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Kraus, Otto: Der Professorenroman. In: Zeitfragen des christlichen Volkslebens/ Band IX. Heft 4 (1884).

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ich "Jch" nenne, und in dem sich die ganze Welt im Kleinen mit
all' ihren Regungen breit macht, begleitet, auch dießmal wieder
alle Arbeit verdirbt. Wer sich selbst mitnimmt in die Wüste, ist
doch nicht allein." Vor seinem Tode hat er mit Kohle an die
Wand seiner Höhle geschrieben: "Betet für mich Armen; ich war
ein Mensch." --

Wir haben oben gesagt, daß in dem Romane Homo sum
die überwiegende Zahl der eine Rolle spielenden Personen Christen
seien. Daß die Mehrzahl dieser Christen in der Heiligung weit
zurück ist, daß namentlich die weltflüchtigen Anachoreten nicht hei-
liger sind als die in der Welt lebenden Christen, daß der Anachoret
Paulus, von dessen christlichem Leben wir erst erfahren, nachdem
mehr oder weniger wahrscheinliche Schatten in dasselbe fallen,
trotz Einsiedelei in der wahren Erkenntniß noch viel zu lernen
hat, all' das mag unangefochten bleiben, das aber können wir
nicht verstehen, daß es Ebers verschmäht hat, der falschen Heilig-
keit im einsamen Gebirg die wahre Heiligkeit mitten im Strome
der Welt gegenüberzustellen. Oder sollte er daran ebenso wenig
gedacht haben als Lessing bei seinem Nathan daran gedacht
hat, einen wahrhaft frommen Christen auftreten zu lassen? Oder
sollte Ebers, wenn er daran gedacht, sich die Fähigkeit nicht zu-
getraut haben, einen heiligmäßigen Christen zu zeichnen, dessen
Wandel auf Erden schon ein Wandel im Himmel ist? -- Der
Titel des Buches, welcher eigentlich im Sinne des Verfassers
sagen will: auch den frömmsten Asketen klebt auf Erden noch
die Sünde an, der Kampf mit der Sünde hört erst im Todes-
kampf auf, steht übrigens, um das zuletzt noch zu berühren, in
gar keinem logischen Zusammenhang mit dem "Seelengemälde",
welches der Verfasser durch Darstellung der bis "zur Vernichtung
der Empfindungen" gesteigerten "Apathie" -- in Parenthese steht
recht schulmeisterlich [fremdsprachliches Material - 1 Wort fehlt] -- jenes fälschlich sich anklagenden
Höhlenbewohners seinen Lesern vorgelegt hat. Die falsche An-
klage ist so forcirt als möglich. Wenn Paulus ohne sein Zu-
thun in den Verdacht gekommen wäre, hätte die Sache noch einen
Sinn. Da aber der eigentliche Missethäter nur ihm und der
Sirona bekannt und da beide geflohen waren, Hermas sogar nach

ich „Jch‟ nenne, und in dem ſich die ganze Welt im Kleinen mit
all’ ihren Regungen breit macht, begleitet, auch dießmal wieder
alle Arbeit verdirbt. Wer ſich ſelbſt mitnimmt in die Wüſte, iſt
doch nicht allein.‟ Vor ſeinem Tode hat er mit Kohle an die
Wand ſeiner Höhle geſchrieben: „Betet für mich Armen; ich war
ein Menſch.‟ —

