Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

den Zeitgeist selbst mit zur Anklage ziehen, dessen sonderbare Vorliebe
für Erzählungen von Räuberabenteuern, dessen krankhaft zärtliche Theil¬
nahme an den Helden derselben beweist, wie verkehrt und widerspruchs¬
voll der Geist des Menschen werden kann, wenn er dunkel spürt, daß
seine Zeit in Haushalt und Menschenrecht nicht wohl bestellt ist. Diese
Bildung schwelgte aasvogelartig in Lebensbeschreibungen berüchtig¬
ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬
ten Räubergeschichten, deren wirkliches Erleben sie jeden Augenblick
in Haus und Hof ernstlich zu befürchten hatte, und all dieser Angst
zum Trotze stellte sie sich dennoch, so oft sie in ihren Romanen von einem
Kampfe der Räuber mit den Dienern des Gesetzes las, auf die Seite
der ersteren, und bekannte hiedurch den Zwiespalt zwischen ihr und dem
Gesetz; ja als endlich ein zum Höchsten berufener Dichtergeist seine
Jugendkraft und seinen Jugendzorn über die Zeit, die er so erbärm¬
lich fand, in die Gestalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte
fast die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber
und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken sie belehren konnte, daß
nicht jeden Tag ein verbrecherischer Reichsgraf durch die böhmischen
Wälder reist, um einen edlen Räuber als den Vollstrecker einer
höheren Justiz zu ernähren, sondern daß dieser gar bald bei ehr¬
lichen und unschuldigen Menschen mit List oder Gewalt sein tägliches
Brod holen muß.

In diese Zeit, deren Sitte, Geist und Bildung sich so gänzlich vom
Bestehenden nicht nur, sondern auch vom Rechten abgewendet hatte,
daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne
Geleise zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher
Bürgerssohnes wie ein Wetterschlag -- nicht in die Lesewelt, denn sie
blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬
schen Lesehunger schlecht befriedigt haben, sondern in die "alerte"
Welt des Verbrechens und in die schlaffe Welt des Gesetzes. Sie
haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund
aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können,
aber sie haben ein Großes zur Herstellung der öffentlichen Sicherheit
gethan, und beinahe ein Menschenalter ist vergangen, bis wieder eine
stärkere Bande zwischen dem Rhein und der Donau sich zu sammeln
wagte. Die Geständnisse des Räubers gaben den Behörden nicht bloß

den Zeitgeiſt ſelbſt mit zur Anklage ziehen, deſſen ſonderbare Vorliebe
für Erzählungen von Räuberabenteuern, deſſen krankhaft zärtliche Theil¬
nahme an den Helden derſelben beweiſt, wie verkehrt und widerſpruchs¬
voll der Geiſt des Menſchen werden kann, wenn er dunkel ſpürt, daß
ſeine Zeit in Haushalt und Menſchenrecht nicht wohl beſtellt iſt. Dieſe
Bildung ſchwelgte aasvogelartig in Lebensbeſchreibungen berüchtig¬
ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬
ten Räubergeſchichten, deren wirkliches Erleben ſie jeden Augenblick
in Haus und Hof ernſtlich zu befürchten hatte, und all dieſer Angſt
zum Trotze ſtellte ſie ſich dennoch, ſo oft ſie in ihren Romanen von einem
Kampfe der Räuber mit den Dienern des Geſetzes las, auf die Seite
der erſteren, und bekannte hiedurch den Zwieſpalt zwiſchen ihr und dem
Geſetz; ja als endlich ein zum Höchſten berufener Dichtergeiſt ſeine
Jugendkraft und ſeinen Jugendzorn über die Zeit, die er ſo erbärm¬
lich fand, in die Geſtalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte
faſt die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber
und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken ſie belehren konnte, daß
nicht jeden Tag ein verbrecheriſcher Reichsgraf durch die böhmiſchen
Wälder reiſt, um einen edlen Räuber als den Vollſtrecker einer
höheren Juſtiz zu ernähren, ſondern daß dieſer gar bald bei ehr¬
lichen und unſchuldigen Menſchen mit Liſt oder Gewalt ſein tägliches
Brod holen muß.

