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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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wenn die jungen Männer, die ihn um seiner Leutseligkeit willen lieb¬
ten, sich nicht zu mäßigen gewußt hätten, und wenn nicht Christine,
die sich ihrer Anziehungskraft vollkommen bewußt zu sein schien, plötz¬
lich vom Tanzboden verschwunden wäre. Als er sie nicht mehr sah,
gab er zwar den Gedanken ihr nachzugehen mit stolzer Ueberwindung
auf, aber die Lustbarkeit hatte allen Reiz für ihn verloren und die
eintönige Tanzmusik klang ihm wie ein ewig wiederkehrender Spott.
Er blieb noch eine Weile in dumpfem Brüten sitzen, machte einige
vergebliche Versuche mit den Lustigen lustig zu sein, und entfernte
sich dann, um einen schweren Kopf und ein noch schwereres Herz zur
Ruhe zu legen.

Den andern Tag wurde er zum Pfarrer beschieden. Er zerbrach
sich vergebens den Kopf, was die Ursache dieser Vorladung sein möge.
Der Pfarrer, ein dürres kleines Männlein, kanzelte ihn heftig ab,
daß er sich der Kinderlehre entziehe, und dadurch so göttliche als fürst¬
liche Gebote übertrete; bis ins vier und zwanzigste Jahr habe ein ledi¬
ger Bursche die Kinderlehre zu besuchen, schärfte er ihm ein, und er¬
öffnete ihm, es sei von löblichem Kirchenconvent beschlossen worden,
künftig strenger auf die Befolgung der Vorschrift zu halten und jedes
Wegbleiben unnachsichtlich mit einem Sechser "in den Heiligen", bei
längerem verstocktem Beharren aber sogar mit Einsperrung ins "Zucht¬
häuslen" zu bestrafen; wenn er sich wieder beigehen lasse, die Kinder¬
lehre zu schwänzen, so werde er, der Pfarrer, ihn unfehlbar auf¬
schreiben lassen, und bei dem Herrn Amtmann und den Conventsrichtern
den Fall zur Anzeige bringen. Damit hatte er seinen Bescheid und
durfte gehen. Kaum vermochte er sich zu halten, daß er nicht aufbrauste.
Bei seinem Stolz und vollends in seiner jetzigen Stimmung konnte
ihm nichts so quer in den Weg kommen, als die Zumuthung, in sei¬
nem Alter, noch drei Jahre lang, zur Kinderlehre zu gehen und das
tonlose Poltern des Pfarrers über die Rechtfertigung durch den Glau¬
ben anzuhören, während doch jetzt sein Dichten und Trachten darauf
gerichtet war, durch die Liebe von allem Uebel erlöst zu werden. Das
kommt mir geschlichen! sagte er zu sich, im Pfarrhofe noch einmal
grimmig nach dem Fenster emporblickend, wo ihm gepredigt worden
war. Eben so gut hätt' man mir die Ruthe andictiren können, wenn
ich noch ein Kind sein soll. Nun, ich geh' eben nicht hin und zahl'

wenn die jungen Männer, die ihn um ſeiner Leutſeligkeit willen lieb¬
ten, ſich nicht zu mäßigen gewußt hätten, und wenn nicht Chriſtine,
die ſich ihrer Anziehungskraft vollkommen bewußt zu ſein ſchien, plötz¬
lich vom Tanzboden verſchwunden wäre. Als er ſie nicht mehr ſah,
gab er zwar den Gedanken ihr nachzugehen mit ſtolzer Ueberwindung
auf, aber die Luſtbarkeit hatte allen Reiz für ihn verloren und die
eintönige Tanzmuſik klang ihm wie ein ewig wiederkehrender Spott.
Er blieb noch eine Weile in dumpfem Brüten ſitzen, machte einige
vergebliche Verſuche mit den Luſtigen luſtig zu ſein, und entfernte
ſich dann, um einen ſchweren Kopf und ein noch ſchwereres Herz zur
Ruhe zu legen.

