stand ihn. Er beugte sich tief zu ihm hernieder. Mit An¬ strengung deutete der Greis nach der Thür der Modell¬ stube.
"Dein Sohn -- ein Dieb -- die Zuchtruthe -- --", flüsterte er in abgebrochenen Lauten, aber deutlich vernehmbar für Johannes.
Dann fiel er wieder zurück; der Kopf neigte sich weit auf die Brust, und die Arme hingen schlaff herunter.
"Gott er stirbt!" schrie der Meister laut auf; und diesem Schrei folgten die Verzweiflungsworte: "Vater, Vater, was ist Dir?"
Beide warfen sich gleichzeitig über den Körper, fühlten den Puls, drehten den Kopf nach allen Seiten, tasteten auf dem mageren Körper nach dem Herzen -- es war zu spät: Gottfried Timpe war erlöst von seinem Leben in ewiger Nacht, Schrecken und Entsetzen hatten ihn getödtet.
Sie richteten das Haupt hintenüber und blickten ihm mit verschlungenen Armen lange in's bleiche Antlitz, dann löste sich der grenzenlose Schmerz Johannes' in heiße Thränen auf, die durch keinen Laut entheiligt wurden. Die treue Ehehälfte setzte sich still bei Seite und schluchzte leise hinter ihren Händen.
Dann kam Krusemeyer mit dem Arzt, der nun seines letzten Amtes noch zu walten hatte. Und hinter den Beiden zeigte sich auch das behelmte Haupt Liebegott's, der unver¬ richteter Sache nach dem Orte der That zurückgekehrt war. Und als er nach einer Viertelstunde draußen auf der Straße Krusemeyer fragte, ob er sich die Gesichtszüge des Diebes eingeprägt habe, erwiderte dieser kurz und bündig:
ſtand ihn. Er beugte ſich tief zu ihm hernieder. Mit An¬ ſtrengung deutete der Greis nach der Thür der Modell¬ ſtube.
„Dein Sohn — ein Dieb — die Zuchtruthe — —“, flüſterte er in abgebrochenen Lauten, aber deutlich vernehmbar für Johannes.
Dann fiel er wieder zurück; der Kopf neigte ſich weit auf die Bruſt, und die Arme hingen ſchlaff herunter.
„Gott er ſtirbt!“ ſchrie der Meiſter laut auf; und dieſem Schrei folgten die Verzweiflungsworte: „Vater, Vater, was iſt Dir?“
Beide warfen ſich gleichzeitig über den Körper, fühlten den Puls, drehten den Kopf nach allen Seiten, taſteten auf dem mageren Körper nach dem Herzen — es war zu ſpät: Gottfried Timpe war erlöſt von ſeinem Leben in ewiger Nacht, Schrecken und Entſetzen hatten ihn getödtet.
Sie richteten das Haupt hintenüber und blickten ihm mit verſchlungenen Armen lange in's bleiche Antlitz, dann löſte ſich der grenzenloſe Schmerz Johannes' in heiße Thränen auf, die durch keinen Laut entheiligt wurden. Die treue Ehehälfte ſetzte ſich ſtill bei Seite und ſchluchzte leiſe hinter ihren Händen.
Dann kam Kruſemeyer mit dem Arzt, der nun ſeines letzten Amtes noch zu walten hatte. Und hinter den Beiden zeigte ſich auch das behelmte Haupt Liebegott's, der unver¬ richteter Sache nach dem Orte der That zurückgekehrt war. Und als er nach einer Viertelſtunde draußen auf der Straße Kruſemeyer fragte, ob er ſich die Geſichtszüge des Diebes eingeprägt habe, erwiderte dieſer kurz und bündig:
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ſtand ihn. Er beugte ſich tief zu ihm hernieder. Mit An¬
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ſtube.
„Dein Sohn — ein Dieb — die Zuchtruthe — —“,
flüſterte er in abgebrochenen Lauten, aber deutlich vernehmbar
für Johannes.
Dann fiel er wieder zurück; der Kopf neigte ſich weit
auf die Bruſt, und die Arme hingen ſchlaff herunter.
„Gott er ſtirbt!“ ſchrie der Meiſter laut auf; und dieſem
Schrei folgten die Verzweiflungsworte: „Vater, Vater, was
iſt Dir?“
Beide warfen ſich gleichzeitig über den Körper, fühlten den
Puls, drehten den Kopf nach allen Seiten, taſteten auf dem
mageren Körper nach dem Herzen — es war zu ſpät:
Gottfried Timpe war erlöſt von ſeinem Leben in ewiger
Nacht, Schrecken und Entſetzen hatten ihn getödtet.
Sie richteten das Haupt hintenüber und blickten ihm mit
verſchlungenen Armen lange in's bleiche Antlitz, dann löſte
ſich der grenzenloſe Schmerz Johannes' in heiße Thränen
auf, die durch keinen Laut entheiligt wurden. Die treue
Ehehälfte ſetzte ſich ſtill bei Seite und ſchluchzte leiſe hinter
ihren Händen.
Dann kam Kruſemeyer mit dem Arzt, der nun ſeines
letzten Amtes noch zu walten hatte. Und hinter den Beiden
zeigte ſich auch das behelmte Haupt Liebegott's, der unver¬
richteter Sache nach dem Orte der That zurückgekehrt war.
Und als er nach einer Viertelſtunde draußen auf der Straße
Kruſemeyer fragte, ob er ſich die Geſichtszüge des Diebes
eingeprägt habe, erwiderte dieſer kurz und bündig:
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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/211>, abgerufen am 16.02.2025.
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