Hände auf Annettens Schultern ruhen. Ich suchte mich zu nähern. Ich rückte sachte aber beständig von meinem Platz dem ihrigen zu. Von Zeit zu Zeit gab ich Winke meines Daseins. Endlich wurde ich bemerkt. Annette fuhr bei meinem Anblick freudevoll auf, sie sprang aus der Reihe und rief mir voll Selbstvergessenheit zu: Ach, Herr Bruder, laß uns gehn! Ich erschrack nicht wenig. Fern, wie ich noch war, gab ich ihr ein Zeichen der Beschwichtigung. Aber das Unglück packte sie schnell. Der schwarze Prediger warf sich ihr entgegen und donnerte sie an: Halt, junge Sünderin, wohin? Warum willst du fort? Steh und verantworte dich: Bist du für Gott oder für den Teufel? Annette bebte zusammen. Sie wurde brennend roth, schlug das Auge nieder, zitterte heftig und antwortete wie ein erschrockenes Kind: mit Thränen. Das sinnloseste aller Thiere hielt diese Stummheit für Ver¬ stocktheit. Schreib sie in das Buch des Teufels! brüllte der Pfaff seinem Schreiber zu. Da fuhr sich das Mädchen an die Stirne, ein durchdringender Schrei, ein Riß durch alle Gesichtsmuskeln, sie stürzte zu Boden.
Man sagte mir, ich habe wie eine Tigerkatze an der Kehle des Methodisten gehangen, und zwei Parteien haben mich wechselweise be¬ schützt und geprügelt.
Ich kam wieder zur Besinnung; Annette nicht mehr. Der Schlag hat ihr Gehirn gelähmt; sie delirirt.
Man will das unglückliche Kind in das Irrenhaus zu Columbus bringen. Das Irrenhaus zu Columbus hat eine Facade von Säulen und Pilastern, eine prächtige Marmorbekleidung und ist, wie alle Nar¬ ren- und Zuchthäuser dieses Landes, das schönste Gebäude seiner Stadt. Wenn dich der Dircetor darin herumführt, so wird er sein respectvollstes Nationalgesicht vorlegen, und in seinem langweiligen Englisch feierlich peroriren: Dieses Haus ist errichtet worden und ausgestattet von den Beiträgen großmüthiger Bürger des Staates Ohio zum Heile derjenigen unserer leidenden Mitchristen, welchen der göttliche Rathschluß die Ge¬ sundheit des Geistes entbehren läßt. Es enthält dreihundert Wohnun¬ gen, Betsäle, Lesesäle, Badesalons und einen Garten von fünfzig Acre Landes. Es wird ärztlich geleitet von dem sehr ehrenwerthen Herrn Doctor Jehadiah Bykbookbeaker, die Kosten seines jährlichen Unterhalts betragen die Summe von hunderttausend Dollars. Die Einrichtungen
Hände auf Annettens Schultern ruhen. Ich ſuchte mich zu nähern. Ich rückte ſachte aber beſtändig von meinem Platz dem ihrigen zu. Von Zeit zu Zeit gab ich Winke meines Daſeins. Endlich wurde ich bemerkt. Annette fuhr bei meinem Anblick freudevoll auf, ſie ſprang aus der Reihe und rief mir voll Selbſtvergeſſenheit zu: Ach, Herr Bruder, laß uns gehn! Ich erſchrack nicht wenig. Fern, wie ich noch war, gab ich ihr ein Zeichen der Beſchwichtigung. Aber das Unglück packte ſie ſchnell. Der ſchwarze Prediger warf ſich ihr entgegen und donnerte ſie an: Halt, junge Sünderin, wohin? Warum willſt du fort? Steh und verantworte dich: Biſt du für Gott oder für den Teufel? Annette bebte zuſammen. Sie wurde brennend roth, ſchlug das Auge nieder, zitterte heftig und antwortete wie ein erſchrockenes Kind: mit Thränen. Das ſinnloſeſte aller Thiere hielt dieſe Stummheit für Ver¬ ſtocktheit. Schreib ſie in das Buch des Teufels! brüllte der Pfaff ſeinem Schreiber zu. Da fuhr ſich das Mädchen an die Stirne, ein durchdringender Schrei, ein Riß durch alle Geſichtsmuskeln, ſie ſtürzte zu Boden.
Man ſagte mir, ich habe wie eine Tigerkatze an der Kehle des Methodiſten gehangen, und zwei Parteien haben mich wechſelweiſe be¬ ſchützt und geprügelt.
