Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.rissen "Falstaff und seine Gesellen" schrieb, ein fast übermäßig reicher goldener Rahmen um die geistvollen Bilder -- seine eigentliche Dichterkraft hatte einen unheilbaren Schlag erlitten, und der letzte Versuch, wieder die alten Bahnen zu betreten, endigte mit völliger Erschöpfung und bereitete einen neuen Ausbruch feines Nervenleidens vor, das im Sommer dieses Jahres mit großer Heftigkeit ihn überfiel, dann einige Monate lang zurücktrat, bis es in der letzten Woche vor seinem Ende sich wieder ankündigte. Die Aufgabe, das Bild des theuren Verewigten aus treuer Erinnerung zu zeichnen, den Leelenadel und die unerschöpfliche Güte des Menschen, die Tiefe und Feinheit, den Ernst und die heitere Grazie, die volkstümliche Naivetät und reiche Bildung des Dichters auch nur in raschen Umrissen zu schildern, würde den hier vergönnten Raum weit überschreiten. Auch versagt in der frischen Trauer um einen so schweren Verlust dem Ueberlebenden die Fähigkeit, das ihm persönlich Werthvolle von dem zu scheiden, was Fremderen überliefert zu werden verdient. Bei der Herausgabe der Gesammelten Werke des Freundes hofft er das hier Versäumte nachzuholen. Nur über die Novelle, die hier mitgetheilt wird, glaubt er ein Wort der Rechenschaft dem Dahingeschiedenen sowohl wie den Lesern schuldig zu sein Die Novelle findet sich in ihrer ersten Fassung im 2. Bande der "Erzählungen", der unter dem besonderen Titel "Neun Bücher Denk- und Glaubwürdigkeiten" im I. 1859 erschien, und wurde dort nach mancherlei literarisch-satirischen Humoresken zwischen dem sechsten und siebenten Buch als ein kleiner "Roman" eingeschaltet. Wer sie in jener Form gelesen hat, wird sich erinnern, daß der tragische Humor, der in dem Tode der beiden Väter gipfelt, wieder ins Gemüthlich-Idyllische ausklingt, indem die Tubus, welchen die Väter ihre so gewaltsam zerstörte Freundschaft verdanken, die Kinder endlich wieder zusammenführen. Mit diesem Schluß, der theils im Ton, theils in der Erfindung nicht auf der Höhe des Uebrigen steht, war der Dichter selbst nicht mehr zufrieden. Er begann eine neue Fortsetzung, die sich aber so weitläufig anließ, daß eine Doppelnovelle entstanden wäre, die nicht minder die Einheit des Tons gefährdet haben würde, rissen „Falstaff und seine Gesellen“ schrieb, ein fast übermäßig reicher goldener Rahmen um die geistvollen Bilder — seine eigentliche Dichterkraft hatte einen unheilbaren Schlag erlitten, und der letzte Versuch, wieder die alten Bahnen zu betreten, endigte mit völliger Erschöpfung und bereitete einen neuen Ausbruch feines Nervenleidens vor, das im Sommer dieses Jahres mit großer Heftigkeit ihn überfiel, dann einige Monate lang zurücktrat, bis es in der letzten Woche vor seinem Ende sich wieder ankündigte. Die Aufgabe, das Bild des theuren Verewigten aus treuer Erinnerung zu zeichnen, den Leelenadel und die unerschöpfliche Güte des Menschen, die Tiefe und Feinheit, den Ernst und die heitere Grazie, die volkstümliche Naivetät und reiche Bildung des Dichters auch nur in raschen Umrissen zu schildern, würde den hier vergönnten Raum weit überschreiten. Auch versagt in der frischen Trauer um einen so schweren Verlust dem Ueberlebenden die Fähigkeit, das ihm persönlich Werthvolle von dem zu scheiden, was Fremderen überliefert zu werden verdient. Bei der Herausgabe der Gesammelten Werke des Freundes hofft er das hier Versäumte nachzuholen. Nur über die Novelle, die hier mitgetheilt wird, glaubt er ein Wort der Rechenschaft dem Dahingeschiedenen sowohl wie den Lesern schuldig zu sein Die Novelle findet sich in ihrer ersten Fassung im 2. Bande der „Erzählungen“, der unter dem besonderen Titel „Neun Bücher Denk- und Glaubwürdigkeiten“ im I. 1859 erschien, und wurde dort nach mancherlei literarisch-satirischen Humoresken zwischen dem sechsten und siebenten Buch als ein kleiner „Roman“ eingeschaltet. Wer sie in jener Form gelesen hat, wird sich erinnern, daß der tragische Humor, der in dem Tode der beiden Väter gipfelt, wieder ins Gemüthlich-Idyllische ausklingt, indem die Tubus, welchen die Väter ihre so gewaltsam zerstörte Freundschaft verdanken, die Kinder endlich wieder zusammenführen. Mit diesem Schluß, der theils im Ton, theils in der Erfindung nicht auf der Höhe des Uebrigen steht, war der Dichter selbst nicht mehr zufrieden. 