seinen Blick nach rückwärts wandte, sah er vor sich weiter nichts als halbabgetragene Mauern, herabhängende Tapeten¬ fetzen, große Haufen Steine und halbmorsche Balken, die nur noch als Brennholz dienen konnten. Die ganze Straßen¬ ecke mußte fallen. Von früh bis spät hörte man das Häm¬ mern der Spitzhacken, Abbröckeln und Rasseln der Steine, wenn sie ihren Weg durch die Holzbahn vom Dache her bergab nahmen. Hin und wieder stürzte eine halbe Mauer ein und der Staub, der den ganzen Tag über in der Luft lag, wurde durch eine ungeheure Wolke vermehrt, welche die Arbeiter und Mauerreste wie in Pulverdampf einhüllte. Das hörte sich dann im Innern des Häuschen an, als wäre für die Be¬ wohner das letzte Stündlein gekommen. Der Großvater hatte seinen ganzen Humor verloren und erfand fortwährend neue Bezeichnungen für den "Skandal" da draußen. Es scheine, als wenn man halb Berlin abrisse. Die Menschen würden immer unverschämter und respektirten den Frieden des lieben Nächsten nicht mehr, meinte er voller Ingrimm. Nächstens würden sie noch ihren Besuch durch den Schornstein machen, nur um die Ruhe zu stören.
Die größte Aufregung kam jedoch, als es an den Ab¬ bruch des Gebäudes ging, das die hintere Giebelseite von Timpes Haus begrenzte. Während dieser Arbeit saß der Meister stundenlang auf seinem Auslug, um rechtzeitig für das Anbringen von Stützen zu sorgen. Aber auch das ging ohne Unglück ab. Nach einem Monat lag die Ecke frei und die Ausschachtung des Erdbodens begann. Timpe's Haus nahm sich nun wie ein störender Punkt in der Umgebung aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarkt¬
ſeinen Blick nach rückwärts wandte, ſah er vor ſich weiter nichts als halbabgetragene Mauern, herabhängende Tapeten¬ fetzen, große Haufen Steine und halbmorſche Balken, die nur noch als Brennholz dienen konnten. Die ganze Straßen¬ ecke mußte fallen. Von früh bis ſpät hörte man das Häm¬ mern der Spitzhacken, Abbröckeln und Raſſeln der Steine, wenn ſie ihren Weg durch die Holzbahn vom Dache her bergab nahmen. Hin und wieder ſtürzte eine halbe Mauer ein und der Staub, der den ganzen Tag über in der Luft lag, wurde durch eine ungeheure Wolke vermehrt, welche die Arbeiter und Mauerreſte wie in Pulverdampf einhüllte. Das hörte ſich dann im Innern des Häuschen an, als wäre für die Be¬ wohner das letzte Stündlein gekommen. Der Großvater hatte ſeinen ganzen Humor verloren und erfand fortwährend neue Bezeichnungen für den „Skandal“ da draußen. Es ſcheine, als wenn man halb Berlin abriſſe. Die Menſchen würden immer unverſchämter und reſpektirten den Frieden des lieben Nächſten nicht mehr, meinte er voller Ingrimm. Nächſtens würden ſie noch ihren Beſuch durch den Schornſtein machen, nur um die Ruhe zu ſtören.
