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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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das Drehwerkzeug absetzen und längere Zeit pausiren mußte.
So ging er denn eines Morgens in aller Frühe zu einem
Arzt und ließ sich eine blaue Brille verschreiben, mit der er sich
sehr sonderbar ausnahm; aber es ging doch besser. Erlahmte
er trotz alledem, so griff er zum "Sorgenbrecher," wie Meister
Klatt den Schnaps nannte. Er trank nicht viel, aber gerade
genug, um zu neuer Arbeit angefeuert zu werden und sich
in einen seligen Zustand des Vergessens zu versetzen.
Eines Abends vor Feierabend hatte er noch einen so kräf¬
tigen Zug genommen, daß ihm im Stehen die Augen zu¬
fielen, er sich mechanisch auf einen Schemel niederließ und
sanft entschlummerte. Durch ein klirrendes Geräusch erwachte
er. Der Cylinder der Arbeitslampe war gesprungen und ein
Stück davon auf die Drehbank gefallen. Er schreckte zu¬
sammen und rieb sich verwundert die Augen. Die Werkstatt¬
uhr zeigte bereits zehn Uhr. Drei lange Stunden hatte
also sein Schlaf gewährt. Ein süßer Traum hatte ihn um¬
fangen gehabt: Er saß in der Vorderstube mit dem Gro߬
vater und seiner Frau am großen runden Tisch, als sein
Sohn hereintrat, auf ihn zustürzte und ihn herzte und küßte.

Nach einer Viertelstunde starrte er immer noch auf
denselben Punkt und ließ das Traumgebilde an sich vor¬
überziehen. Große Thränen rollten dabei langsam über
seine Wangen. Als er dann nach und nach in die Wirk¬
lichkeit zurückkam und sich in dem großen Raum umblickte,
schauerte er zusammen, denn ihn fröstelte. Die Einsamkeit
des stillen Hauses wirkte mit allen Schrecknissen auf ihn ein.
Da erblickte er die Schnapsflasche, die auf der Drehbank
stand; in ihr saß der Teufel, der ihn in diesen Traum ver¬
senkt hatte. Und er wollte nicht solche Träume haben --

das Drehwerkzeug abſetzen und längere Zeit pauſiren mußte.
So ging er denn eines Morgens in aller Frühe zu einem
Arzt und ließ ſich eine blaue Brille verſchreiben, mit der er ſich
ſehr ſonderbar ausnahm; aber es ging doch beſſer. Erlahmte
er trotz alledem, ſo griff er zum „Sorgenbrecher,“ wie Meiſter
Klatt den Schnaps nannte. Er trank nicht viel, aber gerade
genug, um zu neuer Arbeit angefeuert zu werden und ſich
in einen ſeligen Zuſtand des Vergeſſens zu verſetzen.
Eines Abends vor Feierabend hatte er noch einen ſo kräf¬
tigen Zug genommen, daß ihm im Stehen die Augen zu¬
fielen, er ſich mechaniſch auf einen Schemel niederließ und
ſanft entſchlummerte. Durch ein klirrendes Geräuſch erwachte
er. Der Cylinder der Arbeitslampe war geſprungen und ein
Stück davon auf die Drehbank gefallen. Er ſchreckte zu¬
ſammen und rieb ſich verwundert die Augen. Die Werkſtatt¬
uhr zeigte bereits zehn Uhr. Drei lange Stunden hatte
alſo ſein Schlaf gewährt. Ein ſüßer Traum hatte ihn um¬
fangen gehabt: Er ſaß in der Vorderſtube mit dem Gro߬
vater und ſeiner Frau am großen runden Tiſch, als ſein
Sohn hereintrat, auf ihn zuſtürzte und ihn herzte und küßte.

Nach einer Viertelſtunde ſtarrte er immer noch auf
denſelben Punkt und ließ das Traumgebilde an ſich vor¬
überziehen. Große Thränen rollten dabei langſam über
ſeine Wangen. Als er dann nach und nach in die Wirk¬
lichkeit zurückkam und ſich in dem großen Raum umblickte,
ſchauerte er zuſammen, denn ihn fröſtelte. Die Einſamkeit
des ſtillen Hauſes wirkte mit allen Schreckniſſen auf ihn ein.
Da erblickte er die Schnapsflaſche, die auf der Drehbank
ſtand; in ihr ſaß der Teufel, der ihn in dieſen Traum ver¬
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[270/0282] das Drehwerkzeug abſetzen und längere Zeit pauſiren mußte. So ging er denn eines Morgens in aller Frühe zu einem Arzt und ließ ſich eine blaue Brille verſchreiben, mit der er ſich ſehr ſonderbar ausnahm; aber es ging doch beſſer. Erlahmte er trotz alledem, ſo griff er zum „Sorgenbrecher,“ wie Meiſter Klatt den Schnaps nannte. Er trank nicht viel, aber gerade genug, um zu neuer Arbeit angefeuert zu werden und ſich in einen ſeligen Zuſtand des Vergeſſens zu verſetzen. Eines Abends vor Feierabend hatte er noch einen ſo kräf¬ tigen Zug genommen, daß ihm im Stehen die Augen zu¬ fielen, er ſich mechaniſch auf einen Schemel niederließ und ſanft entſchlummerte. Durch ein klirrendes Geräuſch erwachte er. Der Cylinder der Arbeitslampe war geſprungen und ein Stück davon auf die Drehbank gefallen. Er ſchreckte zu¬ ſammen und rieb ſich verwundert die Augen. Die Werkſtatt¬ uhr zeigte bereits zehn Uhr. Drei lange Stunden hatte alſo ſein Schlaf gewährt. Ein ſüßer Traum hatte ihn um¬ fangen gehabt: Er ſaß in der Vorderſtube mit dem Gro߬ vater und ſeiner Frau am großen runden Tiſch, als ſein Sohn hereintrat, auf ihn zuſtürzte und ihn herzte und küßte. Nach einer Viertelſtunde ſtarrte er immer noch auf denſelben Punkt und ließ das Traumgebilde an ſich vor¬ überziehen. Große Thränen rollten dabei langſam über ſeine Wangen. Als er dann nach und nach in die Wirk¬ lichkeit zurückkam und ſich in dem großen Raum umblickte, ſchauerte er zuſammen, denn ihn fröſtelte. Die Einſamkeit des ſtillen Hauſes wirkte mit allen Schreckniſſen auf ihn ein. Da erblickte er die Schnapsflaſche, die auf der Drehbank ſtand; in ihr ſaß der Teufel, der ihn in dieſen Traum ver¬ ſenkt hatte. Und er wollte nicht ſolche Träume haben —

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/282>, abgerufen am 25.11.2024.