Wie oft habe ich an schönen Sommertagen im Grase gelegen und den ziehenden Wolken am Himmel nachgeblickt, Es war weiter nichts zu vernehmen, als das Rascheln und Säuseln der Blätter in den Baumkronen. Da dachte ich an Mama, Alwine und Bertha, habe laut ihre Namen in die Luft gerufen und dann vernommen, wie die Blätter über mir flüsternd die Antwort gaben. Das war oft eine wunder¬ schöne Musik. Erst fing es leise an zu tuscheln, so daß es sich anhörte, als spiele im Finstern eine Maus mit einem Stückchen Papier; dann rauschte es lauter, kam klagend wie eine Windsbraut daher gezogen, pfiff und flötete in allen Melodieen und brauste dann mächtig wie ein Posaunenchor durch die Wipfel, so daß ich glaubte, mich in einer großen, großen Kirche zu befinden, in der eine Riesenorgel ertönt . . . . Das mag vielleicht für Manchen eine überflüssige Sprache sein, ich aber habe mich an ihr erbaut und sie oft im Stillen gesegnet. . . . . Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, sie in diesem Sommer auch hier zu vernehmen und muß nun erleben, daß aus reiner Spekulation alle Poesie verschwinden soll. Das ist wirklich ganz abscheulich! Weil die Bäume nicht rechnen können, sollen sie fallen! Es thut mir weh', Herr Timpe, daß auch Sie so denken gelernt haben, trotzdem Sie früher, wenn wir uns hier herumtummelten, so oft ausriefen: Ach die schönen Bäume, sie werfen so prächtigen Schatten! Was würden Sie nun sagen, wenn man Ihnen Ihren schönen Lindenbaum da drüben nähme?"
Franz war nahe daran gewesen, von der Schwärmerei Emmas gerührt zu werden, schämte sich aber jetzt seiner In¬ konsequenz und erwiderte daher kurz und trocken:
Wie oft habe ich an ſchönen Sommertagen im Graſe gelegen und den ziehenden Wolken am Himmel nachgeblickt, Es war weiter nichts zu vernehmen, als das Raſcheln und Säuſeln der Blätter in den Baumkronen. Da dachte ich an Mama, Alwine und Bertha, habe laut ihre Namen in die Luft gerufen und dann vernommen, wie die Blätter über mir flüſternd die Antwort gaben. Das war oft eine wunder¬ ſchöne Muſik. Erſt fing es leiſe an zu tuſcheln, ſo daß es ſich anhörte, als ſpiele im Finſtern eine Maus mit einem Stückchen Papier; dann rauſchte es lauter, kam klagend wie eine Windsbraut daher gezogen, pfiff und flötete in allen Melodieen und brauſte dann mächtig wie ein Poſaunenchor durch die Wipfel, ſo daß ich glaubte, mich in einer großen, großen Kirche zu befinden, in der eine Rieſenorgel ertönt . . . . Das mag vielleicht für Manchen eine überflüſſige Sprache ſein, ich aber habe mich an ihr erbaut und ſie oft im Stillen geſegnet. . . . . Ich hatte mich ſo ſehr darauf gefreut, ſie in dieſem Sommer auch hier zu vernehmen und muß nun erleben, daß aus reiner Spekulation alle Poeſie verſchwinden ſoll. Das iſt wirklich ganz abſcheulich! Weil die Bäume nicht rechnen können, ſollen ſie fallen! Es thut mir weh', Herr Timpe, daß auch Sie ſo denken gelernt haben, trotzdem Sie früher, wenn wir uns hier herumtummelten, ſo oft ausriefen: Ach die ſchönen Bäume, ſie werfen ſo prächtigen Schatten! Was würden Sie nun ſagen, wenn man Ihnen Ihren ſchönen Lindenbaum da drüben nähme?“
Franz war nahe daran geweſen, von der Schwärmerei Emmas gerührt zu werden, ſchämte ſich aber jetzt ſeiner In¬ konſequenz und erwiderte daher kurz und trocken:
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0071"n="59"/>
Wie oft habe ich an ſchönen Sommertagen im Graſe<lb/>
gelegen und den ziehenden Wolken am Himmel nachgeblickt,<lb/>
