Schrecken aller Aufschneider das aus Pappe nachgebildete Riesenmesser mit der Klingel hing!
Da erschien mit dem Schlage sieben Uhr der lange hagere Brümmer, der jahrein, jahraus in einem langen braunen Gehrock gekleidet ging und niemals eine andere Kopfbedeckung trug, als eine große Schirmmütze. Er hatte sich als wohl¬ habend gewordener Handschuhmachermeister zur Ruhe gesetzt und lebte nun als kleiner Rentier in dem vererbten Hause seines Vaters, in dem er geboren worden war. Er trank regelmäßig drei große Weißen, zu der letzten einen kleinen Kümmel und erhob sich Punkt zehn Uhr, um schweigsam, wie er gekommen war, nach Hause zu wandern. Seit zehn Jahren war er aus seinem Viertel nicht herausgekommen. Er füllte sein Dasein damit, um sieben Uhr des Morgens aufzustehen, die Zeitungen zu lesen, regelmäßige Mahlzeiten zu halten und die übrige Zeit des Tages, die Pfeife im Munde, zum Fenster hinauszusehen, bis die Kneipstunde schlug. Während zweier Jahrzehnte sah man ihn denselben Platz einnehmen, und als er seinen Stuhl eines Abends von einem ihm fremden Manne besetzt sah, kehrte er schweigend um und ließ sich acht Tage lang nicht sehen, bis endlich Vater Jamrath ihn persönlich aufsuchte und das heilige Ver¬ sprechen abgab, niemals mehr ein ähnliches Vergehen gegen die Ordnung des Stammtisches gestatten zu wollen.
Das Gegentheil von Brümmers klassischer Schweigsam¬ keit und Ruhe bildete der behäbige Herr Wipperlich, ein kleiner Kürschnermeister aus der Langenstraße, dessen Sohn Subal¬ ternbeamter in einem Ministerium war, und der daraus die Berechtigung zog, über alle politischen Vorgänge am besten unterrichtet zu sein. Er war der Schwadroneur am Tische,
Schrecken aller Aufſchneider das aus Pappe nachgebildete Rieſenmeſſer mit der Klingel hing!
Da erſchien mit dem Schlage ſieben Uhr der lange hagere Brümmer, der jahrein, jahraus in einem langen braunen Gehrock gekleidet ging und niemals eine andere Kopfbedeckung trug, als eine große Schirmmütze. Er hatte ſich als wohl¬ habend gewordener Handſchuhmachermeiſter zur Ruhe geſetzt und lebte nun als kleiner Rentier in dem vererbten Hauſe ſeines Vaters, in dem er geboren worden war. Er trank regelmäßig drei große Weißen, zu der letzten einen kleinen Kümmel und erhob ſich Punkt zehn Uhr, um ſchweigſam, wie er gekommen war, nach Hauſe zu wandern. Seit zehn Jahren war er aus ſeinem Viertel nicht herausgekommen. Er füllte ſein Daſein damit, um ſieben Uhr des Morgens aufzuſtehen, die Zeitungen zu leſen, regelmäßige Mahlzeiten zu halten und die übrige Zeit des Tages, die Pfeife im Munde, zum Fenſter hinauszuſehen, bis die Kneipſtunde ſchlug. Während zweier Jahrzehnte ſah man ihn denſelben Platz einnehmen, und als er ſeinen Stuhl eines Abends von einem ihm fremden Manne beſetzt ſah, kehrte er ſchweigend um und ließ ſich acht Tage lang nicht ſehen, bis endlich Vater Jamrath ihn perſönlich aufſuchte und das heilige Ver¬ ſprechen abgab, niemals mehr ein ähnliches Vergehen gegen die Ordnung des Stammtiſches geſtatten zu wollen.
