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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Jetzt erst blickte er sie lange an, lächelte, stand auf und
streckte ihr seine Hand entgegen. "Liebes Kind," erwiderte
er, Sie sind zu gut geartet, um sich durch so einen alten
Unglücksraben, wie ich es bin, das Leben vergällen zu lassen.
Ich bin mit mir selbst nicht zufrieden, geschweige also, daß
Andere es mit mir sein können. Ich freue mich, daß
Sie mir den Schmerz ersparen, Sie gehen zu heißen.
Es giebt Menschen, denen die Einsamkeit das tägliche
Brod ist. Leben Sie mir recht, recht wohl ... Ich
danke Ihnen herzlich für alle Ihre Bemühungen, die Ihnen
Niemand mehr vergelten wird als die da oben (er deutete
mit dem Finger nach der Decke, während Marien die Augen
feucht wurden) ... Sie werden dereinst noch von mir hören;
Gott schütze Sie, mein Kind ..."

Von seiner sonstigen Gallsucht war nichts an ihm zu
entdecken. Er ging an seinen Arbeitstisch, wo er das Geld
von der letzten Abrechnung aufbewahrte und wollte Marien
einige harte Thaler in die Hand drücken. Er wisse wohl,
daß ihre Hülfe unbezahlbar sei, aber ohne ein kleines Ge¬
schenk dürfe sie ihn nicht verlassen, meinte er. Einen Augen¬
blick schwankte sie, das blanke Geld lockte zu verführerisch;
dann aber dachte sie daran, was wohl Thomas dazu sagen
würde und wies die ausgestreckte Hand zurück. Er drang
nicht weiter in sie, denn er wußte, daß es nutzlos sein
würde.

Als sie bereits die Thür hinter sich hatte, klopfte sie noch
einmal und steckte den Kopf herein: "Da habe ich ja ganz
vergessen. Herr Timpe -- es war vor acht Tagen ein Schutz¬
mann hier; Sie möchten einmal nach dem Polizei-Bureau
kommen ... Sie hatten noch sehr viel Fieber, ich sagte es

Jetzt erſt blickte er ſie lange an, lächelte, ſtand auf und
ſtreckte ihr ſeine Hand entgegen. „Liebes Kind,“ erwiderte
er, Sie ſind zu gut geartet, um ſich durch ſo einen alten
Unglücksraben, wie ich es bin, das Leben vergällen zu laſſen.
Ich bin mit mir ſelbſt nicht zufrieden, geſchweige alſo, daß
Andere es mit mir ſein können. Ich freue mich, daß
Sie mir den Schmerz erſparen, Sie gehen zu heißen.
Es giebt Menſchen, denen die Einſamkeit das tägliche
Brod iſt. Leben Sie mir recht, recht wohl ... Ich
danke Ihnen herzlich für alle Ihre Bemühungen, die Ihnen
Niemand mehr vergelten wird als die da oben (er deutete
mit dem Finger nach der Decke, während Marien die Augen
feucht wurden) ... Sie werden dereinſt noch von mir hören;
Gott ſchütze Sie, mein Kind ...“

Von ſeiner ſonſtigen Gallſucht war nichts an ihm zu
entdecken. Er ging an ſeinen Arbeitstiſch, wo er das Geld
von der letzten Abrechnung aufbewahrte und wollte Marien
einige harte Thaler in die Hand drücken. Er wiſſe wohl,
daß ihre Hülfe unbezahlbar ſei, aber ohne ein kleines Ge¬
ſchenk dürfe ſie ihn nicht verlaſſen, meinte er. Einen Augen¬
blick ſchwankte ſie, das blanke Geld lockte zu verführeriſch;
dann aber dachte ſie daran, was wohl Thomas dazu ſagen
würde und wies die ausgeſtreckte Hand zurück. Er drang
nicht weiter in ſie, denn er wußte, daß es nutzlos ſein
würde.

Als ſie bereits die Thür hinter ſich hatte, klopfte ſie noch
einmal und ſteckte den Kopf herein: „Da habe ich ja ganz
vergeſſen. Herr Timpe — es war vor acht Tagen ein Schutz¬
mann hier; Sie möchten einmal nach dem Polizei-Bureau
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[312/0324] Jetzt erſt blickte er ſie lange an, lächelte, ſtand auf und ſtreckte ihr ſeine Hand entgegen. „Liebes Kind,“ erwiderte er, Sie ſind zu gut geartet, um ſich durch ſo einen alten Unglücksraben, wie ich es bin, das Leben vergällen zu laſſen. Ich bin mit mir ſelbſt nicht zufrieden, geſchweige alſo, daß Andere es mit mir ſein können. Ich freue mich, daß Sie mir den Schmerz erſparen, Sie gehen zu heißen. Es giebt Menſchen, denen die Einſamkeit das tägliche Brod iſt. Leben Sie mir recht, recht wohl ... Ich danke Ihnen herzlich für alle Ihre Bemühungen, die Ihnen Niemand mehr vergelten wird als die da oben (er deutete mit dem Finger nach der Decke, während Marien die Augen feucht wurden) ... Sie werden dereinſt noch von mir hören; Gott ſchütze Sie, mein Kind ...“ Von ſeiner ſonſtigen Gallſucht war nichts an ihm zu entdecken. Er ging an ſeinen Arbeitstiſch, wo er das Geld von der letzten Abrechnung aufbewahrte und wollte Marien einige harte Thaler in die Hand drücken. Er wiſſe wohl, daß ihre Hülfe unbezahlbar ſei, aber ohne ein kleines Ge¬ ſchenk dürfe ſie ihn nicht verlaſſen, meinte er. Einen Augen¬ blick ſchwankte ſie, das blanke Geld lockte zu verführeriſch; dann aber dachte ſie daran, was wohl Thomas dazu ſagen würde und wies die ausgeſtreckte Hand zurück. Er drang nicht weiter in ſie, denn er wußte, daß es nutzlos ſein würde. Als ſie bereits die Thür hinter ſich hatte, klopfte ſie noch einmal und ſteckte den Kopf herein: „Da habe ich ja ganz vergeſſen. Herr Timpe — es war vor acht Tagen ein Schutz¬ mann hier; Sie möchten einmal nach dem Polizei-Bureau kommen ... Sie hatten noch ſehr viel Fieber, ich ſagte es

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/324>, abgerufen am 25.11.2024.