Wort und sagt mit dem augenscheinlichen Bestreben einer Ehrenrettung: Nämlich, mein Herr, es ist hier von öffentlicher Musik die Rede. Gute Kammermusik findet sich wohl unter uns. -- Wo, mein Herr? fragt der Ankömmling wie mit einem Hilferuf. -- Bei Mr. Bennet zum Beispiel. -- Der Fremde schien geneigt, über diesem Gegenstande länger zu verweilen, aber es blieb ihm unmöglich unter der fortwäh¬ renden Geisel des wilden Orchesters. Im Pavillon gegenüber begann jetzt sogar ein zweites zu spielen, natürlich eine andere Melodie und in einem anderen Tact und Rhythmus. Beide Orchester vernahmen sich einander vollkommen gut, das schien aber weder ihr, noch ihrer Zuhörer Wohlbefinden im Geringsten zu beeinträchtigen. Einige Kinder, an ihrer englisch-amerikanischen Mundart als reinste Natives kennbar, liefen sogar begierig herbei und stellten sich mit intelligentester Raum¬ abmessung zwischen die spielenden Orchester in die gerechte Mitte, um, wie sie sich zujubelten "zwei Musik" zu haben. Der Europäer ergriff eine wilde Flucht.
Mit der Sehnsucht eines Bräutigams dachte er einen Augenblick lang -- an seine Violine. Sie lagert jetzt im Zollhause mit seinem anderen Gepäcke; bis er sie in das bezogene Logis abholen läßt, wid¬ met er ihr ein zärtliches Andenken. Ahnt er doch, welchen Werth sie ihm jetzt haben wird! --
Aber wenn nach Novalis Architektur starrgewordene Musik ist, so hat Newyork mindestens seinen starren Beethoven im Broadway. Das sollte der Unvorbereitete sofort empfinden lernen. Er stand ohne es selbst zu wissen am südlichen Mündungspunkte dieser Riesenstraße -- eine geringe Wendung, und Broadway lag vor ihm aufgethan. Der Anblick erschüttert ihn. Den Zeus aller Straßen erblickt er! Zwei Kriegsschiffe, dünkt ihm, könnten sich ausweichen darin; -- das ist ihre Breite! Zwei Kriegsschiffe, dünkt ihm, könnten an beiden Enden sich bombardiren, und ihre Kugeln erreichten sich nicht; -- das ist ihre Länge! Vergebens stemmt er sich mit Trotz gegen diesen Eindruck des Ungeheuren. Wohl sieht er, wie die Verhältnisse der Häuser -- damals in Mehrzahl noch klein und unansehnlich -- das Verhältniß der Straße vergrößern. Wohl sieht er, wie die einförmige Geradlinig¬ keit der Pappelallee, welche die ganze Flucht durchläuft, ein Hebel mehr ist zur perspectivischen Täuschung. Aber wenn die erste der
Wort und ſagt mit dem augenſcheinlichen Beſtreben einer Ehrenrettung: Nämlich, mein Herr, es iſt hier von öffentlicher Muſik die Rede. Gute Kammermuſik findet ſich wohl unter uns. — Wo, mein Herr? fragt der Ankömmling wie mit einem Hilferuf. — Bei Mr. Bennet zum Beiſpiel. — Der Fremde ſchien geneigt, über dieſem Gegenſtande länger zu verweilen, aber es blieb ihm unmöglich unter der fortwäh¬ renden Geiſel des wilden Orcheſters. Im Pavillon gegenüber begann jetzt ſogar ein zweites zu ſpielen, natürlich eine andere Melodie und in einem anderen Tact und Rhythmus. Beide Orcheſter vernahmen ſich einander vollkommen gut, das ſchien aber weder ihr, noch ihrer Zuhörer Wohlbefinden im Geringſten zu beeinträchtigen. Einige Kinder, an ihrer engliſch-amerikaniſchen Mundart als reinſte Natives kennbar, liefen ſogar begierig herbei und ſtellten ſich mit intelligenteſter Raum¬ abmeſſung zwiſchen die ſpielenden Orcheſter in die gerechte Mitte, um, wie ſie ſich zujubelten „zwei Muſik“ zu haben. Der Europäer ergriff eine wilde Flucht.
