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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Und Visionen hatte Timpe auch am hellen Tage. Wo
er ging und stand, sah er den Großvater in seinen letzten
Augenblicken: wie er mit halberloschenem Auge nach der
Thür deutete, vor der er zusammengebrochen war -- hörte er
ihn die fürchterliche Anklage aussprechen: "Dein Sohn, ein
Dieb!" Und dieses letzte Wort gellte dem Meister in tausend
verschiedenen Tonarten entgegen: Früh, wenn er sich von
seinem Lager erhob, den ganzen Tag über, des Abends, wenn
er sich zur Ruhe legte und des Nachts, wenn er aus wildem
Traume erwachte. Einstmals hatte er im Schlafe laut um
Hilfe gerufen, so daß Karoline bestürzt Licht machte
und vor Furcht zitternd ihn weckte. Als er die Augen
aufschlug, war er förmlich in Schweiß gebadet. Es war
ein schlimmer Traum gewesen: Die Polizeibeamten hatten
seinen Sohn gefesselt, um ihn als Verbrecher ins Ge¬
fängniß zu führen und er wollte sich dem mit Gewalt
widersetzen. Schließlich packte man auch ihn, um ihn weg¬
zuführen. Die Gewalt hatte ihm im Schlafe die Zunge
gelöst.

Die Erinnerung an dieses Traumgespenst wirkte nur
noch niederdrückender auf ihn, denn es hatte ihm die ganze
Verworfenheit seines Sohnes verkörpert vor die Augen ge¬
führt. Was er am meisten befürchtete, war, daß irgend
Jemand seinen Sohn in jener Nacht erkannt haben und daß
sein Name dadurch öffentlich entehrt werden könnte. Im Ge¬
heimen horchte er überall herum, ob sein Verdacht begründet
sei. Fast allabendlich suchte er den Stammtisch bei Jamrath
auf und blieb länger als sonst beim Biere. Sämmtliche
Gäste wußten vom plötzlichen Tode des alten Timpe und
auch von dem angeblichen Diebstahl, denn Krusemeyer und

Und Viſionen hatte Timpe auch am hellen Tage. Wo
er ging und ſtand, ſah er den Großvater in ſeinen letzten
Augenblicken: wie er mit halberloſchenem Auge nach der
Thür deutete, vor der er zuſammengebrochen war — hörte er
ihn die fürchterliche Anklage ausſprechen: „Dein Sohn, ein
Dieb!“ Und dieſes letzte Wort gellte dem Meiſter in tauſend
verſchiedenen Tonarten entgegen: Früh, wenn er ſich von
ſeinem Lager erhob, den ganzen Tag über, des Abends, wenn
er ſich zur Ruhe legte und des Nachts, wenn er aus wildem
Traume erwachte. Einſtmals hatte er im Schlafe laut um
Hilfe gerufen, ſo daß Karoline beſtürzt Licht machte
und vor Furcht zitternd ihn weckte. Als er die Augen
aufſchlug, war er förmlich in Schweiß gebadet. Es war
ein ſchlimmer Traum geweſen: Die Polizeibeamten hatten
ſeinen Sohn gefeſſelt, um ihn als Verbrecher ins Ge¬
fängniß zu führen und er wollte ſich dem mit Gewalt
widerſetzen. Schließlich packte man auch ihn, um ihn weg¬
zuführen. Die Gewalt hatte ihm im Schlafe die Zunge
gelöſt.

Die Erinnerung an dieſes Traumgeſpenſt wirkte nur
noch niederdrückender auf ihn, denn es hatte ihm die ganze
Verworfenheit ſeines Sohnes verkörpert vor die Augen ge¬
führt. Was er am meiſten befürchtete, war, daß irgend
Jemand ſeinen Sohn in jener Nacht erkannt haben und daß
ſein Name dadurch öffentlich entehrt werden könnte. Im Ge¬
heimen horchte er überall herum, ob ſein Verdacht begründet
ſei. Faſt allabendlich ſuchte er den Stammtiſch bei Jamrath
auf und blieb länger als ſonſt beim Biere. Sämmtliche
Gäſte wußten vom plötzlichen Tode des alten Timpe und
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[203/0215] Und Viſionen hatte Timpe auch am hellen Tage. Wo er ging und ſtand, ſah er den Großvater in ſeinen letzten Augenblicken: wie er mit halberloſchenem Auge nach der Thür deutete, vor der er zuſammengebrochen war — hörte er ihn die fürchterliche Anklage ausſprechen: „Dein Sohn, ein Dieb!“ Und dieſes letzte Wort gellte dem Meiſter in tauſend verſchiedenen Tonarten entgegen: Früh, wenn er ſich von ſeinem Lager erhob, den ganzen Tag über, des Abends, wenn er ſich zur Ruhe legte und des Nachts, wenn er aus wildem Traume erwachte. Einſtmals hatte er im Schlafe laut um Hilfe gerufen, ſo daß Karoline beſtürzt Licht machte und vor Furcht zitternd ihn weckte. Als er die Augen aufſchlug, war er förmlich in Schweiß gebadet. Es war ein ſchlimmer Traum geweſen: Die Polizeibeamten hatten ſeinen Sohn gefeſſelt, um ihn als Verbrecher ins Ge¬ fängniß zu führen und er wollte ſich dem mit Gewalt widerſetzen. Schließlich packte man auch ihn, um ihn weg¬ zuführen. Die Gewalt hatte ihm im Schlafe die Zunge gelöſt. Die Erinnerung an dieſes Traumgeſpenſt wirkte nur noch niederdrückender auf ihn, denn es hatte ihm die ganze Verworfenheit ſeines Sohnes verkörpert vor die Augen ge¬ führt. Was er am meiſten befürchtete, war, daß irgend Jemand ſeinen Sohn in jener Nacht erkannt haben und daß ſein Name dadurch öffentlich entehrt werden könnte. Im Ge¬ heimen horchte er überall herum, ob ſein Verdacht begründet ſei. Faſt allabendlich ſuchte er den Stammtiſch bei Jamrath auf und blieb länger als ſonſt beim Biere. Sämmtliche Gäſte wußten vom plötzlichen Tode des alten Timpe und auch von dem angeblichen Diebſtahl, denn Kruſemeyer und

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/215>, abgerufen am 22.11.2024.