den Zeitgeist selbst mit zur Anklage ziehen, dessen sonderbare Vorliebe für Erzählungen von Räuberabenteuern, dessen krankhaft zärtliche Theil¬ nahme an den Helden derselben beweist, wie verkehrt und widerspruchs¬ voll der Geist des Menschen werden kann, wenn er dunkel spürt, daß seine Zeit in Haushalt und Menschenrecht nicht wohl bestellt ist. Diese Bildung schwelgte aasvogelartig in Lebensbeschreibungen berüchtig¬ ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬ ten Räubergeschichten, deren wirkliches Erleben sie jeden Augenblick in Haus und Hof ernstlich zu befürchten hatte, und all dieser Angst zum Trotze stellte sie sich dennoch, so oft sie in ihren Romanen von einem Kampfe der Räuber mit den Dienern des Gesetzes las, auf die Seite der ersteren, und bekannte hiedurch den Zwiespalt zwischen ihr und dem Gesetz; ja als endlich ein zum Höchsten berufener Dichtergeist seine Jugendkraft und seinen Jugendzorn über die Zeit, die er so erbärm¬ lich fand, in die Gestalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte fast die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken sie belehren konnte, daß nicht jeden Tag ein verbrecherischer Reichsgraf durch die böhmischen Wälder reist, um einen edlen Räuber als den Vollstrecker einer höheren Justiz zu ernähren, sondern daß dieser gar bald bei ehr¬ lichen und unschuldigen Menschen mit List oder Gewalt sein tägliches Brod holen muß.
In diese Zeit, deren Sitte, Geist und Bildung sich so gänzlich vom Bestehenden nicht nur, sondern auch vom Rechten abgewendet hatte, daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne Geleise zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher Bürgerssohnes wie ein Wetterschlag -- nicht in die Lesewelt, denn sie blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬ schen Lesehunger schlecht befriedigt haben, sondern in die "alerte" Welt des Verbrechens und in die schlaffe Welt des Gesetzes. Sie haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können, aber sie haben ein Großes zur Herstellung der öffentlichen Sicherheit gethan, und beinahe ein Menschenalter ist vergangen, bis wieder eine stärkere Bande zwischen dem Rhein und der Donau sich zu sammeln wagte. Die Geständnisse des Räubers gaben den Behörden nicht bloß
den Zeitgeiſt ſelbſt mit zur Anklage ziehen, deſſen ſonderbare Vorliebe für Erzählungen von Räuberabenteuern, deſſen krankhaft zärtliche Theil¬ nahme an den Helden derſelben beweiſt, wie verkehrt und widerſpruchs¬ voll der Geiſt des Menſchen werden kann, wenn er dunkel ſpürt, daß ſeine Zeit in Haushalt und Menſchenrecht nicht wohl beſtellt iſt. Dieſe Bildung ſchwelgte aasvogelartig in Lebensbeſchreibungen berüchtig¬ ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬ ten Räubergeſchichten, deren wirkliches Erleben ſie jeden Augenblick in Haus und Hof ernſtlich zu befürchten hatte, und all dieſer Angſt zum Trotze ſtellte ſie ſich dennoch, ſo oft ſie in ihren Romanen von einem Kampfe der Räuber mit den Dienern des Geſetzes las, auf die Seite der erſteren, und bekannte hiedurch den Zwieſpalt zwiſchen ihr und dem Geſetz; ja als endlich ein zum Höchſten berufener Dichtergeiſt ſeine Jugendkraft und ſeinen Jugendzorn über die Zeit, die er ſo erbärm¬ lich fand, in die Geſtalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte faſt die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken ſie belehren konnte, daß nicht jeden Tag ein verbrecheriſcher Reichsgraf durch die böhmiſchen Wälder reiſt, um einen edlen Räuber als den Vollſtrecker einer höheren Juſtiz zu ernähren, ſondern daß dieſer gar bald bei ehr¬ lichen und unſchuldigen Menſchen mit Liſt oder Gewalt ſein tägliches Brod holen muß.
In dieſe Zeit, deren Sitte, Geiſt und Bildung ſich ſo gänzlich vom Beſtehenden nicht nur, ſondern auch vom Rechten abgewendet hatte, daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne Geleiſe zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher Bürgersſohnes wie ein Wetterſchlag — nicht in die Leſewelt, denn ſie blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬ ſchen Leſehunger ſchlecht befriedigt haben, ſondern in die „alerte“ Welt des Verbrechens und in die ſchlaffe Welt des Geſetzes. Sie haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können, aber ſie haben ein Großes zur Herſtellung der öffentlichen Sicherheit gethan, und beinahe ein Menſchenalter iſt vergangen, bis wieder eine ſtärkere Bande zwiſchen dem Rhein und der Donau ſich zu ſammeln wagte. Die Geſtändniſſe des Räubers gaben den Behörden nicht bloß
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den Zeitgeiſt ſelbſt mit zur Anklage ziehen, deſſen ſonderbare Vorliebe
für Erzählungen von Räuberabenteuern, deſſen krankhaft zärtliche Theil¬
nahme an den Helden derſelben beweiſt, wie verkehrt und widerſpruchs¬
voll der Geiſt des Menſchen werden kann, wenn er dunkel ſpürt, daß
ſeine Zeit in Haushalt und Menſchenrecht nicht wohl beſtellt iſt. Dieſe
Bildung ſchwelgte aasvogelartig in Lebensbeſchreibungen berüchtig¬
ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬
ten Räubergeſchichten, deren wirkliches Erleben ſie jeden Augenblick
in Haus und Hof ernſtlich zu befürchten hatte, und all dieſer Angſt
zum Trotze ſtellte ſie ſich dennoch, ſo oft ſie in ihren Romanen von einem
Kampfe der Räuber mit den Dienern des Geſetzes las, auf die Seite
der erſteren, und bekannte hiedurch den Zwieſpalt zwiſchen ihr und dem
Geſetz; ja als endlich ein zum Höchſten berufener Dichtergeiſt ſeine
Jugendkraft und ſeinen Jugendzorn über die Zeit, die er ſo erbärm¬
lich fand, in die Geſtalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte
faſt die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber
und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken ſie belehren konnte, daß
nicht jeden Tag ein verbrecheriſcher Reichsgraf durch die böhmiſchen
Wälder reiſt, um einen edlen Räuber als den Vollſtrecker einer
höheren Juſtiz zu ernähren, ſondern daß dieſer gar bald bei ehr¬
lichen und unſchuldigen Menſchen mit Liſt oder Gewalt ſein tägliches
Brod holen muß.
In dieſe Zeit, deren Sitte, Geiſt und Bildung ſich ſo gänzlich vom
Beſtehenden nicht nur, ſondern auch vom Rechten abgewendet hatte,
daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne
Geleiſe zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher
Bürgersſohnes wie ein Wetterſchlag — nicht in die Leſewelt, denn ſie
blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬
ſchen Leſehunger ſchlecht befriedigt haben, ſondern in die „alerte“
Welt des Verbrechens und in die ſchlaffe Welt des Geſetzes. Sie
haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund
aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können,
aber ſie haben ein Großes zur Herſtellung der öffentlichen Sicherheit
gethan, und beinahe ein Menſchenalter iſt vergangen, bis wieder eine
ſtärkere Bande zwiſchen dem Rhein und der Donau ſich zu ſammeln
wagte. Die Geſtändniſſe des Räubers gaben den Behörden nicht bloß
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/498>, abgerufen am 25.11.2024.
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