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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Großvater noch lebe und seine alte Bärbeißigkeit beibehalten
habe; ob Herr Beyer noch seinen alten Platz da links am
Fenster inne habe und das alte traurige Gesicht beim Drech¬
seln mache; ob der kleine dicke Geselle aus Sachsen immer
noch viel Wurst und Käse esse; ob die Tauben noch lebten,
und ob man noch immer auf den Lindenbaum steige, um
neugierige Blicke über die Mauer zu werfen? Und so weiter.

Alles das wurde sehr schnell hintereinander gefragt, und
als die Neugierde erschöpft war, sagte Emma plötzlich:

"Steigen Sie doch hier durch und kommen Sie in unse¬
ren Garten. Es ist mir durchaus nicht angenehm, mich fort¬
während um Ihretwegen bücken zu müssen. Es ist Niemand
weiter hier, als Fräulein Therese Ramm, ein liebes gutes
Schäfchen, das keinem Menschen etwas zu Leide thut . . . .
Ich stelle sie Ihnen hiermit feierlichst vor."

Jetzt erst erblickte Franz die andere junge Dame und zog
zum zweiten Male sehr tief seinen Hut. Eine Weile zögerte
er, der Aufforderung Folge zu leisten; dann aber siegte seine
Abenteuerlust und die alte Neugierde. Nach einigen land¬
läufigen Redensarten, aus welchen die Worte "Dank", "große
Ehre", "liebenswürdige Einladung" vernehmbar waren, trat
er näher und schlüpfte durch die Oeffnung.

Oben am geöffneten Dachfenster zeigte sich das weiße Haupt
des Großvaters. Vor wenigen Minuten war er erschienen und hatte
einen Theil des Gespräches mit angehört. Ingrimmig darüber,
Niemanden in seiner Nähe zu haben, den er seinen Hader
mit der Welt fühlen lassen konnte, stieß er kräftig mit dem
Stock auf die Diele und murmelte halblaut vor sich hin:
"Der und die Sippe da drüben, die passen zusammen. Die
werden uns einen Brei einrühren, von dem wir Zeit unsers

Großvater noch lebe und ſeine alte Bärbeißigkeit beibehalten
habe; ob Herr Beyer noch ſeinen alten Platz da links am
Fenſter inne habe und das alte traurige Geſicht beim Drech¬
ſeln mache; ob der kleine dicke Geſelle aus Sachſen immer
noch viel Wurſt und Käſe eſſe; ob die Tauben noch lebten,
und ob man noch immer auf den Lindenbaum ſteige, um
neugierige Blicke über die Mauer zu werfen? Und ſo weiter.

Alles das wurde ſehr ſchnell hintereinander gefragt, und
als die Neugierde erſchöpft war, ſagte Emma plötzlich:

„Steigen Sie doch hier durch und kommen Sie in unſe¬
ren Garten. Es iſt mir durchaus nicht angenehm, mich fort¬
während um Ihretwegen bücken zu müſſen. Es iſt Niemand
weiter hier, als Fräulein Thereſe Ramm, ein liebes gutes
Schäfchen, das keinem Menſchen etwas zu Leide thut . . . .
Ich ſtelle ſie Ihnen hiermit feierlichſt vor.“

Jetzt erſt erblickte Franz die andere junge Dame und zog
zum zweiten Male ſehr tief ſeinen Hut. Eine Weile zögerte
er, der Aufforderung Folge zu leiſten; dann aber ſiegte ſeine
Abenteuerluſt und die alte Neugierde. Nach einigen land¬
läufigen Redensarten, aus welchen die Worte „Dank“, „große
Ehre“, „liebenswürdige Einladung“ vernehmbar waren, trat
er näher und ſchlüpfte durch die Oeffnung.

Oben am geöffneten Dachfenſter zeigte ſich das weiße Haupt
des Großvaters. Vor wenigen Minuten war er erſchienen und hatte
einen Theil des Geſpräches mit angehört. Ingrimmig darüber,
Niemanden in ſeiner Nähe zu haben, den er ſeinen Hader
mit der Welt fühlen laſſen konnte, ſtieß er kräftig mit dem
Stock auf die Diele und murmelte halblaut vor ſich hin:
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[53/0065] Großvater noch lebe und ſeine alte Bärbeißigkeit beibehalten habe; ob Herr Beyer noch ſeinen alten Platz da links am Fenſter inne habe und das alte traurige Geſicht beim Drech¬ ſeln mache; ob der kleine dicke Geſelle aus Sachſen immer noch viel Wurſt und Käſe eſſe; ob die Tauben noch lebten, und ob man noch immer auf den Lindenbaum ſteige, um neugierige Blicke über die Mauer zu werfen? Und ſo weiter. Alles das wurde ſehr ſchnell hintereinander gefragt, und als die Neugierde erſchöpft war, ſagte Emma plötzlich: „Steigen Sie doch hier durch und kommen Sie in unſe¬ ren Garten. Es iſt mir durchaus nicht angenehm, mich fort¬ während um Ihretwegen bücken zu müſſen. Es iſt Niemand weiter hier, als Fräulein Thereſe Ramm, ein liebes gutes Schäfchen, das keinem Menſchen etwas zu Leide thut . . . . Ich ſtelle ſie Ihnen hiermit feierlichſt vor.“ Jetzt erſt erblickte Franz die andere junge Dame und zog zum zweiten Male ſehr tief ſeinen Hut. Eine Weile zögerte er, der Aufforderung Folge zu leiſten; dann aber ſiegte ſeine Abenteuerluſt und die alte Neugierde. Nach einigen land¬ läufigen Redensarten, aus welchen die Worte „Dank“, „große Ehre“, „liebenswürdige Einladung“ vernehmbar waren, trat er näher und ſchlüpfte durch die Oeffnung. Oben am geöffneten Dachfenſter zeigte ſich das weiße Haupt des Großvaters. Vor wenigen Minuten war er erſchienen und hatte einen Theil des Geſpräches mit angehört. Ingrimmig darüber, Niemanden in ſeiner Nähe zu haben, den er ſeinen Hader mit der Welt fühlen laſſen konnte, ſtieß er kräftig mit dem Stock auf die Diele und murmelte halblaut vor ſich hin: „Der und die Sippe da drüben, die paſſen zuſammen. Die werden uns einen Brei einrühren, von dem wir Zeit unſers

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/65>, abgerufen am 05.05.2024.