In dieſe Zeit, deren Sitte, Geiſt und Bildung ſich ſo gänzlich vom
Beſtehenden nicht nur, ſondern auch vom Rechten abgewendet hatte,
daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne
Geleiſe zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher
Bürgersſohnes wie ein Wetterſchlag — nicht in die Leſewelt, denn ſie
blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬
ſchen Leſehunger ſchlecht befriedigt haben, ſondern in die „alerte“
Welt des Verbrechens und in die ſchlaffe Welt des Geſetzes. Sie
haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund
aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können,
aber ſie haben ein Großes zur Herſtellung der öffentlichen Sicherheit
gethan, und beinahe ein Menſchenalter iſt vergangen, bis wieder eine
ſtärkere Bande zwiſchen dem Rhein und der Donau ſich zu ſammeln
wagte. Die Geſtändniſſe des Räubers gaben den Behörden nicht bloß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0498" n="482"/>
den Zeitgei&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t mit zur Anklage ziehen, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;onderbare Vorliebe<lb/>
für Erzählungen von Räuberabenteuern, de&#x017F;&#x017F;en krankhaft zärtliche Theil¬<lb/>
nahme an den Helden der&#x017F;elben bewei&#x017F;t, wie verkehrt und wider&#x017F;pruchs¬<lb/>
voll der Gei&#x017F;t des Men&#x017F;chen werden kann, wenn er dunkel &#x017F;pürt, daß<lb/>
&#x017F;eine Zeit in Haushalt und Men&#x017F;chenrecht nicht wohl be&#x017F;tellt i&#x017F;t. Die&#x017F;e<lb/>
Bildung &#x017F;chwelgte aasvogelartig in Lebensbe&#x017F;chreibungen berüchtig¬<lb/>
ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬<lb/>
ten Räuberge&#x017F;chichten, deren wirkliches Erleben &#x017F;ie jeden Augenblick<lb/>
in Haus und Hof ern&#x017F;tlich zu befürchten hatte, und all die&#x017F;er Ang&#x017F;t<lb/>
zum Trotze &#x017F;tellte &#x017F;ie &#x017F;ich dennoch, &#x017F;o oft &#x017F;ie in ihren Romanen von einem<lb/>
Kampfe der Räuber mit den Dienern des Ge&#x017F;etzes las, auf die Seite<lb/>
der er&#x017F;teren, und bekannte hiedurch den Zwie&#x017F;palt zwi&#x017F;chen ihr und dem<lb/>
Ge&#x017F;etz; ja als endlich ein zum Höch&#x017F;ten berufener Dichtergei&#x017F;t &#x017F;eine<lb/>
Jugendkraft und &#x017F;einen Jugendzorn über die Zeit, die er &#x017F;o erbärm¬<lb/>
lich fand, in die Ge&#x017F;talten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte<lb/>
fa&#x017F;t die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber<lb/>
und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken &#x017F;ie belehren konnte, daß<lb/>
nicht jeden Tag ein verbrecheri&#x017F;cher Reichsgraf durch die böhmi&#x017F;chen<lb/>
Wälder rei&#x017F;t, um einen edlen Räuber als den Voll&#x017F;trecker einer<lb/>
höheren Ju&#x017F;tiz zu ernähren, &#x017F;ondern daß die&#x017F;er gar bald bei ehr¬<lb/>
lichen und un&#x017F;chuldigen Men&#x017F;chen mit Li&#x017F;t oder Gewalt &#x017F;ein tägliches<lb/>
Brod holen muß.</p><lb/>
        <p>In die&#x017F;e Zeit, deren Sitte, Gei&#x017F;t und Bildung &#x017F;ich &#x017F;o gänzlich vom<lb/>
Be&#x017F;tehenden nicht nur, &#x017F;ondern auch vom Rechten abgewendet hatte,<lb/>
daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne<lb/>
Gelei&#x017F;e zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher<lb/>