Mit der Sehnſucht eines Bräutigams dachte er einen Augenblick lang — an ſeine Violine. Sie lagert jetzt im Zollhauſe mit ſeinem anderen Gepäcke; bis er ſie in das bezogene Logis abholen läßt, wid¬ met er ihr ein zärtliches Andenken. Ahnt er doch, welchen Werth ſie ihm jetzt haben wird! —
Aber wenn nach Novalis Architektur ſtarrgewordene Muſik iſt, ſo hat Newyork mindeſtens ſeinen ſtarren Beethoven im Broadway. Das ſollte der Unvorbereitete ſofort empfinden lernen. Er ſtand ohne es ſelbſt zu wiſſen am ſüdlichen Mündungspunkte dieſer Rieſenſtraße — eine geringe Wendung, und Broadway lag vor ihm aufgethan. Der Anblick erſchüttert ihn. Den Zeus aller Straßen erblickt er! Zwei Kriegsſchiffe, dünkt ihm, könnten ſich ausweichen darin; — das iſt ihre Breite! Zwei Kriegsſchiffe, dünkt ihm, könnten an beiden Enden ſich bombardiren, und ihre Kugeln erreichten ſich nicht; — das iſt ihre Länge! Vergebens ſtemmt er ſich mit Trotz gegen dieſen Eindruck des Ungeheuren. Wohl ſieht er, wie die Verhältniſſe der Häuſer — damals in Mehrzahl noch klein und unanſehnlich — das Verhältniß der Straße vergrößern. Wohl ſieht er, wie die einförmige Geradlinig¬ keit der Pappelallee, welche die ganze Flucht durchläuft, ein Hebel mehr iſt zur perſpectiviſchen Täuſchung. Aber wenn die erſte der
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Wort und ſagt mit dem augenſcheinlichen Beſtreben einer Ehrenrettung:
Nämlich, mein Herr, es iſt hier von öffentlicher Muſik die Rede.
Gute Kammermuſik findet ſich wohl unter uns. — Wo, mein Herr?
fragt der Ankömmling wie mit einem Hilferuf. — Bei Mr. Bennet
zum Beiſpiel. — Der Fremde ſchien geneigt, über dieſem Gegenſtande
länger zu verweilen, aber es blieb ihm unmöglich unter der fortwäh¬
renden Geiſel des wilden Orcheſters. Im Pavillon gegenüber begann
jetzt ſogar ein zweites zu ſpielen, natürlich eine andere Melodie und
in einem anderen Tact und Rhythmus. Beide Orcheſter vernahmen
ſich einander vollkommen gut, das ſchien aber weder ihr, noch ihrer
Zuhörer Wohlbefinden im Geringſten zu beeinträchtigen. Einige Kinder,
an ihrer engliſch-amerikaniſchen Mundart als reinſte Natives kennbar,
liefen ſogar begierig herbei und ſtellten ſich mit intelligenteſter Raum¬
abmeſſung zwiſchen die ſpielenden Orcheſter in die gerechte Mitte, um,
wie ſie ſich zujubelten „zwei Muſik“ zu haben. Der Europäer ergriff
eine wilde Flucht.
Mit der Sehnſucht eines Bräutigams dachte er einen Augenblick
lang — an ſeine Violine. Sie lagert jetzt im Zollhauſe mit ſeinem
anderen Gepäcke; bis er ſie in das bezogene Logis abholen läßt, wid¬
met er ihr ein zärtliches Andenken. Ahnt er doch, welchen Werth ſie
ihm jetzt haben wird! —
Aber wenn nach Novalis Architektur ſtarrgewordene Muſik iſt, ſo
hat Newyork mindeſtens ſeinen ſtarren Beethoven im Broadway. Das
ſollte der Unvorbereitete ſofort empfinden lernen. Er ſtand ohne es
ſelbſt zu wiſſen am ſüdlichen Mündungspunkte dieſer Rieſenſtraße —
eine geringe Wendung, und Broadway lag vor ihm aufgethan. Der
Anblick erſchüttert ihn. Den Zeus aller Straßen erblickt er! Zwei
Kriegsſchiffe, dünkt ihm, könnten ſich ausweichen darin; — das iſt
ihre Breite! Zwei Kriegsſchiffe, dünkt ihm, könnten an beiden Enden
ſich bombardiren, und ihre Kugeln erreichten ſich nicht; — das iſt
ihre Länge! Vergebens ſtemmt er ſich mit Trotz gegen dieſen Eindruck
des Ungeheuren. Wohl ſieht er, wie die Verhältniſſe der Häuſer —
damals in Mehrzahl noch klein und unanſehnlich — das Verhältniß
der Straße vergrößern. Wohl ſieht er, wie die einförmige Geradlinig¬
keit der Pappelallee, welche die ganze Flucht durchläuft, ein Hebel
mehr iſt zur perſpectiviſchen Täuſchung. Aber wenn die erſte der
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/29>, abgerufen am 24.11.2024.
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