voll Heuschrecken zu hüten, als eine religiöse Gesellschaft zusammen¬ zuhalten, hier kommt Alles nicht auf die kirchliche Autorität, sondern auf die Autorität der Persönlichkeit an; in Folge dessen hat sich unter den hiesigen Pfaffen ein Pharisäerthum ausgebildet, an dessen Ekel¬ haftigkeit eine europäische Vorstellung schwer hinreicht. Philadelphia scheint nun die wahre Zionsburg der geistlichen Heuchelei. Ich glaub' es dem alten Girard, der ein munterer Franzose war, herzlich gern, daß er sich diese Race vom Leibe halten wollte, vom lebendigen, wie vom todten. Die Quäcker duzen sich noch wie zu Vater Penns Zeiten und alle Welt nennt sich einander "Freund". Das verbreitet nun einen Geruch in Philadelphia als ob alle Leichen seit Vater Penn unbeerdigt herumlägen. Wahrlich, man muß den gestorbenen Geist begraben, wie den gestorbenen Körper. Unsre Regierungen thun ganz wohl, wenn sie die Bildung jener Secten nicht dulden wollen, welche scheinbar auf das reine und unschuldige Urchristenthum zurückgehen. Eine infame Lüge ist's, den patriarchalischen Kleingemeindengeist im modernen Industrie- und Interessenleben etabliren zu wollen. So ein Quäcker-"Freund" klingt mir immer, wie das "sei gegrüßt, Rabbi". Die Kerls sehen auch ganz darnach aus wie Judas und Kaiphas auf der Seelenwanderung begriffen. Was sag' ich? Die jüdischen Phari¬ säer kreuzigten von Christus nur den Leib, aber das Evangelium ließen sie laufen. Die hiesigen vergössen kein Blut, bewahre! aber sie ver¬ urtheilten ihren "Freund" Christus auf lebenslänglich zu ihrer ver¬ maledeiten Schweigehaft und das Evangelium selbst wäre gemordet. Die Schweigehaft ist eine echt pennsylvanische Erfindung. Man muß diese frommen säuberlichen Straßen mit ihrem heimtückischen Still¬ schweigen, diesen Virtuosensitz der Langweile und Scheinheiligkeit kennen lernen, um zu begreifen, wie hier und nirgend anders jenes Henker¬ thum in Glacehandschuhen, jene teuflische Bruderliebetortur erfunden werden konnte, welche das pennsylvanische System heißt.
Philadelphia. -- Als ein gewissenhafter Reisender besucht' ich es auch, -- das State penetentiary, mein' ich, das hoch¬ berühmte Original des pennsylvanischen Systems. Ja freilich ist's ein Wunder des menschlichen Scharfsinns. Ein einziger
voll Heuſchrecken zu hüten, als eine religiöſe Geſellſchaft zuſammen¬ zuhalten, hier kommt Alles nicht auf die kirchliche Autorität, ſondern auf die Autorität der Perſönlichkeit an; in Folge deſſen hat ſich unter den hieſigen Pfaffen ein Phariſäerthum ausgebildet, an deſſen Ekel¬ haftigkeit eine europäiſche Vorſtellung ſchwer hinreicht. Philadelphia ſcheint nun die wahre Zionsburg der geiſtlichen Heuchelei. Ich glaub' es dem alten Girard, der ein munterer Franzoſe war, herzlich gern, daß er ſich dieſe Race vom Leibe halten wollte, vom lebendigen, wie vom todten. Die Quäcker duzen ſich noch wie zu Vater Penns Zeiten und alle Welt nennt ſich einander „Freund“. Das verbreitet nun einen Geruch in Philadelphia als ob alle Leichen ſeit Vater Penn unbeerdigt herumlägen. Wahrlich, man muß den geſtorbenen Geiſt begraben, wie den geſtorbenen Körper. Unſre Regierungen thun ganz wohl, wenn ſie die Bildung jener Secten nicht dulden wollen, welche ſcheinbar auf das reine und unſchuldige Urchriſtenthum zurückgehen. Eine infame Lüge iſt's, den patriarchaliſchen Kleingemeindengeiſt im modernen Induſtrie- und Intereſſenleben etabliren zu wollen. So ein Quäcker-„Freund“ klingt mir immer, wie das „ſei gegrüßt, Rabbi“. Die Kerls ſehen auch ganz darnach aus wie Judas und Kaiphas auf der Seelenwanderung begriffen. Was ſag' ich? Die jüdiſchen Phari¬ ſäer kreuzigten von Chriſtus nur den Leib, aber das Evangelium ließen ſie laufen. Die hieſigen vergöſſen kein Blut, bewahre! aber ſie ver¬ urtheilten ihren „Freund“ Chriſtus auf lebenslänglich zu ihrer ver¬ maledeiten Schweigehaft und das Evangelium ſelbſt wäre gemordet. Die Schweigehaft iſt eine echt pennſylvaniſche Erfindung. Man muß dieſe frommen ſäuberlichen Straßen mit ihrem heimtückiſchen Still¬ ſchweigen, dieſen Virtuoſenſitz der Langweile und Scheinheiligkeit kennen lernen, um zu begreifen, wie hier und nirgend anders jenes Henker¬ thum in Glacehandſchuhen, jene teufliſche Bruderliebetortur erfunden werden konnte, welche das pennſylvaniſche Syſtem heißt.
