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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Am ersten Neujahrstage traf ein seltenes Ereigniß ein.
Als der Meister, durch Frau Karoline gerufen, die gute Stube
betrat, fand er eine elegant gekleidete junge Dame vor, der
die Meisterin den Ehrenplatz auf dem Sopha eingeräumt
hatte. Das ganze Zimmer duftete nach dem Parfüm der
Besucherin. Es war Fräulein Emma Kirchberg, die er erst
erkannte, nachdem sie ihren Schleier gelüftet hatte. Timpe
traute seinen Augen nicht. Bis er sich von seiner Ueber¬
raschung erholt hatte, fragte er höflich aber gemessen nach
dem Begehr des "gnädigen Fräuleins". Aus jedem Worte
klang der Groll gegen die feindliche Nachbarschaft. Er polterte
die Frage so rauh hervor, daß Karoline, die sich allem An¬
scheine nach sehr freundlich mit Urban's Stieftochter unter¬
halten hatte, ein erschrecktes Gesicht zeigte und ihn durch
Zeichen bat, seine Heftigkeit zu zügeln. Er aber nahm keine
Rücksicht. Gehörte Emma nicht zur "Sippschaft da drüben",
die sein Unglück beschlossen hatte, mußte sie nicht mit Franz
unter einer Decke stecken, also auch wissen, wie das Ver¬
hältniß zwischen Vater und Sohn lag? Was wollte sie also hier?
War sie gekommen, um sich an seinen Qualen zu weiden?

Emma hatte sich sofort erhoben und ihm die Hand
entgegengestreckt. Sie glaubte dem unfreundlichen Auftreten
des Meisters mit so größerer Liebenswürdigkeit begegnen zu
müssen.

"Gestatten Sie mir, Herr Timpe, Ihnen meine auf¬
richtigsten Glückwünsche zum neuen Jahre auszusprechen",
sagte sie mit der ganzen Herzlichkeit, die ihr zu Gebote stand.
"Wenn Ihre Meinung von mir nicht gar zu schlecht ist, so
werden Sie von der Wahrhaftigkeit meiner Gefühle für Sie
überzeugt sein. . . ."

Am erſten Neujahrstage traf ein ſeltenes Ereigniß ein.
Als der Meiſter, durch Frau Karoline gerufen, die gute Stube
betrat, fand er eine elegant gekleidete junge Dame vor, der
die Meiſterin den Ehrenplatz auf dem Sopha eingeräumt
hatte. Das ganze Zimmer duftete nach dem Parfüm der
Beſucherin. Es war Fräulein Emma Kirchberg, die er erſt
erkannte, nachdem ſie ihren Schleier gelüftet hatte. Timpe
traute ſeinen Augen nicht. Bis er ſich von ſeiner Ueber¬
raſchung erholt hatte, fragte er höflich aber gemeſſen nach
dem Begehr des „gnädigen Fräuleins“. Aus jedem Worte
klang der Groll gegen die feindliche Nachbarſchaft. Er polterte
die Frage ſo rauh hervor, daß Karoline, die ſich allem An¬
ſcheine nach ſehr freundlich mit Urban's Stieftochter unter¬
halten hatte, ein erſchrecktes Geſicht zeigte und ihn durch
Zeichen bat, ſeine Heftigkeit zu zügeln. Er aber nahm keine
Rückſicht. Gehörte Emma nicht zur „Sippſchaft da drüben“,
die ſein Unglück beſchloſſen hatte, mußte ſie nicht mit Franz
unter einer Decke ſtecken, alſo auch wiſſen, wie das Ver¬
hältniß zwiſchen Vater und Sohn lag? Was wollte ſie alſo hier?
War ſie gekommen, um ſich an ſeinen Qualen zu weiden?

Emma hatte ſich ſofort erhoben und ihm die Hand
entgegengeſtreckt. Sie glaubte dem unfreundlichen Auftreten
des Meiſters mit ſo größerer Liebenswürdigkeit begegnen zu
müſſen.

„Geſtatten Sie mir, Herr Timpe, Ihnen meine auf¬
richtigſten Glückwünſche zum neuen Jahre auszuſprechen“,
ſagte ſie mit der ganzen Herzlichkeit, die ihr zu Gebote ſtand.
„Wenn Ihre Meinung von mir nicht gar zu ſchlecht iſt, ſo
werden Sie von der Wahrhaftigkeit meiner Gefühle für Sie
überzeugt ſein. . . .“

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[212/0224] Am erſten Neujahrstage traf ein ſeltenes Ereigniß ein. Als der Meiſter, durch Frau Karoline gerufen, die gute Stube betrat, fand er eine elegant gekleidete junge Dame vor, der die Meiſterin den Ehrenplatz auf dem Sopha eingeräumt hatte. Das ganze Zimmer duftete nach dem Parfüm der Beſucherin. Es war Fräulein Emma Kirchberg, die er erſt erkannte, nachdem ſie ihren Schleier gelüftet hatte. Timpe traute ſeinen Augen nicht. Bis er ſich von ſeiner Ueber¬ raſchung erholt hatte, fragte er höflich aber gemeſſen nach dem Begehr des „gnädigen Fräuleins“. Aus jedem Worte klang der Groll gegen die feindliche Nachbarſchaft. Er polterte die Frage ſo rauh hervor, daß Karoline, die ſich allem An¬ ſcheine nach ſehr freundlich mit Urban's Stieftochter unter¬ halten hatte, ein erſchrecktes Geſicht zeigte und ihn durch Zeichen bat, ſeine Heftigkeit zu zügeln. Er aber nahm keine Rückſicht. Gehörte Emma nicht zur „Sippſchaft da drüben“, die ſein Unglück beſchloſſen hatte, mußte ſie nicht mit Franz unter einer Decke ſtecken, alſo auch wiſſen, wie das Ver¬ hältniß zwiſchen Vater und Sohn lag? Was wollte ſie alſo hier? War ſie gekommen, um ſich an ſeinen Qualen zu weiden? Emma hatte ſich ſofort erhoben und ihm die Hand entgegengeſtreckt. Sie glaubte dem unfreundlichen Auftreten des Meiſters mit ſo größerer Liebenswürdigkeit begegnen zu müſſen. „Geſtatten Sie mir, Herr Timpe, Ihnen meine auf¬ richtigſten Glückwünſche zum neuen Jahre auszuſprechen“, ſagte ſie mit der ganzen Herzlichkeit, die ihr zu Gebote ſtand. „Wenn Ihre Meinung von mir nicht gar zu ſchlecht iſt, ſo werden Sie von der Wahrhaftigkeit meiner Gefühle für Sie überzeugt ſein. . . .“

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/224>, abgerufen am 27.11.2024.