Ich kam wieder zur Beſinnung; Annette nicht mehr. Der Schlag hat ihr Gehirn gelähmt; ſie delirirt.
Man will das unglückliche Kind in das Irrenhaus zu Columbus bringen. Das Irrenhaus zu Columbus hat eine Façade von Säulen und Pilaſtern, eine prächtige Marmorbekleidung und iſt, wie alle Nar¬ ren- und Zuchthäuſer dieſes Landes, das ſchönſte Gebäude ſeiner Stadt. Wenn dich der Dircetor darin herumführt, ſo wird er ſein reſpectvollſtes Nationalgeſicht vorlegen, und in ſeinem langweiligen Engliſch feierlich peroriren: Dieſes Haus iſt errichtet worden und ausgeſtattet von den Beiträgen großmüthiger Bürger des Staates Ohio zum Heile derjenigen unſerer leidenden Mitchriſten, welchen der göttliche Rathſchluß die Ge¬ ſundheit des Geiſtes entbehren läßt. Es enthält dreihundert Wohnun¬ gen, Betſäle, Leſeſäle, Badeſalons und einen Garten von fünfzig Acre Landes. Es wird ärztlich geleitet von dem ſehr ehrenwerthen Herrn Doctor Jehadiah Bykbookbeaker, die Koſten ſeines jährlichen Unterhalts betragen die Summe von hunderttauſend Dollars. Die Einrichtungen
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Hände auf Annettens Schultern ruhen. Ich ſuchte mich zu nähern.
Ich rückte ſachte aber beſtändig von meinem Platz dem ihrigen zu.
Von Zeit zu Zeit gab ich Winke meines Daſeins. Endlich wurde ich
bemerkt. Annette fuhr bei meinem Anblick freudevoll auf, ſie ſprang
aus der Reihe und rief mir voll Selbſtvergeſſenheit zu: Ach, Herr
Bruder, laß uns gehn! Ich erſchrack nicht wenig. Fern, wie ich noch
war, gab ich ihr ein Zeichen der Beſchwichtigung. Aber das Unglück
packte ſie ſchnell. Der ſchwarze Prediger warf ſich ihr entgegen und
donnerte ſie an: Halt, junge Sünderin, wohin? Warum willſt du fort?
Steh und verantworte dich: Biſt du für Gott oder für den Teufel?
Annette bebte zuſammen. Sie wurde brennend roth, ſchlug das Auge
nieder, zitterte heftig und antwortete wie ein erſchrockenes Kind: mit
Thränen. Das ſinnloſeſte aller Thiere hielt dieſe Stummheit für Ver¬
ſtocktheit. Schreib ſie in das Buch des Teufels! brüllte der Pfaff
ſeinem Schreiber zu. Da fuhr ſich das Mädchen an die Stirne, ein
durchdringender Schrei, ein Riß durch alle Geſichtsmuskeln, ſie ſtürzte
zu Boden.
Man ſagte mir, ich habe wie eine Tigerkatze an der Kehle des
Methodiſten gehangen, und zwei Parteien haben mich wechſelweiſe be¬
ſchützt und geprügelt.
Ich kam wieder zur Beſinnung; Annette nicht mehr. Der Schlag
hat ihr Gehirn gelähmt; ſie delirirt.
Man will das unglückliche Kind in das Irrenhaus zu Columbus
bringen. Das Irrenhaus zu Columbus hat eine Façade von Säulen
und Pilaſtern, eine prächtige Marmorbekleidung und iſt, wie alle Nar¬
ren- und Zuchthäuſer dieſes Landes, das ſchönſte Gebäude ſeiner Stadt.
Wenn dich der Dircetor darin herumführt, ſo wird er ſein reſpectvollſtes
Nationalgeſicht vorlegen, und in ſeinem langweiligen Engliſch feierlich
peroriren: Dieſes Haus iſt errichtet worden und ausgeſtattet von den
Beiträgen großmüthiger Bürger des Staates Ohio zum Heile derjenigen
unſerer leidenden Mitchriſten, welchen der göttliche Rathſchluß die Ge¬
ſundheit des Geiſtes entbehren läßt. Es enthält dreihundert Wohnun¬
gen, Betſäle, Leſeſäle, Badeſalons und einen Garten von fünfzig Acre
Landes. Es wird ärztlich geleitet von dem ſehr ehrenwerthen Herrn
Doctor Jehadiah Bykbookbeaker, die Koſten ſeines jährlichen Unterhalts
betragen die Summe von hunderttauſend Dollars. Die Einrichtungen
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/413>, abgerufen am 24.11.2024.
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