Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.antlitzes liegen! Wir haben gegen einen Abwesenden uns erzürnt, wir haben Fäuste gegen ihn geballt -- und ein traumhaftes Ausleuchten seiner Züge, ein flüchtiges Erfassen seiner Erscheinung hat schon das Gute, daß wir milder werden und der Strom des Zornes seinen ersten und sichern Damm findet. Bei Anezka's Eintritt rief die alte Marjim in einem Tone, der wie ein liebevoller Vorwurf klang: Anezka Leben, was ist denn mit dir geschehen? Du bist ja heut so verändert, daß ich dich gar nicht wieder erkenn'? Warst ja sonst so gut und treu und bist mit einem Male so ganz anders geworden? Hast du ein beschwertes Herz, drückt dir etwas deine Seele ab, warum sagst du mir's nicht, warum läßt du es an mir aus? Der zitternde Klang dieser Stimme schien auf die Magd erschütternd zu wirken; ein krampfhaftes Zucken ihres Körpers verrieth die innere Bewegung, die sie nur mühsam beherrschen konnte. Sie that niedergeschlagenen Blickes einen Schritt vorwärts gegen das Bett der Großmutter, fast, als wollte sie reuig um Verzeihung bitten. Dann sagte sie leise, doch daß sie es alle in der Stube vernahmen: Ich bin nicht länger eure Magd . . . und morgen früh werde ich aus dem Hause gehen. Anezka, rief Marjim erschrocken, die zitternde Hand gegen die Magd ausstreckend, du willst nicht länger bei uns dienen? Findest du auf der ganzen Welt einen antlitzes liegen! Wir haben gegen einen Abwesenden uns erzürnt, wir haben Fäuste gegen ihn geballt — und ein traumhaftes Ausleuchten seiner Züge, ein flüchtiges Erfassen seiner Erscheinung hat schon das Gute, daß wir milder werden und der Strom des Zornes seinen ersten und sichern Damm findet. Bei Anezka's Eintritt rief die alte Marjim in einem Tone, der wie ein liebevoller Vorwurf klang: Anezka Leben, was ist denn mit dir geschehen? Du bist ja heut so verändert, daß ich dich gar nicht wieder erkenn'? Warst ja sonst so gut und treu und bist mit einem Male so ganz anders geworden? Hast du ein beschwertes Herz, drückt dir etwas deine Seele ab, warum sagst du mir's nicht, warum läßt du es an mir aus? Der zitternde Klang dieser Stimme schien auf die Magd erschütternd zu wirken; ein krampfhaftes Zucken ihres Körpers verrieth die innere Bewegung, die sie nur mühsam beherrschen konnte. Sie that niedergeschlagenen Blickes einen Schritt vorwärts gegen das Bett der Großmutter, fast, als wollte sie reuig um Verzeihung bitten. Dann sagte sie leise, doch daß sie es alle in der Stube vernahmen: Ich bin nicht länger eure Magd . . . und morgen früh werde ich aus dem Hause gehen. Anezka, rief Marjim erschrocken, die zitternde Hand gegen die Magd ausstreckend, du willst nicht länger bei uns dienen? Findest du auf der ganzen Welt einen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0090"/> antlitzes liegen! Wir haben gegen einen Abwesenden uns erzürnt, wir haben Fäuste gegen ihn geballt — und ein traumhaftes Ausleuchten seiner Züge, ein flüchtiges Erfassen seiner Erscheinung hat schon das Gute, daß wir milder werden und der Strom des Zornes seinen ersten und sichern Damm findet.</p><lb/> <p>Bei Anezka's Eintritt rief die alte Marjim in einem Tone, der wie ein liebevoller Vorwurf klang:</p><lb/> <p>Anezka Leben, was ist denn mit dir geschehen? Du bist ja heut so verändert, daß ich dich gar nicht wieder erkenn'? Warst ja sonst so gut und treu und bist mit einem Male so ganz anders geworden? Hast du ein beschwertes Herz, drückt dir etwas deine Seele ab, warum sagst du mir's nicht, warum läßt du es an mir aus?</p><lb/> <p>Der zitternde Klang dieser Stimme schien auf die Magd erschütternd zu wirken; ein krampfhaftes Zucken ihres Körpers verrieth die innere Bewegung, die sie nur mühsam beherrschen konnte. Sie that niedergeschlagenen Blickes einen Schritt vorwärts gegen das Bett der Großmutter, fast, als wollte sie reuig um Verzeihung bitten. Dann sagte sie leise, doch daß sie es alle in der Stube vernahmen:</p><lb/> <p>Ich bin nicht länger eure Magd . . . und morgen früh werde ich aus dem Hause gehen.</p><lb/> <p>Anezka, rief Marjim erschrocken, die zitternde Hand gegen die Magd ausstreckend, du willst nicht länger bei uns dienen? Findest du auf der ganzen Welt einen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0090]
antlitzes liegen! Wir haben gegen einen Abwesenden uns erzürnt, wir haben Fäuste gegen ihn geballt — und ein traumhaftes Ausleuchten seiner Züge, ein flüchtiges Erfassen seiner Erscheinung hat schon das Gute, daß wir milder werden und der Strom des Zornes seinen ersten und sichern Damm findet.
Bei Anezka's Eintritt rief die alte Marjim in einem Tone, der wie ein liebevoller Vorwurf klang:
Anezka Leben, was ist denn mit dir geschehen? Du bist ja heut so verändert, daß ich dich gar nicht wieder erkenn'? Warst ja sonst so gut und treu und bist mit einem Male so ganz anders geworden? Hast du ein beschwertes Herz, drückt dir etwas deine Seele ab, warum sagst du mir's nicht, warum läßt du es an mir aus?
Der zitternde Klang dieser Stimme schien auf die Magd erschütternd zu wirken; ein krampfhaftes Zucken ihres Körpers verrieth die innere Bewegung, die sie nur mühsam beherrschen konnte. Sie that niedergeschlagenen Blickes einen Schritt vorwärts gegen das Bett der Großmutter, fast, als wollte sie reuig um Verzeihung bitten. Dann sagte sie leise, doch daß sie es alle in der Stube vernahmen:
Ich bin nicht länger eure Magd . . . und morgen früh werde ich aus dem Hause gehen.
Anezka, rief Marjim erschrocken, die zitternde Hand gegen die Magd ausstreckend, du willst nicht länger bei uns dienen? Findest du auf der ganzen Welt einen
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