Es war weiter nichts zu vernehmen, als das Raſcheln und<lb/>
Säuſeln der Blätter in den Baumkronen. Da dachte ich an<lb/>
Mama, Alwine und Bertha, habe laut ihre Namen in die<lb/>
Luft gerufen und dann vernommen, wie die Blätter über<lb/>
mir flüſternd die Antwort gaben. Das war oft eine wunder¬<lb/>ſchöne Muſik. Erſt fing es leiſe an zu tuſcheln,<lb/>ſo daß es ſich anhörte, als ſpiele im Finſtern eine Maus<lb/>
mit einem Stückchen Papier; dann rauſchte es lauter,<lb/>
kam klagend wie eine Windsbraut daher gezogen, pfiff und<lb/>
flötete in allen Melodieen und brauſte dann mächtig<lb/>
wie ein Poſaunenchor durch die Wipfel, ſo daß ich glaubte,<lb/>
mich in einer großen, großen Kirche zu befinden, in der<lb/>
eine Rieſenorgel ertönt . . . . Das mag vielleicht für<lb/>
Manchen eine überflüſſige Sprache ſein, ich aber habe mich<lb/>
an ihr erbaut und ſie oft im Stillen geſegnet. . . . . Ich<lb/>
hatte mich ſo ſehr darauf gefreut, ſie in dieſem Sommer<lb/>
auch hier zu vernehmen und muß nun erleben, daß aus<lb/>
reiner Spekulation alle Poeſie verſchwinden ſoll. Das iſt<lb/>
wirklich ganz abſcheulich! Weil die Bäume nicht rechnen<lb/>
können, ſollen ſie fallen! Es thut mir weh', Herr Timpe,<lb/>
daß auch Sie ſo denken gelernt haben, trotzdem Sie früher,<lb/>
wenn wir uns hier herumtummelten, ſo oft ausriefen: Ach<lb/>
die ſchönen Bäume, ſie werfen ſo prächtigen Schatten! Was<lb/>
würden Sie nun ſagen, wenn man Ihnen Ihren ſchönen<lb/>
Lindenbaum da drüben nähme?“</p><lb/><p>Franz war nahe daran geweſen, von der Schwärmerei<lb/>
Emmas gerührt zu werden, ſchämte ſich aber jetzt ſeiner In¬<lb/>
konſequenz und erwiderte daher kurz und trocken:</p><lb/></div></body></text></TEI>
[59/0071]
Wie oft habe ich an ſchönen Sommertagen im Graſe
gelegen und den ziehenden Wolken am Himmel nachgeblickt,
Es war weiter nichts zu vernehmen, als das Raſcheln und
Säuſeln der Blätter in den Baumkronen. Da dachte ich an
Mama, Alwine und Bertha, habe laut ihre Namen in die
Luft gerufen und dann vernommen, wie die Blätter über
mir flüſternd die Antwort gaben. Das war oft eine wunder¬
ſchöne Muſik. Erſt fing es leiſe an zu tuſcheln,
ſo daß es ſich anhörte, als ſpiele im Finſtern eine Maus
mit einem Stückchen Papier; dann rauſchte es lauter,
kam klagend wie eine Windsbraut daher gezogen, pfiff und
flötete in allen Melodieen und brauſte dann mächtig
wie ein Poſaunenchor durch die Wipfel, ſo daß ich glaubte,
mich in einer großen, großen Kirche zu befinden, in der
eine Rieſenorgel ertönt . . . . Das mag vielleicht für
Manchen eine überflüſſige Sprache ſein, ich aber habe mich
an ihr erbaut und ſie oft im Stillen geſegnet. . . . . Ich
hatte mich ſo ſehr darauf gefreut, ſie in dieſem Sommer
auch hier zu vernehmen und muß nun erleben, daß aus
reiner Spekulation alle Poeſie verſchwinden ſoll. Das iſt
wirklich ganz abſcheulich! Weil die Bäume nicht rechnen
können, ſollen ſie fallen! Es thut mir weh', Herr Timpe,
daß auch Sie ſo denken gelernt haben, trotzdem Sie früher,
wenn wir uns hier herumtummelten, ſo oft ausriefen: Ach
die ſchönen Bäume, ſie werfen ſo prächtigen Schatten! Was
würden Sie nun ſagen, wenn man Ihnen Ihren ſchönen
Lindenbaum da drüben nähme?“
Franz war nahe daran geweſen, von der Schwärmerei
Emmas gerührt zu werden, ſchämte ſich aber jetzt ſeiner In¬
konſequenz und erwiderte daher kurz und trocken:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/71>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.