Das Gegentheil von Brümmers klaſſiſcher Schweigſam¬ keit und Ruhe bildete der behäbige Herr Wipperlich, ein kleiner Kürſchnermeiſter aus der Langenſtraße, deſſen Sohn Subal¬ ternbeamter in einem Miniſterium war, und der daraus die Berechtigung zog, über alle politiſchen Vorgänge am beſten unterrichtet zu ſein. Er war der Schwadroneur am Tiſche,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0147"n="135"/>
Schrecken aller Aufſchneider das aus Pappe nachgebildete<lb/>
Rieſenmeſſer mit der Klingel hing!</p><lb/><p>Da erſchien mit dem Schlage ſieben Uhr der lange hagere<lb/>
Brümmer, der jahrein, jahraus in einem langen braunen<lb/>
Gehrock gekleidet ging und niemals eine andere Kopfbedeckung<lb/>
trug, als eine große Schirmmütze. Er hatte ſich als wohl¬<lb/>
habend gewordener Handſchuhmachermeiſter zur Ruhe geſetzt<lb/>
und lebte nun als kleiner Rentier in dem vererbten Hauſe<lb/>ſeines Vaters, in dem er geboren worden war. Er trank<lb/>
regelmäßig drei große Weißen, zu der letzten einen kleinen<lb/>
Kümmel und erhob ſich Punkt zehn Uhr, um ſchweigſam, wie<lb/>
er gekommen war, nach Hauſe zu wandern. Seit zehn<lb/>
Jahren war er aus ſeinem Viertel nicht herausgekommen.<lb/>
Er füllte ſein Daſein damit, um ſieben Uhr des Morgens<lb/>
aufzuſtehen, die Zeitungen zu leſen, regelmäßige Mahlzeiten<lb/>
zu halten und die übrige Zeit des Tages, die Pfeife im<lb/>
Munde, zum Fenſter hinauszuſehen, bis die Kneipſtunde<lb/>ſchlug. Während zweier Jahrzehnte ſah man ihn denſelben<lb/>
Platz einnehmen, und als er ſeinen Stuhl eines Abends von<lb/>
einem ihm fremden Manne beſetzt ſah, kehrte er ſchweigend<lb/>
um und ließ ſich acht Tage lang nicht ſehen, bis endlich<lb/>
Vater Jamrath ihn perſönlich aufſuchte und das heilige Ver¬<lb/>ſprechen abgab, niemals mehr ein ähnliches Vergehen gegen<lb/>
die Ordnung des Stammtiſches geſtatten zu wollen.</p><lb/><p>Das Gegentheil von Brümmers klaſſiſcher Schweigſam¬<lb/>
keit und Ruhe bildete der behäbige Herr Wipperlich, ein kleiner<lb/>
Kürſchnermeiſter aus der Langenſtraße, deſſen Sohn Subal¬<lb/>
ternbeamter in einem Miniſterium war, und der daraus die<lb/>
Berechtigung zog, über alle politiſchen Vorgänge am beſten<lb/>
unterrichtet zu ſein. Er war der Schwadroneur am Tiſche,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[135/0147]
Schrecken aller Aufſchneider das aus Pappe nachgebildete
Rieſenmeſſer mit der Klingel hing!
Da erſchien mit dem Schlage ſieben Uhr der lange hagere
Brümmer, der jahrein, jahraus in einem langen braunen
Gehrock gekleidet ging und niemals eine andere Kopfbedeckung
trug, als eine große Schirmmütze. Er hatte ſich als wohl¬
habend gewordener Handſchuhmachermeiſter zur Ruhe geſetzt
und lebte nun als kleiner Rentier in dem vererbten Hauſe
ſeines Vaters, in dem er geboren worden war. Er trank
regelmäßig drei große Weißen, zu der letzten einen kleinen
Kümmel und erhob ſich Punkt zehn Uhr, um ſchweigſam, wie
er gekommen war, nach Hauſe zu wandern. Seit zehn
Jahren war er aus ſeinem Viertel nicht herausgekommen.
Er füllte ſein Daſein damit, um ſieben Uhr des Morgens
aufzuſtehen, die Zeitungen zu leſen, regelmäßige Mahlzeiten
zu halten und die übrige Zeit des Tages, die Pfeife im
Munde, zum Fenſter hinauszuſehen, bis die Kneipſtunde
ſchlug. Während zweier Jahrzehnte ſah man ihn denſelben
Platz einnehmen, und als er ſeinen Stuhl eines Abends von
einem ihm fremden Manne beſetzt ſah, kehrte er ſchweigend
um und ließ ſich acht Tage lang nicht ſehen, bis endlich
Vater Jamrath ihn perſönlich aufſuchte und das heilige Ver¬
ſprechen abgab, niemals mehr ein ähnliches Vergehen gegen
die Ordnung des Stammtiſches geſtatten zu wollen.
Das Gegentheil von Brümmers klaſſiſcher Schweigſam¬
keit und Ruhe bildete der behäbige Herr Wipperlich, ein kleiner
Kürſchnermeiſter aus der Langenſtraße, deſſen Sohn Subal¬
ternbeamter in einem Miniſterium war, und der daraus die
Berechtigung zog, über alle politiſchen Vorgänge am beſten
unterrichtet zu ſein. Er war der Schwadroneur am Tiſche,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/147>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.