Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

der oft von solchen Marktdiebinnen betrogen worden, in ihrem Ge¬
fängniß aufgesucht und die Gelegenheit benützt, ihr verstohlen einen
Theil seiner Baarschaft in die Hand gleiten zu lassen.

Der Verfolg beweist, daß er das Pferd, das er offenbar aus
Gutmüthigkeit angenommen, um dem Andern aus der Verlegenheit
zu helfen, gar nicht angesehen hatte, denn sonst würde er es wohl
schwerlich bestiegen haben. Seine sonst so schnellen Augen wachten
nicht für ihn, und er muß an diesem verhängnißvollen Tage ganz in
schwere, tiefe Gedanken versunken gewesen sein.

In einem Dorfe auf der Höhe hielt er an und trank ein Glas
Wein. Als er weiter ritt, neigte sich die Hochebene und der Weg
theilte sich in drei Pfade, die von keinem Wegweiser bezeichnet waren.
Er wählte den mittleren geraden, der ihn steil in's Thal hinunter¬
führte. Eine Stadt mit Mauern und Thoren, von einem Schlosse
überragt, lag vor seinen Augen als das Ziel des Weges, den er ritt.
Er kann sie unmöglich gesehen haben, denn der erste Blick hätte ihm
gezeigt, daß es vernünftiger sei, sie zu umgehen. Eine Brücke trug
ihn über die Enz -- er befand sich vor dem Thore. Nun stutzte er
freilich einen Augenblick, aber der Thorwächter, dem die Langeweile
an diesem selten betretenen Thore den Blick geschärft haben mochte,
hatte vom kleinen Fenster aus sein Stutzen bemerkt. Wäre er zu
Fuße gewesen, so würde er jetzt noch unwillkürlich den Fuß angehalten
und den Schritt gewendet haben. Des Reitens seit langer Zeit un¬
gewohnt, ließ er das Pferd gehen, und so wurde dieses zum Werkzeug
seines Schicksals, dessen Hand lähmend auf seinem Geiste lag. Seine
Uhr war abgelaufen, das Pferd trug ihn blindlings durch das Thor,
hinter welchem sich ein Gewirre von engen Gäßchen aufthat, das Gitter
fiel hinter ihm und der Mann mit dem spürenden Blicke trat aus dem
Thorhäuschen heraus.

Die Geschichte der Verhaftung selbst hat der Oberamtmann be¬
reits erzählt; aber sein Sohn berichtet noch einige weitere Züge, die
in Verbindung mit dem, was aus sonstigen Stellen der Acten hervor¬
geht, aufbewahrt zu werden verdienen. Derselbe erzählt, sein Vater
habe die Pässe des Fremden, an welchen der Thorwächter gezweifelt,
ganz richtig befunden, und Schwan sei nun schon so gut wie frei gewesen,
aber ein kleiner Umstand habe ihm Freiheit und Leben gekostet: er

der oft von ſolchen Marktdiebinnen betrogen worden, in ihrem Ge¬
fängniß aufgeſucht und die Gelegenheit benützt, ihr verſtohlen einen
Theil ſeiner Baarſchaft in die Hand gleiten zu laſſen.

Der Verfolg beweist, daß er das Pferd, das er offenbar aus
Gutmüthigkeit angenommen, um dem Andern aus der Verlegenheit
zu helfen, gar nicht angeſehen hatte, denn ſonſt würde er es wohl
ſchwerlich beſtiegen haben. Seine ſonſt ſo ſchnellen Augen wachten
nicht für ihn, und er muß an dieſem verhängnißvollen Tage ganz in
ſchwere, tiefe Gedanken verſunken geweſen ſein.