Philadelphia. — Als ein gewiſſenhafter Reiſender beſucht' ich es auch, — das State penetentiary, mein' ich, das hoch¬ berühmte Original des pennſylvaniſchen Syſtems. Ja freilich iſt's ein Wunder des menſchlichen Scharfſinns. Ein einziger
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voll Heuſchrecken zu hüten, als eine religiöſe Geſellſchaft zuſammen¬
zuhalten, hier kommt Alles nicht auf die kirchliche Autorität, ſondern
auf die Autorität der Perſönlichkeit an; in Folge deſſen hat ſich unter
den hieſigen Pfaffen ein Phariſäerthum ausgebildet, an deſſen Ekel¬
haftigkeit eine europäiſche Vorſtellung ſchwer hinreicht. Philadelphia
ſcheint nun die wahre Zionsburg der geiſtlichen Heuchelei. Ich glaub'
es dem alten Girard, der ein munterer Franzoſe war, herzlich gern,
daß er ſich dieſe Race vom Leibe halten wollte, vom lebendigen, wie
vom todten. Die Quäcker duzen ſich noch wie zu Vater Penns Zeiten
und alle Welt nennt ſich einander „Freund“. Das verbreitet nun
einen Geruch in Philadelphia als ob alle Leichen ſeit Vater Penn
unbeerdigt herumlägen. Wahrlich, man muß den geſtorbenen Geiſt
begraben, wie den geſtorbenen Körper. Unſre Regierungen thun ganz
wohl, wenn ſie die Bildung jener Secten nicht dulden wollen, welche
ſcheinbar auf das reine und unſchuldige Urchriſtenthum zurückgehen.
Eine infame Lüge iſt's, den patriarchaliſchen Kleingemeindengeiſt im
modernen Induſtrie- und Intereſſenleben etabliren zu wollen. So ein
Quäcker-„Freund“ klingt mir immer, wie das „ſei gegrüßt, Rabbi“.
Die Kerls ſehen auch ganz darnach aus wie Judas und Kaiphas auf
der Seelenwanderung begriffen. Was ſag' ich? Die jüdiſchen Phari¬
ſäer kreuzigten von Chriſtus nur den Leib, aber das Evangelium ließen
ſie laufen. Die hieſigen vergöſſen kein Blut, bewahre! aber ſie ver¬
urtheilten ihren „Freund“ Chriſtus auf lebenslänglich zu ihrer ver¬
maledeiten Schweigehaft und das Evangelium ſelbſt wäre gemordet.
Die Schweigehaft iſt eine echt pennſylvaniſche Erfindung. Man muß
dieſe frommen ſäuberlichen Straßen mit ihrem heimtückiſchen Still¬
ſchweigen, dieſen Virtuoſenſitz der Langweile und Scheinheiligkeit kennen
lernen, um zu begreifen, wie hier und nirgend anders jenes Henker¬
thum in Glacehandſchuhen, jene teufliſche Bruderliebetortur erfunden
werden konnte, welche das pennſylvaniſche Syſtem heißt.
Philadelphia. — Als ein gewiſſenhafter Reiſender beſucht'
ich es auch, — das State penetentiary, mein' ich, das hoch¬
berühmte Original des pennſylvaniſchen Syſtems. Ja freilich
iſt's ein Wunder des menſchlichen Scharfſinns. Ein einziger
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/284>, abgerufen am 23.11.2024.
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