Den andern Tag wurde er zum Pfarrer beſchieden. Er zerbrach
ſich vergebens den Kopf, was die Urſache dieſer Vorladung ſein möge.
Der Pfarrer, ein dürres kleines Männlein, kanzelte ihn heftig ab,
daß er ſich der Kinderlehre entziehe, und dadurch ſo göttliche als fürſt¬
liche Gebote übertrete; bis ins vier und zwanzigſte Jahr habe ein ledi¬
ger Burſche die Kinderlehre zu beſuchen, ſchärfte er ihm ein, und er¬
öffnete ihm, es ſei von löblichem Kirchenconvent beſchloſſen worden,
künftig ſtrenger auf die Befolgung der Vorſchrift zu halten und jedes
Wegbleiben unnachſichtlich mit einem Sechſer „in den Heiligen“, bei
längerem verſtocktem Beharren aber ſogar mit Einſperrung ins „Zucht¬
häuslen“ zu beſtrafen; wenn er ſich wieder beigehen laſſe, die Kinder¬
lehre zu ſchwänzen, ſo werde er, der Pfarrer, ihn unfehlbar auf¬
ſchreiben laſſen, und bei dem Herrn Amtmann und den Conventsrichtern
den Fall zur Anzeige bringen. Damit hatte er ſeinen Beſcheid und
durfte gehen. Kaum vermochte er ſich zu halten, daß er nicht aufbrauste.
Bei ſeinem Stolz und vollends in ſeiner jetzigen Stimmung konnte
ihm nichts ſo quer in den Weg kommen, als die Zumuthung, in ſei¬
nem Alter, noch drei Jahre lang, zur Kinderlehre zu gehen und das
tonloſe Poltern des Pfarrers über die Rechtfertigung durch den Glau¬
ben anzuhören, während doch jetzt ſein Dichten und Trachten darauf
gerichtet war, durch die Liebe von allem Uebel erlöst zu werden. Das
kommt mir geſchlichen! ſagte er zu ſich, im Pfarrhofe noch einmal
grimmig nach dem Fenſter emporblickend, wo ihm gepredigt worden
war. Eben ſo gut hätt' man mir die Ruthe andictiren können, wenn
ich noch ein Kind ſein ſoll. Nun, ich geh' eben nicht hin und zahl'

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[82/0098] wenn die jungen Männer, die ihn um ſeiner Leutſeligkeit willen lieb¬ ten, ſich nicht zu mäßigen gewußt hätten, und wenn nicht Chriſtine, die ſich ihrer Anziehungskraft vollkommen bewußt zu ſein ſchien, plötz¬ lich vom Tanzboden verſchwunden wäre. Als er ſie nicht mehr ſah, gab er zwar den Gedanken ihr nachzugehen mit ſtolzer Ueberwindung auf, aber die Luſtbarkeit hatte allen Reiz für ihn verloren und die eintönige Tanzmuſik klang ihm wie ein ewig wiederkehrender Spott. Er blieb noch eine Weile in dumpfem Brüten ſitzen, machte einige vergebliche Verſuche mit den Luſtigen luſtig zu ſein, und entfernte ſich dann, um einen ſchweren Kopf und ein noch ſchwereres Herz zur Ruhe zu legen. Den andern Tag wurde er zum Pfarrer beſchieden. Er zerbrach ſich vergebens den Kopf, was die Urſache dieſer Vorladung ſein möge. Der Pfarrer, ein dürres kleines Männlein, kanzelte ihn heftig ab, daß er ſich der Kinderlehre entziehe, und dadurch ſo göttliche als fürſt¬ liche Gebote übertrete; bis ins vier und zwanzigſte Jahr habe ein ledi¬ ger Burſche die Kinderlehre zu beſuchen, ſchärfte er ihm ein, und er¬ öffnete ihm, es ſei von löblichem Kirchenconvent beſchloſſen worden, künftig ſtrenger auf die Befolgung der Vorſchrift zu halten und jedes Wegbleiben unnachſichtlich mit einem Sechſer „in den Heiligen“, bei längerem verſtocktem Beharren aber ſogar mit Einſperrung ins „Zucht¬ häuslen“ zu beſtrafen; wenn er ſich wieder beigehen laſſe, die Kinder¬ lehre zu ſchwänzen, ſo werde er, der Pfarrer, ihn unfehlbar auf¬ ſchreiben laſſen, und bei dem Herrn Amtmann und den Conventsrichtern den Fall zur Anzeige bringen. Damit hatte er ſeinen Beſcheid und durfte gehen. Kaum vermochte er ſich zu halten, daß er nicht aufbrauste. Bei ſeinem Stolz und vollends in ſeiner jetzigen Stimmung konnte ihm nichts ſo quer in den Weg kommen, als die Zumuthung, in ſei¬ nem Alter, noch drei Jahre lang, zur Kinderlehre zu gehen und das tonloſe Poltern des Pfarrers über die Rechtfertigung durch den Glau¬ ben anzuhören, während doch jetzt ſein Dichten und Trachten darauf gerichtet war, durch die Liebe von allem Uebel erlöst zu werden. Das kommt mir geſchlichen! ſagte er zu ſich, im Pfarrhofe noch einmal grimmig nach dem Fenſter emporblickend, wo ihm gepredigt worden war. Eben ſo gut hätt' man mir die Ruthe andictiren können, wenn ich noch ein Kind ſein ſoll. Nun, ich geh' eben nicht hin und zahl'

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/98>, abgerufen am 27.11.2024.