In einem Dorfe auf der Höhe hielt er an und trank ein Glas
Wein. Als er weiter ritt, neigte ſich die Hochebene und der Weg
theilte ſich in drei Pfade, die von keinem Wegweiſer bezeichnet waren.
Er wählte den mittleren geraden, der ihn ſteil in's Thal hinunter¬
führte. Eine Stadt mit Mauern und Thoren, von einem Schloſſe
überragt, lag vor ſeinen Augen als das Ziel des Weges, den er ritt.
Er kann ſie unmöglich geſehen haben, denn der erſte Blick hätte ihm
gezeigt, daß es vernünftiger ſei, ſie zu umgehen. Eine Brücke trug
ihn über die Enz — er befand ſich vor dem Thore. Nun ſtutzte er
freilich einen Augenblick, aber der Thorwächter, dem die Langeweile
an dieſem ſelten betretenen Thore den Blick geſchärft haben mochte,
hatte vom kleinen Fenſter aus ſein Stutzen bemerkt. Wäre er zu
Fuße geweſen, ſo würde er jetzt noch unwillkürlich den Fuß angehalten
und den Schritt gewendet haben. Des Reitens ſeit langer Zeit un¬
gewohnt, ließ er das Pferd gehen, und ſo wurde dieſes zum Werkzeug
ſeines Schickſals, deſſen Hand lähmend auf ſeinem Geiſte lag. Seine
Uhr war abgelaufen, das Pferd trug ihn blindlings durch das Thor,
hinter welchem ſich ein Gewirre von engen Gäßchen aufthat, das Gitter
fiel hinter ihm und der Mann mit dem ſpürenden Blicke trat aus dem
Thorhäuschen heraus.

