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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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wiegt. Plötzlich fiel ihm ein, daß er heute "Franzens-Ruh"
noch nicht bestiegen habe. Das mußte nachgeholt werden.

Nach fünf Minuten saß er oben in den Zweigen und
starrte in den hellen Abend.

Es war Mitte August, der Tag heiß gewesen. Und nun
hatte sich ein leiser, wohlthuender Wind erhoben und trieb
seinen Luftzug Johannes Timpe kühlend ins Gesicht. Der
Vollmond schwamm wie eine silberne Riesenmotte am Himmel,
überzog die Dächer der Häuser mit seinem weißen Lichte und
färbte die leise lispelnden Blätter der Bäume und Sträucher
mit einem smaragdfarbenen Schimmer, der sie wie durch¬
leuchtet erscheinen ließ. Selbst die überall gähnenden
Schatten der Häuser nahmen sich wie ein durchsichtiger,
blauschwarzer Schleier aus, der jeden Gegenstand am
Erdboden deutlich erkennen ließ. Die Rosen durch¬
würzten mit ihrem letzten Duft die Luft, und auf dem
einzigen, jenseits der Mauer stehengebliebenen Baum saß eine
Nachtigall und schlug schmelzend ihre herzbewegenden Triller.
Es war, als klage sie über den Verlust des herrlichen Natur¬
schmuckes, der ehemals hier ihr Reich gebildet hatte. Ein
großer Nachtfalter umschwirrte den Meister, summte ihm
einige Sekunden lang die Schmetterlingssprache vor und ent¬
wich dann mit glänzenden Flügeln. Er nippte an den gol¬
digen Blüthen eines Akazienbäumchens und verlor sich dann
im Dunkel.

Diese märchenhafte Stille wurde nur zeitweilig von den
Wellenschlägen des Berliner Lebens unterbrochen, die wie
das Murmeln eines leise grollenden Meeres in sanften
Rhythmen Johannes' Ohr berührten.

Lange ließ der Meister wie traumverloren seinen Blick

wiegt. Plötzlich fiel ihm ein, daß er heute „Franzens-Ruh“
noch nicht beſtiegen habe. Das mußte nachgeholt werden.

Nach fünf Minuten ſaß er oben in den Zweigen und
ſtarrte in den hellen Abend.

Es war Mitte Auguſt, der Tag heiß geweſen. Und nun
hatte ſich ein leiſer, wohlthuender Wind erhoben und trieb
ſeinen Luftzug Johannes Timpe kühlend ins Geſicht. Der
Vollmond ſchwamm wie eine ſilberne Rieſenmotte am Himmel,
überzog die Dächer der Häuſer mit ſeinem weißen Lichte und
färbte die leiſe liſpelnden Blätter der Bäume und Sträucher
mit einem ſmaragdfarbenen Schimmer, der ſie wie durch¬
leuchtet erſcheinen ließ. Selbſt die überall gähnenden
Schatten der Häuſer nahmen ſich wie ein durchſichtiger,
blauſchwarzer Schleier aus, der jeden Gegenſtand am
Erdboden deutlich erkennen ließ. Die Roſen durch¬
würzten mit ihrem letzten Duft die Luft, und auf dem
einzigen, jenſeits der Mauer ſtehengebliebenen Baum ſaß eine
Nachtigall und ſchlug ſchmelzend ihre herzbewegenden Triller.
Es war, als klage ſie über den Verluſt des herrlichen Natur¬
ſchmuckes, der ehemals hier ihr Reich gebildet hatte. Ein
großer Nachtfalter umſchwirrte den Meiſter, ſummte ihm
einige Sekunden lang die Schmetterlingsſprache vor und ent¬
wich dann mit glänzenden Flügeln. Er nippte an den gol¬
digen Blüthen eines Akazienbäumchens und verlor ſich dann
im Dunkel.

Dieſe märchenhafte Stille wurde nur zeitweilig von den
Wellenſchlägen des Berliner Lebens unterbrochen, die wie
das Murmeln eines leiſe grollenden Meeres in ſanften
Rhythmen Johannes' Ohr berührten.

Lange ließ der Meiſter wie traumverloren ſeinen Blick

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[92/0104] wiegt. Plötzlich fiel ihm ein, daß er heute „Franzens-Ruh“ noch nicht beſtiegen habe. Das mußte nachgeholt werden. Nach fünf Minuten ſaß er oben in den Zweigen und ſtarrte in den hellen Abend. Es war Mitte Auguſt, der Tag heiß geweſen. Und nun hatte ſich ein leiſer, wohlthuender Wind erhoben und trieb ſeinen Luftzug Johannes Timpe kühlend ins Geſicht. Der Vollmond ſchwamm wie eine ſilberne Rieſenmotte am Himmel, überzog die Dächer der Häuſer mit ſeinem weißen Lichte und färbte die leiſe liſpelnden Blätter der Bäume und Sträucher mit einem ſmaragdfarbenen Schimmer, der ſie wie durch¬ leuchtet erſcheinen ließ. Selbſt die überall gähnenden Schatten der Häuſer nahmen ſich wie ein durchſichtiger, blauſchwarzer Schleier aus, der jeden Gegenſtand am Erdboden deutlich erkennen ließ. Die Roſen durch¬ würzten mit ihrem letzten Duft die Luft, und auf dem einzigen, jenſeits der Mauer ſtehengebliebenen Baum ſaß eine Nachtigall und ſchlug ſchmelzend ihre herzbewegenden Triller. Es war, als klage ſie über den Verluſt des herrlichen Natur¬ ſchmuckes, der ehemals hier ihr Reich gebildet hatte. Ein großer Nachtfalter umſchwirrte den Meiſter, ſummte ihm einige Sekunden lang die Schmetterlingsſprache vor und ent¬ wich dann mit glänzenden Flügeln. Er nippte an den gol¬ digen Blüthen eines Akazienbäumchens und verlor ſich dann im Dunkel. Dieſe märchenhafte Stille wurde nur zeitweilig von den Wellenſchlägen des Berliner Lebens unterbrochen, die wie das Murmeln eines leiſe grollenden Meeres in ſanften Rhythmen Johannes' Ohr berührten. Lange ließ der Meiſter wie traumverloren ſeinen Blick

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/104>, abgerufen am 25.11.2024.