Man hat das Leben so oft mit einer Reise verglichen; alle Gleichnisse hinken, auch dieses. Welch ein Un- terschied zwischen Leben und Reisen! -- Welche Vor- züge sind dem letztern eigen! -- Der Reisende weiß doch gewöhnlich, daß und wohin er reisen will; der arme Lebende aber wird nicht gefragt, ob und war- um er leben will. Könnten diese Fragen, vor seinem Eintritt in die Welt, ihm vorgelegt werden, wahrlich er würde die erste oft verneinend beantworten; denn wer giebt ihm genügende Auskunft über die letztere?
Ach! und welch einen Alles überwiegenden Vorzug ge- nießt der Reisende schon dadurch, daß er das Bittere der Reise, den Abschied von seinen Lieben, im An- fang übersteht, und das Wiedersehen am Ende ihn be- lohnt, indessen der Mensch umgekehrt mit jedem Schritt zum Ende, dem Abschied von seinen Lieben ent- gegen geht, und das Wiedersehn ihn nur im Traum- gewande der Hoffnung beglückt. Also wiederfinden am Ziel der Reise; verlassen am Ziel des Lebens! --
So stößt man überall, im Kleinen wie im Großen, auf mächtige Unterschiede zwischen Leben und Reisen. Die wirthlichste Herberge, den dickbelaubtesten Baum darf der Reisende suchen, wenn böses Wetter ihn überfällt; nicht so der Pilger auf der Wallfahrt des Lebens. Er muß sich
Fluͤchtige Reisebemerkungen als Einleitung.
Man hat das Leben so oft mit einer Reise verglichen; alle Gleichnisse hinken, auch dieses. Welch ein Un- terschied zwischen Leben und Reisen! — Welche Vor- zuͤge sind dem letztern eigen! — Der Reisende weiß doch gewoͤhnlich, daß und wohin er reisen will; der arme Lebende aber wird nicht gefragt, ob und war- um er leben will. Koͤnnten diese Fragen, vor seinem Eintritt in die Welt, ihm vorgelegt werden, wahrlich er wuͤrde die erste oft verneinend beantworten; denn wer giebt ihm genuͤgende Auskunft uͤber die letztere?
Ach! und welch einen Alles uͤberwiegenden Vorzug ge- nießt der Reisende schon dadurch, daß er das Bittere der Reise, den Abschied von seinen Lieben, im An- fang uͤbersteht, und das Wiedersehen am Ende ihn be- lohnt, indessen der Mensch umgekehrt mit jedem Schritt zum Ende, dem Abschied von seinen Lieben ent- gegen geht, und das Wiedersehn ihn nur im Traum- gewande der Hoffnung begluͤckt. Also wiederfinden am Ziel der Reise; verlassen am Ziel des Lebens! —
So stoͤßt man uͤberall, im Kleinen wie im Großen, auf maͤchtige Unterschiede zwischen Leben und Reisen. Die wirthlichste Herberge, den dickbelaubtesten Baum darf der Reisende suchen, wenn boͤses Wetter ihn uͤberfaͤllt; nicht so der Pilger auf der Wallfahrt des Lebens. Er muß sich
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[[3]/0007]
Fluͤchtige Reisebemerkungen
als Einleitung.
Man hat das Leben so oft mit einer Reise verglichen;
alle Gleichnisse hinken, auch dieses. Welch ein Un-
terschied zwischen Leben und Reisen! — Welche Vor-
zuͤge sind dem letztern eigen! — Der Reisende weiß
doch gewoͤhnlich, daß und wohin er reisen will; der
arme Lebende aber wird nicht gefragt, ob und war-
um er leben will. Koͤnnten diese Fragen, vor seinem
Eintritt in die Welt, ihm vorgelegt werden, wahrlich er
wuͤrde die erste oft verneinend beantworten; denn wer giebt
ihm genuͤgende Auskunft uͤber die letztere?
Ach! und welch einen Alles uͤberwiegenden Vorzug ge-
nießt der Reisende schon dadurch, daß er das Bittere
der Reise, den Abschied von seinen Lieben, im An-
fang uͤbersteht, und das Wiedersehen am Ende ihn be-
lohnt, indessen der Mensch umgekehrt mit jedem Schritt
zum Ende, dem Abschied von seinen Lieben ent-
gegen geht, und das Wiedersehn ihn nur im Traum-
gewande der Hoffnung begluͤckt. Also wiederfinden
am Ziel der Reise; verlassen am Ziel des Lebens! —
So stoͤßt man uͤberall, im Kleinen wie im Großen,
auf maͤchtige Unterschiede zwischen Leben und Reisen. Die
wirthlichste Herberge, den dickbelaubtesten Baum darf der
Reisende suchen, wenn boͤses Wetter ihn uͤberfaͤllt; nicht
so der Pilger auf der Wallfahrt des Lebens. Er muß sich
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/7>, abgerufen am 01.08.2024.
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