So, du möchtest mir die Laib' heimgeben? Er schlang den Arm um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß jetzt die beste Gelegenheit zu einer ihm anständigen Belohnung wäre. Die Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann schlief auf der Ofenbank. Er drückte sie an sich, und suchte mit dem Munde ihre Lippen. Sie wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm abzuwenden, und wie er sie am Kinn fassen wollte, um das unbot¬ mäßige Köpfchen in festen Verwahrsam zu nehmen, kam sie ihm plötz¬ lich mit den Lippen zuvor. Sein Wunsch war in Freiheit gewährt, ehe er zu Zwangsmitteln schreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend war ihm an den Mund geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten nur einen Augenblick; im selben Augenblick war sie ihm unter dem Arm durchgeschlüpft und huschte in die Küche hinaus.
Mit diesem Kusse war der Würfel über sein künftiges Schicksal geworfen.
In der ersten Aufwallung seiner Leidenschaft wollte er dem Mäd¬ chen nacheilen, aber eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte in dem hellen, freundlichen Gesichte, obgleich es fast noch unmündig aussah, einen Zug zu erkennen, der keine Zudringlichkeit aufkommen ließ, und besorgte, daß er die gute Meinung, die das Mädchen seit den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte, leicht verscherzen könnte. Diese Betrachtungen hüllten sich jedoch in das Gewand des Stolzes. Was, soll ich den Küchemichel machen? sagte er zu sich und setzte sich trotzig wieder an den Tisch.
Die Stube füllte sich allmählich mit Gästen. Was auf dem Dorfe Wirthshausbesucher sind, die bilden so ziemlich denselben unveränder¬ ten Kreis und wechseln nur den Ort. Heute findet man sie in der Sonne, morgen geben sie dem Dreikönig etwas "zu lösen", übermor¬ gen sind sie beim "Becken", über-übermorgen in der Krone, Don¬ nerstags gehen sie zum "wüthigen Esel", Freitags kriechen sie zum Kreuz und am Sonnabend thut ihnen die Wahl weh zwischen dem Dutzend von Wirthshäusern, die noch übrig sind.
Friedrich nahm sich den Abend zusammen, um seinen Herzenszu¬ stand nicht zu verrathen. Er verrieth ihn aber jeden Augenblick. Er trank ein Glas um das andere, um Christinens Gegenwart zu genie¬
So, du möchteſt mir die Laib' heimgeben? Er ſchlang den Arm um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verſtehen, daß jetzt die beſte Gelegenheit zu einer ihm anſtändigen Belohnung wäre. Die Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann ſchlief auf der Ofenbank. Er drückte ſie an ſich, und ſuchte mit dem Munde ihre Lippen. Sie wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm abzuwenden, und wie er ſie am Kinn faſſen wollte, um das unbot¬ mäßige Köpfchen in feſten Verwahrſam zu nehmen, kam ſie ihm plötz¬ lich mit den Lippen zuvor. Sein Wunſch war in Freiheit gewährt, ehe er zu Zwangsmitteln ſchreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend war ihm an den Mund geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten nur einen Augenblick; im ſelben Augenblick war ſie ihm unter dem Arm durchgeſchlüpft und huſchte in die Küche hinaus.
Mit dieſem Kuſſe war der Würfel über ſein künftiges Schickſal geworfen.
In der erſten Aufwallung ſeiner Leidenſchaft wollte er dem Mäd¬ chen nacheilen, aber eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte in dem hellen, freundlichen Geſichte, obgleich es faſt noch unmündig ausſah, einen Zug zu erkennen, der keine Zudringlichkeit aufkommen ließ, und beſorgte, daß er die gute Meinung, die das Mädchen ſeit den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte, leicht verſcherzen könnte. Dieſe Betrachtungen hüllten ſich jedoch in das Gewand des Stolzes. Was, ſoll ich den Küchemichel machen? ſagte er zu ſich und ſetzte ſich trotzig wieder an den Tiſch.
Die Stube füllte ſich allmählich mit Gäſten. Was auf dem Dorfe Wirthshausbeſucher ſind, die bilden ſo ziemlich denſelben unveränder¬ ten Kreis und wechſeln nur den Ort. Heute findet man ſie in der Sonne, morgen geben ſie dem Dreikönig etwas „zu löſen“, übermor¬ gen ſind ſie beim „Becken“, über-übermorgen in der Krone, Don¬ nerſtags gehen ſie zum „wüthigen Eſel“, Freitags kriechen ſie zum Kreuz und am Sonnabend thut ihnen die Wahl weh zwiſchen dem Dutzend von Wirthshäuſern, die noch übrig ſind.
Friedrich nahm ſich den Abend zuſammen, um ſeinen Herzenszu¬ ſtand nicht zu verrathen. Er verrieth ihn aber jeden Augenblick. Er trank ein Glas um das andere, um Chriſtinens Gegenwart zu genie¬
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So, du möchteſt mir die Laib' heimgeben? Er ſchlang den Arm
um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verſtehen, daß jetzt
die beſte Gelegenheit zu einer ihm anſtändigen Belohnung wäre. Die
Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann ſchlief auf der Ofenbank.
Er drückte ſie an ſich, und ſuchte mit dem Munde ihre Lippen. Sie
wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm
abzuwenden, und wie er ſie am Kinn faſſen wollte, um das unbot¬
mäßige Köpfchen in feſten Verwahrſam zu nehmen, kam ſie ihm plötz¬
lich mit den Lippen zuvor. Sein Wunſch war in Freiheit gewährt,
ehe er zu Zwangsmitteln ſchreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht
voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend war ihm an den Mund
geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten
nur einen Augenblick; im ſelben Augenblick war ſie ihm unter dem
Arm durchgeſchlüpft und huſchte in die Küche hinaus.
Mit dieſem Kuſſe war der Würfel über ſein künftiges Schickſal
geworfen.
In der erſten Aufwallung ſeiner Leidenſchaft wollte er dem Mäd¬
chen nacheilen, aber eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte
in dem hellen, freundlichen Geſichte, obgleich es faſt noch unmündig
ausſah, einen Zug zu erkennen, der keine Zudringlichkeit aufkommen
ließ, und beſorgte, daß er die gute Meinung, die das Mädchen ſeit
den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte,
leicht verſcherzen könnte. Dieſe Betrachtungen hüllten ſich jedoch in
das Gewand des Stolzes. Was, ſoll ich den Küchemichel machen?
ſagte er zu ſich und ſetzte ſich trotzig wieder an den Tiſch.
Die Stube füllte ſich allmählich mit Gäſten. Was auf dem Dorfe
Wirthshausbeſucher ſind, die bilden ſo ziemlich denſelben unveränder¬
ten Kreis und wechſeln nur den Ort. Heute findet man ſie in der
Sonne, morgen geben ſie dem Dreikönig etwas „zu löſen“, übermor¬
gen ſind ſie beim „Becken“, über-übermorgen in der Krone, Don¬
nerſtags gehen ſie zum „wüthigen Eſel“, Freitags kriechen ſie zum
Kreuz und am Sonnabend thut ihnen die Wahl weh zwiſchen dem
Dutzend von Wirthshäuſern, die noch übrig ſind.
Friedrich nahm ſich den Abend zuſammen, um ſeinen Herzenszu¬
ſtand nicht zu verrathen. Er verrieth ihn aber jeden Augenblick. Er
trank ein Glas um das andere, um Chriſtinens Gegenwart zu genie¬
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/80>, abgerufen am 23.11.2024.
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