur ſcheinbar günſtiger, denn die
Rechte der Einzelſtaaten ſind ihrem Inhalte nach keine größeren,
wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So-
zietät oder wenn man ſie als Mitglieder einer juriſtiſchen Per-
ſon denkt.

Jede juriſtiſche Perſon iſt nun aber an ſich willens- und
handlungsunfähig; ſie bedarf eines Vertreters, ſie bedarf willens-
und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand-
lungen als Wille und Rechtshandlungen der Perſon gelten. Dies
gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch
ergiebt ſich die Nothwendigkeit eines Trägers der ſtaatlichen Ge-
walt, der an und für ſich (von Natur) willens- und handlungs-
fähig iſt. Auch dieſer Träger der Staatsgewalt wird „Souverän“
genannt, indem er die dem Staat als gedachte Perſon zuſtehende
rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unſere Kulturperiode
allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieſer Träger
der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch ſein, oder
die Geſammtheit aller Mitglieder des Staates.

Im Deutſchen Reich iſt das letztere Prinzip adoptirt. Das

ſtaates gemäß, als Grundlage „das in den Einzelſtaaten gruppirte (Nord)-
Deutſche Volk an.“ Nach unſerer Auffaſſung iſt das deutſche Volk allerdings
das letzte natürliche Subſtrat, jedoch zunächſt und unmittelbar nur für die
Einzelſtaaten und erſt dieſe, als öffentlichrechtliche Perſonen ſind das Subſtrat
des Reiches. An v. Gerber ſchließt ſich faſt wörtlich an v. Rönne S. 29,
jedoch mit dem komiſchen Mißverſtändniß, daß er die Einzelſtaaten des Reiches
„als natürliche Grundlage des Deutſchen Volkes“ (!) erklärt. Vgl. ferner v.
Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.
1) So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des
Reiches mit der Zuſammenlegung mehrerer, verſchiedenen Perſonen gehörigen
Grundſtücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht.
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[87/0107] §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Im Gegenſatz dazu hat ſich die Anſchauung geltend gemacht, daß den einzelnen Deutſchen Staaten als ſtaatsrechtliche Sozietät verbunden gedacht, die Reichsgewalt zuſteht. Zu gemeinſchaftlicher Ausübung beſtimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete zuſtehender Befugniſſe ſeien ſie einen Bund eingegangen und die Reichsgewalt ſtehe ihnen daher gemeinſchaftlich zu nach Art des Condominium pro indiviso oder der Ganerbſchaft 1). Dieſe Theorie leugnet überhaupt den ſtaatlichen Charakter des Reiches und die Selbſtſtändigkeit der dem Reiche zuſtehenden Hoheitsrechte. Für die Einzelſtaaten iſt ſie nur ſcheinbar günſtiger, denn die Rechte der Einzelſtaaten ſind ihrem Inhalte nach keine größeren, wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So- zietät oder wenn man ſie als Mitglieder einer juriſtiſchen Per- ſon denkt. Jede juriſtiſche Perſon iſt nun aber an ſich willens- und handlungsunfähig; ſie bedarf eines Vertreters, ſie bedarf willens- und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand- lungen als Wille und Rechtshandlungen der Perſon gelten. Dies gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch ergiebt ſich die Nothwendigkeit eines Trägers der ſtaatlichen Ge- walt, der an und für ſich (von Natur) willens- und handlungs- fähig iſt. Auch dieſer Träger der Staatsgewalt wird „Souverän“ genannt, indem er die dem Staat als gedachte Perſon zuſtehende rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unſere Kulturperiode allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieſer Träger der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch ſein, oder die Geſammtheit aller Mitglieder des Staates. Im Deutſchen Reich iſt das letztere Prinzip adoptirt. Das 3) 1) So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des Reiches mit der Zuſammenlegung mehrerer, verſchiedenen Perſonen gehörigen Grundſtücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht. 3) ſtaates gemäß, als Grundlage „das in den Einzelſtaaten gruppirte (Nord)- Deutſche Volk an.“ Nach unſerer Auffaſſung iſt das deutſche Volk allerdings das letzte natürliche Subſtrat, jedoch zunächſt und unmittelbar nur für die Einzelſtaaten und erſt dieſe, als öffentlichrechtliche Perſonen ſind das Subſtrat des Reiches. An v. Gerber ſchließt ſich faſt wörtlich an v. Rönne S. 29, jedoch mit dem komiſchen Mißverſtändniß, daß er die Einzelſtaaten des Reiches „als natürliche Grundlage des Deutſchen Volkes“ (!) erklärt. Vgl. ferner v. Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/107>, abgerufen am 30.04.2024.