Die Geſchichte der Verhaftung ſelbſt hat der Oberamtmann be¬
reits erzählt; aber ſein Sohn berichtet noch einige weitere Züge, die
in Verbindung mit dem, was aus ſonſtigen Stellen der Acten hervor¬
geht, aufbewahrt zu werden verdienen. Derſelbe erzählt, ſein Vater
habe die Päſſe des Fremden, an welchen der Thorwächter gezweifelt,
ganz richtig befunden, und Schwan ſei nun ſchon ſo gut wie frei geweſen,
aber ein kleiner Umſtand habe ihm Freiheit und Leben gekoſtet: er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0471" n="455"/>
der oft von &#x017F;olchen Marktdiebinnen betrogen worden, in ihrem Ge¬<lb/>
fängniß aufge&#x017F;ucht und die Gelegenheit benützt, ihr ver&#x017F;tohlen einen<lb/>
Theil &#x017F;einer Baar&#x017F;chaft in die Hand gleiten zu la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Der Verfolg beweist, daß er das Pferd, das er offenbar aus<lb/>
Gutmüthigkeit angenommen, um dem Andern aus der Verlegenheit<lb/>
zu helfen, gar nicht ange&#x017F;ehen hatte, denn &#x017F;on&#x017F;t würde er es wohl<lb/>
&#x017F;chwerlich be&#x017F;tiegen haben. Seine &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o &#x017F;chnellen Augen wachten<lb/>
nicht für ihn, und er muß an die&#x017F;em verhängnißvollen Tage ganz in<lb/>
&#x017F;chwere, tiefe Gedanken ver&#x017F;unken gewe&#x017F;en &#x017F;ein.</p><lb/>
        <p>In einem Dorfe auf der Höhe hielt er an und trank ein Glas<lb/>
Wein. Als er weiter ritt, neigte &#x017F;ich die Hochebene und der Weg<lb/>
theilte &#x017F;ich in drei Pfade, die von keinem Wegwei&#x017F;er bezeichnet waren.<lb/>
Er wählte den mittleren geraden, der ihn &#x017F;teil in's Thal hinunter¬<lb/>
führte. Eine Stadt mit Mauern und Thoren, von einem Schlo&#x017F;&#x017F;e<lb/>
überragt, lag vor &#x017F;einen Augen als das Ziel des Weges, den er ritt.<lb/>
Er kann &#x017F;ie unmöglich ge&#x017F;ehen haben, denn der er&#x017F;te Blick hätte ihm<lb/>
gezeigt, daß es vernünftiger &#x017F;ei, &#x017F;ie zu umgehen. Eine Brücke trug<lb/>
ihn über die Enz &#x2014; er befand &#x017F;ich vor dem Thore. Nun &#x017F;tutzte er<lb/>
freilich einen Augenblick, aber der Thorwächter, dem die Langeweile<lb/>
an die&#x017F;em &#x017F;elten betretenen Thore den Blick ge&#x017F;chärft haben mochte,<lb/>
hatte vom kleinen Fen&#x017F;ter aus &#x017F;ein Stutzen bemerkt. Wäre er zu<lb/>
Fuße gewe&#x017F;en, &#x017F;o würde er jetzt noch unwillkürlich den Fuß angehalten<lb/>
und den Schritt gewendet haben. Des Reitens &#x017F;eit langer Zeit un¬<lb/>
gewohnt, ließ er das Pferd gehen, und &#x017F;o wurde die&#x017F;es zum Werkzeug<lb/>
&#x017F;eines Schick&#x017F;als, de&#x017F;&#x017F;en Hand lähmend auf &#x017F;einem Gei&#x017F;te lag. Seine<lb/>
Uhr war abgelaufen, das Pferd trug ihn blindlings durch das Thor,<lb/>
hinter welchem &#x017F;ich ein Gewirre von engen Gäßchen aufthat, das Gitter<lb/>
fiel hinter ihm und der Mann mit dem &#x017F;pürenden Blicke trat aus dem<lb/>
Thorhäuschen heraus.</p><lb/>
        <p>Die Ge&#x017F;chichte der Verhaftung &#x017F;elb&#x017F;t hat der Oberamtmann be¬<lb/>
reits erzählt; aber &#x017F;ein Sohn berichtet noch einige weitere Züge, die<lb/>
in Verbindung mit dem, was aus &#x017F;on&#x017F;tigen Stellen der Acten hervor¬<lb/>
geht, aufbewahrt zu werden verdienen. Der&#x017F;elbe erzählt, &#x017F;ein Vater<lb/>
habe die Pä&#x017F;&#x017F;e des Fremden, an welchen der Thorwächter gezweifelt,<lb/>
ganz richtig befunden, und Schwan &#x017F;ei nun &#x017F;chon &#x017F;o gut wie frei gewe&#x017F;en,<lb/>
aber ein kleiner Um&#x017F;tand habe ihm Freiheit und Leben geko&#x017F;tet: er<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[455/0471] der oft von ſolchen Marktdiebinnen betrogen worden, in ihrem Ge¬ fängniß aufgeſucht und die Gelegenheit benützt, ihr verſtohlen einen Theil ſeiner Baarſchaft in die Hand gleiten zu laſſen. Der Verfolg beweist, daß er das Pferd, das er offenbar aus Gutmüthigkeit angenommen, um dem Andern aus der Verlegenheit zu helfen, gar nicht angeſehen hatte, denn ſonſt würde er es wohl ſchwerlich beſtiegen haben. Seine ſonſt ſo ſchnellen Augen wachten nicht für ihn, und er muß an dieſem verhängnißvollen Tage ganz in ſchwere, tiefe Gedanken verſunken geweſen ſein. In einem Dorfe auf der Höhe hielt er an und trank ein Glas Wein. Als er weiter ritt, neigte ſich die Hochebene und der Weg theilte ſich in drei Pfade, die von keinem Wegweiſer bezeichnet waren. Er wählte den mittleren geraden, der ihn ſteil in's Thal hinunter¬ führte. Eine Stadt mit Mauern und Thoren, von einem Schloſſe überragt, lag vor ſeinen Augen als das Ziel des Weges, den er ritt. Er kann ſie unmöglich geſehen haben, denn der erſte Blick hätte ihm gezeigt, daß es vernünftiger ſei, ſie zu umgehen. Eine Brücke trug ihn über die Enz — er befand ſich vor dem Thore. Nun ſtutzte er freilich einen Augenblick, aber der Thorwächter, dem die Langeweile an dieſem ſelten betretenen Thore den Blick geſchärft haben mochte, hatte vom kleinen Fenſter aus ſein Stutzen bemerkt. Wäre er zu Fuße geweſen, ſo würde er jetzt noch unwillkürlich den Fuß angehalten und den Schritt gewendet haben. Des Reitens ſeit langer Zeit un¬ gewohnt, ließ er das Pferd gehen, und ſo wurde dieſes zum Werkzeug ſeines Schickſals, deſſen Hand lähmend auf ſeinem Geiſte lag. Seine Uhr war abgelaufen, das Pferd trug ihn blindlings durch das Thor, hinter welchem ſich ein Gewirre von engen Gäßchen aufthat, das Gitter fiel hinter ihm und der Mann mit dem ſpürenden Blicke trat aus dem Thorhäuschen heraus. Die Geſchichte der Verhaftung ſelbſt hat der Oberamtmann be¬ reits erzählt; aber ſein Sohn berichtet noch einige weitere Züge, die in Verbindung mit dem, was aus ſonſtigen Stellen der Acten hervor¬ geht, aufbewahrt zu werden verdienen. Derſelbe erzählt, ſein Vater habe die Päſſe des Fremden, an welchen der Thorwächter gezweifelt, ganz richtig befunden, und Schwan ſei nun ſchon ſo gut wie frei geweſen, aber ein kleiner Umſtand habe ihm Freiheit und Leben gekoſtet: er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/471
Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/471>, abgerufen am 18.05.2024.