Wir haben oben geſagt, daß in dem Romane Homo sum
die überwiegende Zahl der eine Rolle ſpielenden Perſonen Chriſten
ſeien. Daß die Mehrzahl dieſer Chriſten in der Heiligung weit
zurück iſt, daß namentlich die weltflüchtigen Anachoreten nicht hei-
liger ſind als die in der Welt lebenden Chriſten, daß der Anachoret
Paulus, von deſſen chriſtlichem Leben wir erſt erfahren, nachdem
mehr oder weniger wahrſcheinliche Schatten in daſſelbe fallen,
trotz Einſiedelei in der wahren Erkenntniß noch viel zu lernen
hat, all’ das mag unangefochten bleiben, das aber können wir
nicht verſtehen, daß es Ebers verſchmäht hat, der falſchen Heilig-
keit im einſamen Gebirg die wahre Heiligkeit mitten im Strome
der Welt gegenüberzuſtellen. Oder ſollte er daran ebenſo wenig
gedacht haben als Leſſing bei ſeinem Nathan daran gedacht
hat, einen wahrhaft frommen Chriſten auftreten zu laſſen? Oder
ſollte Ebers, wenn er daran gedacht, ſich die Fähigkeit nicht zu-
getraut haben, einen heiligmäßigen Chriſten zu zeichnen, deſſen
Wandel auf Erden ſchon ein Wandel im Himmel iſt? — Der
Titel des Buches, welcher eigentlich im Sinne des Verfaſſers
ſagen will: auch den frömmſten Asketen klebt auf Erden noch
die Sünde an, der Kampf mit der Sünde hört erſt im Todes-
kampf auf, ſteht übrigens, um das zuletzt noch zu berühren, in
gar keinem logiſchen Zuſammenhang mit dem „Seelengemälde‟,
welches der Verfaſſer durch Darſtellung der bis „zur Vernichtung
der Empfindungen‟ geſteigerten „Apathie‟ — in Parentheſe ſteht
recht ſchulmeiſterlich [fremdsprachliches Material – 1 Wort fehlt] — jenes fälſchlich ſich anklagenden
Höhlenbewohners ſeinen Leſern vorgelegt hat. Die falſche An-
klage iſt ſo forcirt als möglich. Wenn Paulus ohne ſein Zu-
thun in den Verdacht gekommen wäre, hätte die Sache noch einen
Sinn. Da aber der eigentliche Miſſethäter nur ihm und der
Sirona bekannt und da beide geflohen waren, Hermas ſogar nach

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[25 217/0025] ich „Jch‟ nenne, und in dem ſich die ganze Welt im Kleinen mit all’ ihren Regungen breit macht, begleitet, auch dießmal wieder alle Arbeit verdirbt. Wer ſich ſelbſt mitnimmt in die Wüſte, iſt doch nicht allein.‟ Vor ſeinem Tode hat er mit Kohle an die Wand ſeiner Höhle geſchrieben: „Betet für mich Armen; ich war ein Menſch.‟ — Wir haben oben geſagt, daß in dem Romane Homo sum die überwiegende Zahl der eine Rolle ſpielenden Perſonen Chriſten ſeien. Daß die Mehrzahl dieſer Chriſten in der Heiligung weit zurück iſt, daß namentlich die weltflüchtigen Anachoreten nicht hei- liger ſind als die in der Welt lebenden Chriſten, daß der Anachoret Paulus, von deſſen chriſtlichem Leben wir erſt erfahren, nachdem mehr oder weniger wahrſcheinliche Schatten in daſſelbe fallen, trotz Einſiedelei in der wahren Erkenntniß noch viel zu lernen hat, all’ das mag unangefochten bleiben, das aber können wir nicht verſtehen, daß es Ebers verſchmäht hat, der falſchen Heilig- keit im einſamen Gebirg die wahre Heiligkeit mitten im Strome der Welt gegenüberzuſtellen. Oder ſollte er daran ebenſo wenig gedacht haben als Leſſing bei ſeinem Nathan daran gedacht hat, einen wahrhaft frommen Chriſten auftreten zu laſſen? Oder ſollte Ebers, wenn er daran gedacht, ſich die Fähigkeit nicht zu- getraut haben, einen heiligmäßigen Chriſten zu zeichnen, deſſen Wandel auf Erden ſchon ein Wandel im Himmel iſt? — Der Titel des Buches, welcher eigentlich im Sinne des Verfaſſers ſagen will: auch den frömmſten Asketen klebt auf Erden noch die Sünde an, der Kampf mit der Sünde hört erſt im Todes- kampf auf, ſteht übrigens, um das zuletzt noch zu berühren, in gar keinem logiſchen Zuſammenhang mit dem „Seelengemälde‟, welches der Verfaſſer durch Darſtellung der bis „zur Vernichtung der Empfindungen‟ geſteigerten „Apathie‟ — in Parentheſe ſteht recht ſchulmeiſterlich _ — jenes fälſchlich ſich anklagenden Höhlenbewohners ſeinen Leſern vorgelegt hat. Die falſche An- klage iſt ſo forcirt als möglich. Wenn Paulus ohne ſein Zu- thun in den Verdacht gekommen wäre, hätte die Sache noch einen Sinn. Da aber der eigentliche Miſſethäter nur ihm und der Sirona bekannt und da beide geflohen waren, Hermas ſogar nach

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Zitationshilfe: Kraus, Otto: Der Professorenroman. In: Zeitfragen des christlichen Volkslebens/ Band IX. Heft 4 (1884), S. 25 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraus_professorenroman_1884/25>, abgerufen am 23.11.2024.