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Auch versagt in der frischen Trauer um einen so schweren Verlust dem Ueberlebenden die Fähigkeit, das ihm persönlich Werthvolle von dem zu scheiden, was Fremderen überliefert zu werden verdient. Bei der Herausgabe der Gesammelten Werke des Freundes hofft er das hier Versäumte nachzuholen. Nur über die Novelle, die hier mitgetheilt wird, glaubt er ein Wort der Rechenschaft dem Dahingeschiedenen sowohl wie den Lesern schuldig zu sein</p><lb/> <p>Die Novelle findet sich in ihrer ersten Fassung im 2. Bande der „Erzählungen“, der unter dem besonderen Titel „Neun Bücher Denk- und Glaubwürdigkeiten“ im I. 1859 erschien, und wurde dort nach mancherlei literarisch-satirischen Humoresken zwischen dem sechsten und siebenten Buch als ein kleiner „Roman“ eingeschaltet. Wer sie in jener Form gelesen hat, wird sich erinnern, daß der tragische Humor, der in dem Tode der beiden Väter gipfelt, wieder ins Gemüthlich-Idyllische ausklingt, indem die Tubus, welchen die Väter ihre so gewaltsam zerstörte Freundschaft verdanken, die Kinder endlich wieder zusammenführen. Mit diesem Schluß, der theils im Ton, theils in der Erfindung nicht auf der Höhe des Uebrigen steht, war der Dichter selbst nicht mehr zufrieden. Er begann eine neue Fortsetzung, die sich aber so weitläufig anließ, daß eine Doppelnovelle entstanden wäre, die nicht minder die Einheit des Tons gefährdet haben würde,<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0008]
rissen „Falstaff und seine Gesellen“ schrieb, ein fast übermäßig reicher goldener Rahmen um die geistvollen Bilder — seine eigentliche Dichterkraft hatte einen unheilbaren Schlag erlitten, und der letzte Versuch, wieder die alten Bahnen zu betreten, endigte mit völliger Erschöpfung und bereitete einen neuen Ausbruch feines Nervenleidens vor, das im Sommer dieses Jahres mit großer Heftigkeit ihn überfiel, dann einige Monate lang zurücktrat, bis es in der letzten Woche vor seinem Ende sich wieder ankündigte.
Die Aufgabe, das Bild des theuren Verewigten aus treuer Erinnerung zu zeichnen, den Leelenadel und die unerschöpfliche Güte des Menschen, die Tiefe und Feinheit, den Ernst und die heitere Grazie, die volkstümliche Naivetät und reiche Bildung des Dichters auch nur in raschen Umrissen zu schildern, würde den hier vergönnten Raum weit überschreiten. Auch versagt in der frischen Trauer um einen so schweren Verlust dem Ueberlebenden die Fähigkeit, das ihm persönlich Werthvolle von dem zu scheiden, was Fremderen überliefert zu werden verdient. Bei der Herausgabe der Gesammelten Werke des Freundes hofft er das hier Versäumte nachzuholen. Nur über die Novelle, die hier mitgetheilt wird, glaubt er ein Wort der Rechenschaft dem Dahingeschiedenen sowohl wie den Lesern schuldig zu sein
Die Novelle findet sich in ihrer ersten Fassung im 2. Bande der „Erzählungen“, der unter dem besonderen Titel „Neun Bücher Denk- und Glaubwürdigkeiten“ im I. 1859 erschien, und wurde dort nach mancherlei literarisch-satirischen Humoresken zwischen dem sechsten und siebenten Buch als ein kleiner „Roman“ eingeschaltet. Wer sie in jener Form gelesen hat, wird sich erinnern, daß der tragische Humor, der in dem Tode der beiden Väter gipfelt, wieder ins Gemüthlich-Idyllische ausklingt, indem die Tubus, welchen die Väter ihre so gewaltsam zerstörte Freundschaft verdanken, die Kinder endlich wieder zusammenführen. Mit diesem Schluß, der theils im Ton, theils in der Erfindung nicht auf der Höhe des Uebrigen steht, war der Dichter selbst nicht mehr zufrieden. Er begann eine neue Fortsetzung, die sich aber so weitläufig anließ, daß eine Doppelnovelle entstanden wäre, die nicht minder die Einheit des Tons gefährdet haben würde,
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(2017-03-15T14:08:57Z)
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Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
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