Die größte Aufregung kam jedoch, als es an den Ab¬ bruch des Gebäudes ging, das die hintere Giebelſeite von Timpes Haus begrenzte. Während dieſer Arbeit ſaß der Meiſter ſtundenlang auf ſeinem Auslug, um rechtzeitig für das Anbringen von Stützen zu ſorgen. Aber auch das ging ohne Unglück ab. Nach einem Monat lag die Ecke frei und die Ausſchachtung des Erdbodens begann. Timpe's Haus nahm ſich nun wie ein ſtörender Punkt in der Umgebung aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarkt¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0176"n="164"/>ſeinen Blick nach rückwärts wandte, ſah er vor ſich weiter<lb/>
nichts als halbabgetragene Mauern, herabhängende Tapeten¬<lb/>
fetzen, große Haufen Steine und halbmorſche Balken, die<lb/>
nur noch als Brennholz dienen konnten. Die ganze Straßen¬<lb/>
ecke mußte fallen. Von früh bis ſpät hörte man das Häm¬<lb/>
mern der Spitzhacken, Abbröckeln und Raſſeln der Steine,<lb/>
wenn ſie ihren Weg durch die Holzbahn vom Dache her bergab<lb/>
nahmen. Hin und wieder ſtürzte eine halbe Mauer ein und<lb/>
der Staub, der den ganzen Tag über in der Luft lag, wurde<lb/>
durch eine ungeheure Wolke vermehrt, welche die Arbeiter und<lb/>
Mauerreſte wie in Pulverdampf einhüllte. Das hörte ſich<lb/>
dann im Innern des Häuschen an, als wäre für die Be¬<lb/>
wohner das letzte Stündlein gekommen. Der Großvater<lb/>
hatte ſeinen ganzen Humor verloren und erfand fortwährend<lb/>
neue Bezeichnungen für den „Skandal“ da draußen. Es<lb/>ſcheine, als wenn man halb Berlin abriſſe. Die Menſchen<lb/>
würden immer unverſchämter und reſpektirten den Frieden<lb/>
des lieben Nächſten nicht mehr, meinte er voller Ingrimm.<lb/>
Nächſtens würden ſie noch ihren Beſuch durch den Schornſtein<lb/>
machen, nur um die Ruhe zu ſtören.</p><lb/><p>Die größte Aufregung kam jedoch, als es an den Ab¬<lb/>
bruch des Gebäudes ging, das die hintere Giebelſeite von<lb/>
Timpes Haus begrenzte. Während dieſer Arbeit ſaß der<lb/>
Meiſter ſtundenlang auf ſeinem Auslug, um rechtzeitig für<lb/>
das Anbringen von Stützen zu ſorgen. Aber auch das ging<lb/>
ohne Unglück ab. Nach einem Monat lag die Ecke frei und<lb/>
die Ausſchachtung des Erdbodens begann. Timpe's Haus<lb/>
nahm ſich nun wie ein ſtörender Punkt in der Umgebung<lb/>
aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn<lb/>
der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarkt¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[164/0176]
ſeinen Blick nach rückwärts wandte, ſah er vor ſich weiter
nichts als halbabgetragene Mauern, herabhängende Tapeten¬
fetzen, große Haufen Steine und halbmorſche Balken, die
nur noch als Brennholz dienen konnten. Die ganze Straßen¬
ecke mußte fallen. Von früh bis ſpät hörte man das Häm¬
mern der Spitzhacken, Abbröckeln und Raſſeln der Steine,
wenn ſie ihren Weg durch die Holzbahn vom Dache her bergab
nahmen. Hin und wieder ſtürzte eine halbe Mauer ein und
der Staub, der den ganzen Tag über in der Luft lag, wurde
durch eine ungeheure Wolke vermehrt, welche die Arbeiter und
Mauerreſte wie in Pulverdampf einhüllte. Das hörte ſich
dann im Innern des Häuschen an, als wäre für die Be¬
wohner das letzte Stündlein gekommen. Der Großvater
hatte ſeinen ganzen Humor verloren und erfand fortwährend
neue Bezeichnungen für den „Skandal“ da draußen. Es
ſcheine, als wenn man halb Berlin abriſſe. Die Menſchen
würden immer unverſchämter und reſpektirten den Frieden
des lieben Nächſten nicht mehr, meinte er voller Ingrimm.
Nächſtens würden ſie noch ihren Beſuch durch den Schornſtein
machen, nur um die Ruhe zu ſtören.
Die größte Aufregung kam jedoch, als es an den Ab¬
bruch des Gebäudes ging, das die hintere Giebelſeite von
Timpes Haus begrenzte. Während dieſer Arbeit ſaß der
Meiſter ſtundenlang auf ſeinem Auslug, um rechtzeitig für
das Anbringen von Stützen zu ſorgen. Aber auch das ging
ohne Unglück ab. Nach einem Monat lag die Ecke frei und
die Ausſchachtung des Erdbodens begann. Timpe's Haus
nahm ſich nun wie ein ſtörender Punkt in der Umgebung
aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn
der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarkt¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/176>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.