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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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und geschlossenen Jalousien den Gebäuden eine veränderte
Physiognomie gaben, waren ihre Absonderlichkeiten seinem Ge¬
dächtnisse eingeprägt, denn es war nicht das erste Mal, daß
er spät nach Mitternacht an ihnen vorüberschritt. Seit bei¬
nahe einem halben Jahre, seitdem ihn der Weg von der Schule
direkt ins Comtoir der Firma Ferdinand Friedrich Urban
geführt hatte, war fast keine Nacht vergangen, während wel¬
cher er nicht das nächtliche Leben Berlins durchkostet hatte.

Die frische Morgenluft wirkte endlich wohlthuend auf ihn
ein. Seine Haltung wurde sicherer, sein Gedankengang klarer,
nur die Müdigkeit wollte nicht von ihm weichen. Um sich
munter zu erhalten, begann er halblaut ein Lied zu summen,
das er aber wieder abbrach, weil die Kehle ihren Dienst
versagte.

Er befand sich in jenem Gewirr enger Straßen des
Ostens von Berlin, die sich wie ein Ueberbleibsel aus
alter Zeit bis heute noch erhalten haben. Altehrwürdige
Giebeldächer mit Mansardenfenstern blickten auf ihn
herab. Unregelmäßig standen die Gebäude am schmalen
Trottoir, hier eines von schiefer Haltung, wie von der Last
der Jahre vornübergebeugt, dort eines weit hinter die Front
gerückt, geziert mit einem kleinen Vorgarten, dessen Epheu
die schmalen Fenster umrankte und bis zum Dache hinauflief.
Nur vereinzelt überragte ein vierstöckiger Steinkasten, wie ein
schlank gewachsener Jüngling zusammen geschrumpfte Greise,
die vorväterlichen Wohnstätten, um einem stummen Wahr¬
zeichen gleich den Segen der neuen Zeit zu verkünden. In
der Stille dieses patriarchalischen Viertels vernahm man
weiter nichts, als die schallenden Schritte des jungen Mannes
und das schrille Pfeifen eines Bäckerjungen, das wie die

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und geſchloſſenen Jalouſien den Gebäuden eine veränderte
Phyſiognomie gaben, waren ihre Abſonderlichkeiten ſeinem Ge¬
dächtniſſe eingeprägt, denn es war nicht das erſte Mal, daß
er ſpät nach Mitternacht an ihnen vorüberſchritt. Seit bei¬
nahe einem halben Jahre, ſeitdem ihn der Weg von der Schule
direkt ins Comtoir der Firma Ferdinand Friedrich Urban
geführt hatte, war faſt keine Nacht vergangen, während wel¬
cher er nicht das nächtliche Leben Berlins durchkoſtet hatte.

Die friſche Morgenluft wirkte endlich wohlthuend auf ihn
ein. Seine Haltung wurde ſicherer, ſein Gedankengang klarer,
nur die Müdigkeit wollte nicht von ihm weichen. Um ſich
munter zu erhalten, begann er halblaut ein Lied zu ſummen,
das er aber wieder abbrach, weil die Kehle ihren Dienſt
verſagte.

Er befand ſich in jenem Gewirr enger Straßen des
Oſtens von Berlin, die ſich wie ein Ueberbleibſel aus
alter Zeit bis heute noch erhalten haben. Altehrwürdige
Giebeldächer mit Manſardenfenſtern blickten auf ihn
herab. Unregelmäßig ſtanden die Gebäude am ſchmalen
Trottoir, hier eines von ſchiefer Haltung, wie von der Laſt
der Jahre vornübergebeugt, dort eines weit hinter die Front
gerückt, geziert mit einem kleinen Vorgarten, deſſen Epheu
die ſchmalen Fenſter umrankte und bis zum Dache hinauflief.
Nur vereinzelt überragte ein vierſtöckiger Steinkaſten, wie ein
ſchlank gewachſener Jüngling zuſammen geſchrumpfte Greiſe,
die vorväterlichen Wohnſtätten, um einem ſtummen Wahr¬
zeichen gleich den Segen der neuen Zeit zu verkünden. In
der Stille dieſes patriarchaliſchen Viertels vernahm man
weiter nichts, als die ſchallenden Schritte des jungen Mannes
und das ſchrille Pfeifen eines Bäckerjungen, das wie die

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[3/0015] und geſchloſſenen Jalouſien den Gebäuden eine veränderte Phyſiognomie gaben, waren ihre Abſonderlichkeiten ſeinem Ge¬ dächtniſſe eingeprägt, denn es war nicht das erſte Mal, daß er ſpät nach Mitternacht an ihnen vorüberſchritt. Seit bei¬ nahe einem halben Jahre, ſeitdem ihn der Weg von der Schule direkt ins Comtoir der Firma Ferdinand Friedrich Urban geführt hatte, war faſt keine Nacht vergangen, während wel¬ cher er nicht das nächtliche Leben Berlins durchkoſtet hatte. Die friſche Morgenluft wirkte endlich wohlthuend auf ihn ein. Seine Haltung wurde ſicherer, ſein Gedankengang klarer, nur die Müdigkeit wollte nicht von ihm weichen. Um ſich munter zu erhalten, begann er halblaut ein Lied zu ſummen, das er aber wieder abbrach, weil die Kehle ihren Dienſt verſagte. Er befand ſich in jenem Gewirr enger Straßen des Oſtens von Berlin, die ſich wie ein Ueberbleibſel aus alter Zeit bis heute noch erhalten haben. Altehrwürdige Giebeldächer mit Manſardenfenſtern blickten auf ihn herab. Unregelmäßig ſtanden die Gebäude am ſchmalen Trottoir, hier eines von ſchiefer Haltung, wie von der Laſt der Jahre vornübergebeugt, dort eines weit hinter die Front gerückt, geziert mit einem kleinen Vorgarten, deſſen Epheu die ſchmalen Fenſter umrankte und bis zum Dache hinauflief. Nur vereinzelt überragte ein vierſtöckiger Steinkaſten, wie ein ſchlank gewachſener Jüngling zuſammen geſchrumpfte Greiſe, die vorväterlichen Wohnſtätten, um einem ſtummen Wahr¬ zeichen gleich den Segen der neuen Zeit zu verkünden. In der Stille dieſes patriarchaliſchen Viertels vernahm man weiter nichts, als die ſchallenden Schritte des jungen Mannes und das ſchrille Pfeifen eines Bäckerjungen, das wie die 1*

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/15>, abgerufen am 29.03.2024.