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Kuhnow, Anna: Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf. Leipzig, 1896.

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erschreckende Thatsachen zu Tage fördern. Wo ist der
Hausarzt, welcher dafür sorgt, dass ein Schulmädchen nicht
weniger als zwei Stunden täglich bei jedem Wetter regel-
mässig geht; der sich um die Gründung von Clubs für Ball-
spiele im Freien kümmert; der dem Mädchen ein Zweirad
verschreibt; der einen rationellen Turnanzug mit Bluse und
Kniehosen verlangt? Wo ist der Hausarzt, der sich der
Kleidung der Mädchen annimmt, der Corsett und hohe Ab-
sätze nicht duldet und eine Kleidung einführt, welche auf
Beweglichkeit, Bequemlichkeit und schlechtes Wetter, statt
auf Schaustellung berechnet ist - ja, wo ist der Arzt, der
dies auch nur bei den eigenen Töchtern durchsetzt? Wo
ist der Hausarzt, der die Stunde zum Schlafengehen so be-
stimmt, dass die Mädchen ungeweckt mit gesättigtem Schlaf-
hunger am nächsten Morgen aufstehen: der die Abendunter-
haltung, die Musikstunde und die Weihnachtsarbeiten so
verbietet, dass die Eltern sich danach richten? Wo ist der
Hausarzt, der sich um die Schule kümmert, der sich über-
zeugt, wieviel Zeit täglich auf Schreibübungen verwendet
wird, welche als Bildungsmittel werthlos, als Kraftvergeudung
schädlich sind; der sich mit vielen anderen Schulärgernissen
befasst, die ich nicht noch einzeln aufführen will, die be-
kannt genug sind, die aber trotz aller bisherigen Angriffe
von einzelnen Aerzten, von der Masse nicht beachtet
werden und darum ruhig fortbestehen und täglich und stünd-
lich an der Gesundheit unserer Töchter nagen? Und wo
endlich ist der Arzt, der gemischte Schulen und für ältere
Mädchen auch ausserhalb der Schule Freiheit im Verkehr
verlangt, statt über die Beschränktheit der Frauen zu klagen,
die man künstlich vom Lauf der Welt abschliesst?

"Die wissenschaftlichen Grundlagen zu diesen Forderungen
sind lauter einfache, selbstverständliche Dinge, die zum ABC
des ärztlichen Credos geworden sind, aber von ihrer Ueber-
setzung in die Praxis sind wir vielleicht noch weiter als vor
fünfzig Jahren. Aus vielen Gründen. Eine Hauptursache

erschreckende Thatsachen zu Tage fördern. Wo ist der
Hausarzt, welcher dafür sorgt, dass ein Schulmädchen nicht
weniger als zwei Stunden täglich bei jedem Wetter regel-
mässig geht; der sich um die Gründung von Clubs für Ball-
spiele im Freien kümmert; der dem Mädchen ein Zweirad
verschreibt; der einen rationellen Turnanzug mit Bluse und
Kniehosen verlangt? Wo ist der Hausarzt, der sich der
Kleidung der Mädchen annimmt, der Corsett und hohe Ab-
sätze nicht duldet und eine Kleidung einführt, welche auf
Beweglichkeit, Bequemlichkeit und schlechtes Wetter, statt
auf Schaustellung berechnet ist – ja, wo ist der Arzt, der
dies auch nur bei den eigenen Töchtern durchsetzt? Wo
ist der Hausarzt, der die Stunde zum Schlafengehen so be-
stimmt, dass die Mädchen ungeweckt mit gesättigtem Schlaf-
hunger am nächsten Morgen aufstehen: der die Abendunter-
haltung, die Musikstunde und die Weihnachtsarbeiten so
verbietet, dass die Eltern sich danach richten? Wo ist der
Hausarzt, der sich um die Schule kümmert, der sich über-
zeugt, wieviel Zeit täglich auf Schreibübungen verwendet
wird, welche als Bildungsmittel werthlos, als Kraftvergeudung
schädlich sind; der sich mit vielen anderen Schulärgernissen
befasst, die ich nicht noch einzeln aufführen will, die be-
kannt genug sind, die aber trotz aller bisherigen Angriffe
von einzelnen Aerzten, von der Masse nicht beachtet
werden und darum ruhig fortbestehen und täglich und stünd-
lich an der Gesundheit unserer Töchter nagen? Und wo
endlich ist der Arzt, der gemischte Schulen und für ältere
Mädchen auch ausserhalb der Schule Freiheit im Verkehr
verlangt, statt über die Beschränktheit der Frauen zu klagen,
die man künstlich vom Lauf der Welt abschliesst?

„Die wissenschaftlichen Grundlagen zu diesen Forderungen
sind lauter einfache, selbstverständliche Dinge, die zum ABC
des ärztlichen Credos geworden sind, aber von ihrer Ueber-
setzung in die Praxis sind wir vielleicht noch weiter als vor
fünfzig Jahren. Aus vielen Gründen. Eine Hauptursache

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[25/0026] erschreckende Thatsachen zu Tage fördern. Wo ist der Hausarzt, welcher dafür sorgt, dass ein Schulmädchen nicht weniger als zwei Stunden täglich bei jedem Wetter regel- mässig geht; der sich um die Gründung von Clubs für Ball- spiele im Freien kümmert; der dem Mädchen ein Zweirad verschreibt; der einen rationellen Turnanzug mit Bluse und Kniehosen verlangt? Wo ist der Hausarzt, der sich der Kleidung der Mädchen annimmt, der Corsett und hohe Ab- sätze nicht duldet und eine Kleidung einführt, welche auf Beweglichkeit, Bequemlichkeit und schlechtes Wetter, statt auf Schaustellung berechnet ist – ja, wo ist der Arzt, der dies auch nur bei den eigenen Töchtern durchsetzt? Wo ist der Hausarzt, der die Stunde zum Schlafengehen so be- stimmt, dass die Mädchen ungeweckt mit gesättigtem Schlaf- hunger am nächsten Morgen aufstehen: der die Abendunter- haltung, die Musikstunde und die Weihnachtsarbeiten so verbietet, dass die Eltern sich danach richten? Wo ist der Hausarzt, der sich um die Schule kümmert, der sich über- zeugt, wieviel Zeit täglich auf Schreibübungen verwendet wird, welche als Bildungsmittel werthlos, als Kraftvergeudung schädlich sind; der sich mit vielen anderen Schulärgernissen befasst, die ich nicht noch einzeln aufführen will, die be- kannt genug sind, die aber trotz aller bisherigen Angriffe von einzelnen Aerzten, von der Masse nicht beachtet werden und darum ruhig fortbestehen und täglich und stünd- lich an der Gesundheit unserer Töchter nagen? Und wo endlich ist der Arzt, der gemischte Schulen und für ältere Mädchen auch ausserhalb der Schule Freiheit im Verkehr verlangt, statt über die Beschränktheit der Frauen zu klagen, die man künstlich vom Lauf der Welt abschliesst? „Die wissenschaftlichen Grundlagen zu diesen Forderungen sind lauter einfache, selbstverständliche Dinge, die zum ABC des ärztlichen Credos geworden sind, aber von ihrer Ueber- setzung in die Praxis sind wir vielleicht noch weiter als vor fünfzig Jahren. Aus vielen Gründen. Eine Hauptursache

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Zitationshilfe: Kuhnow, Anna: Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf. Leipzig, 1896, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuhnow_gedanken_1896/26>, abgerufen am 02.07.2024.