Bürgers&#x017F;ohnes wie ein Wetter&#x017F;chlag &#x2014; nicht in die Le&#x017F;ewelt, denn &#x017F;ie<lb/>
blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬<lb/>
&#x017F;chen Le&#x017F;ehunger &#x017F;chlecht befriedigt haben, &#x017F;ondern in die &#x201E;alerte&#x201C;<lb/>
Welt des Verbrechens und in die &#x017F;chlaffe Welt des Ge&#x017F;etzes. Sie<lb/>
haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund<lb/>
aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können,<lb/>
aber &#x017F;ie haben ein Großes zur Her&#x017F;tellung der öffentlichen Sicherheit<lb/>
gethan, und beinahe ein Men&#x017F;chenalter i&#x017F;t vergangen, bis wieder eine<lb/>
&#x017F;tärkere Bande zwi&#x017F;chen dem Rhein und der Donau &#x017F;ich zu &#x017F;ammeln<lb/>
wagte. Die Ge&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e des Räubers gaben den Behörden nicht bloß<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[482/0498] den Zeitgeiſt ſelbſt mit zur Anklage ziehen, deſſen ſonderbare Vorliebe für Erzählungen von Räuberabenteuern, deſſen krankhaft zärtliche Theil¬ nahme an den Helden derſelben beweiſt, wie verkehrt und widerſpruchs¬ voll der Geiſt des Menſchen werden kann, wenn er dunkel ſpürt, daß ſeine Zeit in Haushalt und Menſchenrecht nicht wohl beſtellt iſt. Dieſe Bildung ſchwelgte aasvogelartig in Lebensbeſchreibungen berüchtig¬ ter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichte¬ ten Räubergeſchichten, deren wirkliches Erleben ſie jeden Augenblick in Haus und Hof ernſtlich zu befürchten hatte, und all dieſer Angſt zum Trotze ſtellte ſie ſich dennoch, ſo oft ſie in ihren Romanen von einem Kampfe der Räuber mit den Dienern des Geſetzes las, auf die Seite der erſteren, und bekannte hiedurch den Zwieſpalt zwiſchen ihr und dem Geſetz; ja als endlich ein zum Höchſten berufener Dichtergeiſt ſeine Jugendkraft und ſeinen Jugendzorn über die Zeit, die er ſo erbärm¬ lich fand, in die Geſtalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte faſt die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken ſie belehren konnte, daß nicht jeden Tag ein verbrecheriſcher Reichsgraf durch die böhmiſchen Wälder reiſt, um einen edlen Räuber als den Vollſtrecker einer höheren Juſtiz zu ernähren, ſondern daß dieſer gar bald bei ehr¬ lichen und unſchuldigen Menſchen mit Liſt oder Gewalt ſein tägliches Brod holen muß. In dieſe Zeit, deren Sitte, Geiſt und Bildung ſich ſo gänzlich vom Beſtehenden nicht nur, ſondern auch vom Rechten abgewendet hatte, daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorne Geleiſe zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher Bürgersſohnes wie ein Wetterſchlag — nicht in die Leſewelt, denn ſie blieben bei den Acten des Gerichts begraben und würden den modi¬ ſchen Leſehunger ſchlecht befriedigt haben, ſondern in die „alerte“ Welt des Verbrechens und in die ſchlaffe Welt des Geſetzes. Sie haben nicht von Grund aus die Jaunerei ausrotten, nicht von Grund aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können, aber ſie haben ein Großes zur Herſtellung der öffentlichen Sicherheit gethan, und beinahe ein Menſchenalter iſt vergangen, bis wieder eine ſtärkere Bande zwiſchen dem Rhein und der Donau ſich zu ſammeln wagte. Die Geſtändniſſe des Räubers gaben den Behörden nicht bloß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/498
Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/498>, abgerufen am 25.11.2024.