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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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dings die Erfindung zu Hilfe rufen, jedoch keine willkürliche,
sondern diejenige Art von Erfindung, welche die vorhandenen
geschichtlichen Züge, eine trockene zerstreute Masse, zu verbinden
und zu erklären unternimmt. Meine Erzählung ist keine bloß
thatsächliche; sie ist Dichtung, aber innerhalb gegebener geschicht¬
licher Grenzen.

"Ich glaube, daß die Geschichte, deren Wissenschaft zu einem
Cultus zu werden beginnt, der Dichtkunst denselben Dienst zu
leisten berufen ist, welchen einst die Kirche den bildenden Künsten
leistete: durch Zwang und Beschränkung zu innerer Freiheit und
gesteigerter Kraft zu führen. War uns doch auch hierin schon
so lange Shakspeare ein Vorbild, er, der nie das Gerippe einer
Fabel erfand, aber immer das Fleisch und Blut dazu.

"Mag sie etwas Kleines oder Großes unternehmen, das
Conterfei eines einzelnen ungebärdigen Menschenkindes oder ein
breites und hohes Gemälde des verschlungenen Weltlaufes --
immer soll die Dichtung durch eine nicht allzu kurze, doch unzer¬
reißbare Kette an die Geschichte gefesselt sein. Die urkundlichen
Zeilen bilden diese Kette; zwischen ihnen ist Freiheit, Erfin¬
dung, Offenbarung. Wenn aber das Schaffen so leicht wäre
wie das Erkennen, so feierten wir schon längst die neue Zeit,
deren Schwelle wir wagend und zögernd, schreitend und strau¬
chelnd betreten: die Einheit von Dichtung und Geschichte, die
wahre historische Poesie."


dings die Erfindung zu Hilfe rufen, jedoch keine willkürliche,
ſondern diejenige Art von Erfindung, welche die vorhandenen
geſchichtlichen Züge, eine trockene zerſtreute Maſſe, zu verbinden
und zu erklären unternimmt. Meine Erzählung iſt keine bloß
thatſächliche; ſie iſt Dichtung, aber innerhalb gegebener geſchicht¬
licher Grenzen.

„Ich glaube, daß die Geſchichte, deren Wiſſenſchaft zu einem
Cultus zu werden beginnt, der Dichtkunſt denſelben Dienſt zu
leiſten berufen iſt, welchen einſt die Kirche den bildenden Künſten
leiſtete: durch Zwang und Beſchränkung zu innerer Freiheit und
geſteigerter Kraft zu führen. War uns doch auch hierin ſchon
ſo lange Shakſpeare ein Vorbild, er, der nie das Gerippe einer
Fabel erfand, aber immer das Fleiſch und Blut dazu.

„Mag ſie etwas Kleines oder Großes unternehmen, das
Conterfei eines einzelnen ungebärdigen Menſchenkindes oder ein
breites und hohes Gemälde des verſchlungenen Weltlaufes —
immer ſoll die Dichtung durch eine nicht allzu kurze, doch unzer¬
reißbare Kette an die Geſchichte gefeſſelt ſein. Die urkundlichen
Zeilen bilden dieſe Kette; zwiſchen ihnen iſt Freiheit, Erfin¬
dung, Offenbarung. Wenn aber das Schaffen ſo leicht wäre
wie das Erkennen, ſo feierten wir ſchon längſt die neue Zeit,
deren Schwelle wir wagend und zögernd, ſchreitend und ſtrau¬
chelnd betreten: die Einheit von Dichtung und Geſchichte, die
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[—VII—/0015] dings die Erfindung zu Hilfe rufen, jedoch keine willkürliche, ſondern diejenige Art von Erfindung, welche die vorhandenen geſchichtlichen Züge, eine trockene zerſtreute Maſſe, zu verbinden und zu erklären unternimmt. Meine Erzählung iſt keine bloß thatſächliche; ſie iſt Dichtung, aber innerhalb gegebener geſchicht¬ licher Grenzen. „Ich glaube, daß die Geſchichte, deren Wiſſenſchaft zu einem Cultus zu werden beginnt, der Dichtkunſt denſelben Dienſt zu leiſten berufen iſt, welchen einſt die Kirche den bildenden Künſten leiſtete: durch Zwang und Beſchränkung zu innerer Freiheit und geſteigerter Kraft zu führen. War uns doch auch hierin ſchon ſo lange Shakſpeare ein Vorbild, er, der nie das Gerippe einer Fabel erfand, aber immer das Fleiſch und Blut dazu. „Mag ſie etwas Kleines oder Großes unternehmen, das Conterfei eines einzelnen ungebärdigen Menſchenkindes oder ein breites und hohes Gemälde des verſchlungenen Weltlaufes — immer ſoll die Dichtung durch eine nicht allzu kurze, doch unzer¬ reißbare Kette an die Geſchichte gefeſſelt ſein. Die urkundlichen Zeilen bilden dieſe Kette; zwiſchen ihnen iſt Freiheit, Erfin¬ dung, Offenbarung. Wenn aber das Schaffen ſo leicht wäre wie das Erkennen, ſo feierten wir ſchon längſt die neue Zeit, deren Schwelle wir wagend und zögernd, ſchreitend und ſtrau¬ chelnd betreten: die Einheit von Dichtung und Geſchichte, die wahre hiſtoriſche Poeſie.“

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. —VII—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/15>, abgerufen am 20.04.2024.