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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Man ließ die entlassenen Gesellen Revue passiren. Aber unter
ihnen war Keiner, auf den der Verdacht sich mit Gewißheit lenken
konnte. Ja, wenn einer von ihnen bei Urban beschäftigt wäre, so
hätte die Sachlage sich geändert. Da sagte der älteste der
Lehrlinge, der mit immer noch zuckendem Munde und ge¬
rötheten Augen wieder an seine Arbeit gegangen war:

"Jetzt fällt mir ein, Meister -- ich habe Ihrem Herrn
Sohn einmal die Leiter halten müssen, als er noch Abends
spät an der Wand da drinnen etwas suchen wollte,"

Timpe wurde leichenblaß. Wie Schuppen fiel es ihm
von den Augen, aber er nahm seine ganze Kraft zusammen,
um sich seinen Leuten gegenüber zu beherrschen. Während er
vor sich auf die Diele starrte, sah er im Geiste die erstaunten
Blicke seiner Gesellen auf sich gerichtet. Und er fühlte, wie
das Blut ihm heiß ins Gesicht stieg. Dann ermannte er sich,
wendete sich langsam nach dem Burschen um und sagte mit
unheimlicher Ruhe:

"Naseweise Jungen machen naseweise Bemerkungen.
Künftighin wirst Du den Mund erst aufthun, wenn Du ge¬
fragt wirst .. Was mein Sohn damals suchte, das weiß ich
schon." Und zu den Gesellen gewendet:

"Zerbrechen wir uns nicht mehr die Köpfe um den
Dieb, der Zufall wird uns schon zu Hülfe kommen."

Nach diesen Worten verließ er gemessenen Schrittes
die Werkstatt und verschwand in seine Arbeitsstube. Hier
aber verließ ihn die Kraft. Wie erschöpft ließ er sich auf
einen Stuhl am Fenster und verbarg sein Gesicht in die Hände.
So saß er lange, lange. Was seine Seele bewegte, kam
durch kein Wort zum Ausbruch, aber die schweren Athemzüge
zeugten für die fürchtlichen Kämpfe in seinem Innern.

Man ließ die entlaſſenen Geſellen Revue paſſiren. Aber unter
ihnen war Keiner, auf den der Verdacht ſich mit Gewißheit lenken
konnte. Ja, wenn einer von ihnen bei Urban beſchäftigt wäre, ſo
hätte die Sachlage ſich geändert. Da ſagte der älteſte der
Lehrlinge, der mit immer noch zuckendem Munde und ge¬
rötheten Augen wieder an ſeine Arbeit gegangen war:

„Jetzt fällt mir ein, Meiſter — ich habe Ihrem Herrn
Sohn einmal die Leiter halten müſſen, als er noch Abends
ſpät an der Wand da drinnen etwas ſuchen wollte,“

Timpe wurde leichenblaß. Wie Schuppen fiel es ihm
von den Augen, aber er nahm ſeine ganze Kraft zuſammen,
um ſich ſeinen Leuten gegenüber zu beherrſchen. Während er
vor ſich auf die Diele ſtarrte, ſah er im Geiſte die erſtaunten
Blicke ſeiner Geſellen auf ſich gerichtet. Und er fühlte, wie
das Blut ihm heiß ins Geſicht ſtieg. Dann ermannte er ſich,
wendete ſich langſam nach dem Burſchen um und ſagte mit
unheimlicher Ruhe:

„Naſeweiſe Jungen machen naſeweiſe Bemerkungen.
Künftighin wirſt Du den Mund erſt aufthun, wenn Du ge¬
fragt wirſt .. Was mein Sohn damals ſuchte, das weiß ich
ſchon.“ Und zu den Geſellen gewendet:

„Zerbrechen wir uns nicht mehr die Köpfe um den
Dieb, der Zufall wird uns ſchon zu Hülfe kommen.“

Nach dieſen Worten verließ er gemeſſenen Schrittes
die Werkſtatt und verſchwand in ſeine Arbeitsſtube. Hier
aber verließ ihn die Kraft. Wie erſchöpft ließ er ſich auf
einen Stuhl am Fenſter und verbarg ſein Geſicht in die Hände.
So ſaß er lange, lange. Was ſeine Seele bewegte, kam
durch kein Wort zum Ausbruch, aber die ſchweren Athemzüge
zeugten für die fürchtlichen Kämpfe in ſeinem Innern.

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[181/0193] Man ließ die entlaſſenen Geſellen Revue paſſiren. Aber unter ihnen war Keiner, auf den der Verdacht ſich mit Gewißheit lenken konnte. Ja, wenn einer von ihnen bei Urban beſchäftigt wäre, ſo hätte die Sachlage ſich geändert. Da ſagte der älteſte der Lehrlinge, der mit immer noch zuckendem Munde und ge¬ rötheten Augen wieder an ſeine Arbeit gegangen war: „Jetzt fällt mir ein, Meiſter — ich habe Ihrem Herrn Sohn einmal die Leiter halten müſſen, als er noch Abends ſpät an der Wand da drinnen etwas ſuchen wollte,“ Timpe wurde leichenblaß. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, aber er nahm ſeine ganze Kraft zuſammen, um ſich ſeinen Leuten gegenüber zu beherrſchen. Während er vor ſich auf die Diele ſtarrte, ſah er im Geiſte die erſtaunten Blicke ſeiner Geſellen auf ſich gerichtet. Und er fühlte, wie das Blut ihm heiß ins Geſicht ſtieg. Dann ermannte er ſich, wendete ſich langſam nach dem Burſchen um und ſagte mit unheimlicher Ruhe: „Naſeweiſe Jungen machen naſeweiſe Bemerkungen. Künftighin wirſt Du den Mund erſt aufthun, wenn Du ge¬ fragt wirſt .. Was mein Sohn damals ſuchte, das weiß ich ſchon.“ Und zu den Geſellen gewendet: „Zerbrechen wir uns nicht mehr die Köpfe um den Dieb, der Zufall wird uns ſchon zu Hülfe kommen.“ Nach dieſen Worten verließ er gemeſſenen Schrittes die Werkſtatt und verſchwand in ſeine Arbeitsſtube. Hier aber verließ ihn die Kraft. Wie erſchöpft ließ er ſich auf einen Stuhl am Fenſter und verbarg ſein Geſicht in die Hände. So ſaß er lange, lange. Was ſeine Seele bewegte, kam durch kein Wort zum Ausbruch, aber die ſchweren Athemzüge zeugten für die fürchtlichen Kämpfe in ſeinem Innern.

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/193>, abgerufen am 03.05.2024.