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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.

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unterstützt; aber seit anderthalb Jahren erhält sie auch
von dort nichts mehr. Da sie nun nicht bettelt, son-
dern nur so still da sitzt, so wird ihre Jammergestalt oft
übersehen, und sie erhält wenig. Jm Gespräche ist sie
etwas weitläuftig; aber sie erzählt gut und zusammenhän-
gend, und die Frau von Erziehung ist ihr sogleich anzu-
merken. Was man ihr giebt, nimmt sie mit verschäm-
tem Anstand, und dankt herzlich ohne Kriecherei. Jhr
Wunsch zu sterben, ihr Gebet um den Tod sind äußerst
rührend. -- O, wie gern will ich dem Posthalter verzei-
hen, daß seine Pferde auf dem Acker waren, und ich über
die Gebühr bei ihm aushalten mußte, wenn diese kurze
und schmucklose Erzählung die Veranlassung wird, daß
gefühlvolle Menschen, die des Weges reisen oder nicht rei-
sen, die arme blinde Frau unterstützen! Lange wird sie
ihren Wohlthätern ja ohnehin nicht zur Last fallen; bald
wird Freund Hayn ihren sehnlichen Wunsch erfüllen, und
sie sanft zu ihrem Gatten, zu ihren Kindern geleiten. --

Große Armuth und mehr Aufklärung unter dem
Landvolke, als nöthig ist, hat der Krieg in dieser Gegend
hinterlassen. Häufige Bettelei zeigt von jener; ein Ge-
spräch zwischen zwei Bauern, die bei Wein und Käse sa-
ßen, mag von dieser zeigen. Seit dem unseligen Kriege,
sagte der eine, sey es viermal schlechter zu leben, als vor-
her; die Menschen wären gar nicht mehr dieselben, kei-
ner helfe dem andern, jeder denke nur an sich. (Ja wohl
ist der krasseste Egoismus ein Zeichen unserer Zeit!)

Neckargmünd.

Als ich durch das Thor dieses Städtchens fuhr; hat-
te ich von neuem Gelegenheit, einen alten Wunsch zu wie-
derholen, daß nehmlich doch alle diejenigen, welche öffent-

unterstuͤtzt; aber seit anderthalb Jahren erhaͤlt sie auch
von dort nichts mehr. Da sie nun nicht bettelt, son-
dern nur so still da sitzt, so wird ihre Jammergestalt oft
uͤbersehen, und sie erhaͤlt wenig. Jm Gespraͤche ist sie
etwas weitlaͤuftig; aber sie erzaͤhlt gut und zusammenhaͤn-
gend, und die Frau von Erziehung ist ihr sogleich anzu-
merken. Was man ihr giebt, nimmt sie mit verschaͤm-
tem Anstand, und dankt herzlich ohne Kriecherei. Jhr
Wunsch zu sterben, ihr Gebet um den Tod sind aͤußerst
ruͤhrend. — O, wie gern will ich dem Posthalter verzei-
hen, daß seine Pferde auf dem Acker waren, und ich uͤber
die Gebuͤhr bei ihm aushalten mußte, wenn diese kurze
und schmucklose Erzaͤhlung die Veranlassung wird, daß
gefuͤhlvolle Menschen, die des Weges reisen oder nicht rei-
sen, die arme blinde Frau unterstuͤtzen! Lange wird sie
ihren Wohlthaͤtern ja ohnehin nicht zur Last fallen; bald
wird Freund Hayn ihren sehnlichen Wunsch erfuͤllen, und
sie sanft zu ihrem Gatten, zu ihren Kindern geleiten. —

Große Armuth und mehr Aufklaͤrung unter dem
Landvolke, als noͤthig ist, hat der Krieg in dieser Gegend
hinterlassen. Haͤufige Bettelei zeigt von jener; ein Ge-
spraͤch zwischen zwei Bauern, die bei Wein und Kaͤse sa-
ßen, mag von dieser zeigen. Seit dem unseligen Kriege,
sagte der eine, sey es viermal schlechter zu leben, als vor-
her; die Menschen waͤren gar nicht mehr dieselben, kei-
ner helfe dem andern, jeder denke nur an sich. (Ja wohl
ist der krasseste Egoismus ein Zeichen unserer Zeit!)

Neckargmuͤnd.

Als ich durch das Thor dieses Staͤdtchens fuhr; hat-
te ich von neuem Gelegenheit, einen alten Wunsch zu wie-
derholen, daß nehmlich doch alle diejenigen, welche oͤffent-

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[19/0023] unterstuͤtzt; aber seit anderthalb Jahren erhaͤlt sie auch von dort nichts mehr. Da sie nun nicht bettelt, son- dern nur so still da sitzt, so wird ihre Jammergestalt oft uͤbersehen, und sie erhaͤlt wenig. Jm Gespraͤche ist sie etwas weitlaͤuftig; aber sie erzaͤhlt gut und zusammenhaͤn- gend, und die Frau von Erziehung ist ihr sogleich anzu- merken. Was man ihr giebt, nimmt sie mit verschaͤm- tem Anstand, und dankt herzlich ohne Kriecherei. Jhr Wunsch zu sterben, ihr Gebet um den Tod sind aͤußerst ruͤhrend. — O, wie gern will ich dem Posthalter verzei- hen, daß seine Pferde auf dem Acker waren, und ich uͤber die Gebuͤhr bei ihm aushalten mußte, wenn diese kurze und schmucklose Erzaͤhlung die Veranlassung wird, daß gefuͤhlvolle Menschen, die des Weges reisen oder nicht rei- sen, die arme blinde Frau unterstuͤtzen! Lange wird sie ihren Wohlthaͤtern ja ohnehin nicht zur Last fallen; bald wird Freund Hayn ihren sehnlichen Wunsch erfuͤllen, und sie sanft zu ihrem Gatten, zu ihren Kindern geleiten. — Große Armuth und mehr Aufklaͤrung unter dem Landvolke, als noͤthig ist, hat der Krieg in dieser Gegend hinterlassen. Haͤufige Bettelei zeigt von jener; ein Ge- spraͤch zwischen zwei Bauern, die bei Wein und Kaͤse sa- ßen, mag von dieser zeigen. Seit dem unseligen Kriege, sagte der eine, sey es viermal schlechter zu leben, als vor- her; die Menschen waͤren gar nicht mehr dieselben, kei- ner helfe dem andern, jeder denke nur an sich. (Ja wohl ist der krasseste Egoismus ein Zeichen unserer Zeit!) Neckargmuͤnd. Als ich durch das Thor dieses Staͤdtchens fuhr; hat- te ich von neuem Gelegenheit, einen alten Wunsch zu wie- derholen, daß nehmlich doch alle diejenigen, welche oͤffent-

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/23>, abgerufen am 21.11.2024.